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    Artikel des Monats
April 06 Teil II

     

    Hier finden Sie die deutsche Übersetzung der Einleitung aus: 

    Encounters with the Invisible: 

    Unseen Illness, Controversy, 

    and Chronic Fatigue Syndrome

    Dorothy Wall

    Afterword by Nancy Klimas,

    Southern Methodist University Press, 2005,

    ISBN 0-87074-504-2

    www.DorothyWall.com

    Begegnungen mit dem Unsichtbaren

    von Dorothy Wall

    Einleitung

    Aus dem Englischen von Regina Clos [1]

    Als sich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren im Schatten der Bedrohung durch AIDS eine merkwürdige, grippeähnliche Erkrankung heimtückisch über die Vereinigten Staaten auszubreiten begann, nahmen dies nur wenige zur Kenntnis. In Charlotte, North Carolina; Key West, Florida; San Francisco, Kalifornien; Lyndonville, New York; Boston, Massachusetts und überall im ganzen Land tauchten in Arztpraxen vormals gesunde Menschen auf und klagten über schwere Erschöpfung, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme, Halsschmerzen, geschwollene Lymphknoten, Muskelschmerzen und Muskelschwäche, Kopfschmerzen und leichtes Fieber. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Sie veranlassten Laboruntersuchungen, die jedoch kaum etwas ergaben. Sie schickten ihre Patienten wieder nachhause und beruhigten sie, in ein oder zwei Wochen würde es ihnen wieder besser gehen.

    Aber es ging den Patienten nicht besser. Anthony Komaroff, Arzt und Forscher von der Harvard Medical School, der 1977 am Brigham and Women's Hospital als erster Patienten mit dieser Erkrankung sah, wunderte sich. „Dass man ein ganz normales Virus einfängt und nach einem Jahr immer noch krank ist, das war wirklich auffällig.“1 Diese mysteriöse Epidemie brachte ihre Opfer nicht um. Es gab weder schlechte Blutwerte noch eine offensichtliche Schädigung. Die Erkrankung weckte auch kein großes Interesse bei Ärzten oder Epidemiologen. Viele Ärzte schüttelten den Kopf über die „emotionalen” Probleme ihrer Patienten. Als die Internisten Paul Cheney und Daniel Peterson in Incline Village, Nevada, im Juni 1985 die staatlichen Gesundheitsbehörden baten, diesen lokalen Ausbruch von etwa neunzig Patienten zu untersuchen, dauerte es drei Monate, bis die Beamten der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta endlich auftauchten.2 Noch immer waren die Opfer dieser Erkrankung schwer behindert und oft nicht in der Lage, zu arbeiten oder auch nur ein paar hundert Meter zu gehen.

    Es sollte bis 1988 dauern, bevor die Gesundheitsbehörden der verwirrenden Erkrankung einen Namen gaben: „Chronic Fatigue Syndrom“ oder CFS. Selbst dann noch wurde die Krankheit von Ärzten als „rein psychisch“ erklärt, von Familienangehörigen, Freunden und Kollegen der Erkrankten angezweifelt und von den Medien als „Yuppie-Grippe“ verspottet. CFS wurde mit vorschnellen Urteilen und Mythen überzogen: Drückeberger, Blockade des vierten Chakras, ungelöste Kindheitsprobleme. Diese verheerende Krankheit war eine schleichende Epidemie, die im Verborgenen gehalten wurde, weil sie weder öffentliche Besorgnis auslöste noch offiziell zur Kenntnis genommen wurde. Die Opfer litten, ohne nennenswerte Akzeptanz oder Unterstützung zu erfahren. Und es war eine Epidemie, die bis 1999 in den USA 800.000 Erwachsene erfassen sollte, zweimal so viele Menschen, wie an Multipler Sklerose leiden.

    Susan Sontag hat in ihrer berühmten Schilderung Krankheit beschrieben als „die Schattenseite des Lebens, die eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder Mensch, der geboren wird, hat sogleich eine doppelte Staatsbürgerschaft, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken.“³ Krankheit ist in der Tat ein Land für sich, ein Land, das die meisten von uns eines Tages aufsuchen werden. Schwer krank zu sein bedeutet, in einer Welt zu leben, die sich radikal von der Welt der Gesunden unterscheidet. Das Territorium von Krankheit besteht jedoch nicht nur aus einem Land, sondern aus vielen, und jedes dieser Länder hat eine andere Gestalt. Das Land, in dem sich CFS und andere umstrittene, manchmal nicht klar voneinander abgrenzbare Krankheitsbilder wie Fibromyalgie, Golfkriegssyndrom, multiple Chemikalienunverträglichkeit, Candidamykose und chronische Lyme-Borreliose befinden, ist abseits vom Land des Krebses oder der Masern – Krankheiten, die von der etablierten Medizin anerkannt und die behandelbar sind. Die Menschen mit umstrittenen Krankheiten leben in ihrem eigenen, einsamen und verachteten Land.

    Es ist eine Ironie, dass gerade diese an den Rand gedrängten Krankheiten vielleicht die weitreichendsten Konsequenzen für die heutige medizinische Praxis haben, denn sie offenbaren die Unzulänglichkeiten des reduktionistischen, an der Pathologie orientierten biomedizinischen Modells. Arthur Kleinuran, Psychiater und Anthropologe in Harvard, der sehr viel über chronische Krankheiten geschrieben hat, bemerkt mit sarkastischer Untertreibung: „Es ist nicht gerade eine der großen Erfolgsgeschichten der modernen Medizin, wie sie mit chronischen Krankheiten umgeht.“4 Obwohl die wissenschaftlich orientierte Medizin eine beeindruckende Liste von Infektionskrankheiten wie Diphterie, rheumatisches Fieber, Kinderlähmung, Tuberkulose und Masern besiegt hat, zumindest in den westlichen Industrieländern, sind wir doch weiterhin einer Reihe chronischer Krankheiten ausgesetzt, die die Biomedizin weit weniger großartig aussehen lassen. Auch wenn die Medien begeistert über den Erfolg von Molekularwissenschaften, Genkartierung und Hightech-Behandlung von Krankheiten berichten, gibt es in der heutigen Medizinlandschaft noch eine andere Geschichte, über die niemand spricht. Es ist die Geschichte der wachsenden Anzahl chronischer, umstrittener Krankheiten, bei denen der moderne mechanistische Ansatz der Biomedizin nur wenig hilfreich ist.

    In dem Maße, wie Patienten mit diesen komplexen Erkrankungen in die Arztpraxen strömen, wird die moderne Medizin Zeuge eines unheilvollen Zusammenpralls: Auf der einen Seite stehen die Bedürfnisse und Erfahrungen der Patienten, auf der anderen Seite die Methoden und Denkweisen der Ärzte. CFS zu haben bedeutet, in diesem Zusammenprall gefangen zu sein.

    Der Tag, an dem ich in dieses soziale und medizinische Drama hineingezogen wurde, sah so harmlos aus, wie Momente, die das Leben völlig verändern, oft aussehen. Erst im Rückblick offenbaren sie ihre brisante Bedeutung. Für mich kam der entscheidende Moment inmitten eines Strudels grüner Farbe an einem Junitag im Jahr 1980. Als ich am Morgen dieses Tages erwachte, fühlte ich mich träge, als ob eine Grippe im Anzug sei. Es war ein wunderschöner Frühsommertag und ich war voller Ehrgeiz, hatte ich doch gerade erst meine Ausbildung mit einem Master of Arts in kreativem Schreiben abgeschlossen und meinen Job in einem Buchladen gekündigt. Trotz meiner Kraftlosigkeit schleppte ich eine Dose grüner Farbe und einen Behälter mit Verdünner aus meiner Wohnung in der Claremont Avenue in Oakland in die Auffahrt und machte mich daran, für meine Tochter ein kleines Bücherregal abzuschleifen und einen 50er-Jahre Tisch mit spitz zulaufenden Beinen, den ein Freund ausrangiert hatte, anzustreichen. Mit ihren acht Jahren hatte meine Tochter mich unmissverständlich darauf hingewiesen, dass es wirklich an der Zeit sei, die Babyeinrichtung ihres Zimmers etwas aufzumöbeln. 

    Wachsweiße Kletterrosen blühten am Zaun. Autos rauschten vorbei. Ich genoss den Tag. Es war einer jener Tage, an denen ich gemütlich die Hausarbeit und sonstiges erledigte, voller Erwartungen auf eine glänzende Zukunft. Ich musste nur noch die mündlichen Prüfungen für den Master of Arts hinter mich bringen und wartete darauf, mich im Herbst in die Arbeit als Lehrer an diversen Colleges zu stürzen. Ich blickte optimistisch auf mein Ziel, in der gesamten Bay Area zu pendeln, um eine bunte Palette verschiedener Teilzeitarbeiten zu einem Vollzeitjob zusammenzufügen – ein Job, bei dem ich weniger verdiente als ein Zimmermädchen in einem Motel. Trotzdem, die Visionen von meinen zukünftigen Schülern, aus denen die Gedichte nur so heraussprudeln würden, überstrahlten jene skeptischen Blicke meiner Dichter-Kollegen, die schon lange abtrünnig geworden waren und nun technische Handbücher schrieben. Ich war so sicher, dass ich die Sache zum Erfolg bringen würde, wie ich sicher war, dass ich diesen Tisch anstreichen konnte.

    In Erschöpfung versinkend strich ich ein zu helles Grün quer über den Tisch – was hatte ich mir dabei bloß gedacht? Mit jedem glänzenden Pinselstrich versank ich tiefer in der Erschöpfung. Mein Kopf fühlte sich merkwürdig zerfasert an, mein Körper war nurmehr eine hölzerne Masse, die ich mit Mühe mit Leben füllte. Das Sonnenlicht, das sich in der Farbe spiegelte, blendete mich, und der Geruch der Farbe war merkwürdig aufgesplittert, so als ob ich jedes einzelne Molekül riechen könnte. Ich arbeitete weiter, bis der letzte grüne Farbstrich in einem aufgeweichten Glanz verschmolz und ging dann in meine Wohnung, um mich hinzulegen.

    In meinem Kopf und meinen Gliedern machte sich eine überwältigende Erschöpfung breit, die mich vollkommen lahmlegte. Ende 1978 hatte ich das Pfeiffer’sche Drüsenfieber gehabt – eine schwierige Zeit als alleinerziehende Mutter mit Scheidung, Hochschule, Job – und ich hatte mich nie wieder richtig davon erholt. Meine Kurse für den Master of Arts zu schaffen war eine ständige Übung gewesen, meine schwindenden Kräfte zusammenzuhalten. Aber diese Mattigkeit jetzt hatte eine neue Qualität: losgelöst, unverankert und doch unendlich schwer, mit einem Gefühl von Benebelung und Verwirrung, das ich nie zuvor erlebt hatte.

    Als ich mich dann ein paar Tage später zum Arzt schleppte, hatte ich zusätzlich eine Bronchitis und eine Nebenhöhleninfektion. Selbst als Antibiotika durch mein Blut jagten, widersetzte sich diese Krankheit. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Ich erinnere mich an einen Morgen ein paar Wochen später, an dem ich aufwachte und mich ein wenig besser fühlte. Die Sonne blitzte durch die Bambusjalousien. Ich machte mir Haferflocken zum Frühstück, zog mich an und machte es mir auf einem sonnenbeschienenen Fleckchen auf meinem Bett bequem, um mich zur Vorbereitung meiner mündlichen Prüfungen in Christina Rossettis Gedichte zu vertiefen. Das kann ich schaffen, dachte ich. Ich begann, mich in Rossettis düsteren viktorianischen Phantasien und entsagungsvollen Wehklagen zu verlieren: „Ich bin allein – ich bin allein, allein.“

    Eine Stunde später legte ich das Buch weg. In meinem Kopf drehte sich alles. Die Worte nahmen keine Gestalt mehr an, meine Sicht war durch weiße Schwaden der Verwirrung abgeschnitten. Ich fühlte mich wie in einer Nebelbank, in der Klarheit und scharfe Konturen irgendwo außerhalb und jenseits meiner Reichweite waren. Ich konnte keinen einzigen Satz mehr aufnehmen. Rossetti landete neben dem Bett und mein Kopf landete auf dem Kissen. Ich hatte es gerade eine Stunde geschafft, und für den Rest des Tages lag ich flach.

    Ich weiß nicht mehr, wie ich durch diesen Sommer gekommen bin, wie ich meine Tochter versorgt und sie zur Schule gebracht habe und wie ich das einfallslose Übungsbuch zum kreativen Schreiben beenden konnte, das mich in diesem Sommer ernährte. Haben meine Freunde für mich eingekauft? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich an den Tag im September, an dem ich aufwachte und mit einer Erleichterung, wie sie ein laues Frühlingslüftchen mit sich bringt, dachte, es geht mir wieder gut. Am nächsten Tag wurde mir jedoch erneut ein Schlag versetzt, wie von einer unsichtbaren, in mir wohnenden Kraft. Ich war wieder genauso krank wie zwei Monate zuvor, mit genau den gleichen Symptomen. Mein Arzt verschrieb mir die doppelte Menge Antibiotika. Aber sie halfen nichts. Ich habe immerzu dieses Bild vor mir, in dem ein Arzt nach dem anderen mich prüfend und mit undurchdringlicher Miene ansah, die bedeutete, sie versuchten verzweifelt herauszufinden, was mit mir los war: War ich ein Simulant? Offenbarte ich irgendwelche Hinweise darauf, emotional im Ungleichgewicht zu sein? Hatte ich etwa Probleme in der Familie?

    Und so ging es die nächsten sechs Jahre weiter: eine massive, wiederkehrende, virus-ähnliche Erkrankung, eine merkwürdiger, hartnäckiger Krankheitszustand, der die Ärzte ratlos machte und der meine Tage überschattete, selbst dann, wenn ich meinen Körper vorwärts schleppte, um zu unterrichten oder meine Tochter ins Bett zu bringen oder sogar mal mit meinen Freunden zu feiern. Nach einer Stunde vor meiner Klasse hatte ich einen rauen Hals und mein Brustkorb brannte. Ich war gerade einmal zweiunddreißig Jahre alt, ansonsten gesund und hatte noch einiges vor. Ich war alles andere als willens, einem Virus zu erlauben, mir den Traum von einem unabhängigen Leben zu zerstören. Mit der Zeit schwächten sich die Symptome etwas ab und die Zeiträume zwischen dem Wiederaufflammen der Infektion wurden länger, aber in all diesen Jahren haben meine viralen Begleiter ihren erbarmungslosen Kreislauf aufrechterhalten.

    Ich betrat das Land der Kranken blind, ohne zu sehen oder zu wissen, was für eine Grenze ich überschritten hatte oder was vor mir lag, so wie jeder andere, der am Anfang eines neuen Unternehmens steht – und Krankheit ist in der Tat eine Unternehmung, auch wenn sie die Vorstellung von Schwäche und Passivität heraufbeschwört. Ich wusste nicht, dass ich niemals wieder vollständig und ohne weiter darüber nachzudenken im Land der Gesunden leben würde, dass diese aufkeimende Krankheit nicht wieder verschwinden würde, dass ich den energiegeladenen Körper meiner Kindheit ausgetauscht hatte gegen einen, der ein tonnenschweres Gewicht auf seinem Rücken zu schleppen hatte. Ich musste noch lernen, dass sich mein Körper für jeden Versuch rächen würde, mich über diese quälende Krankheit hinwegzusetzen, für jeden Tag, an dem ich entschlossen versuchte, einfach weiterzumachen. Ich musste noch lernen, dass ich eine der vielen sein würde, die ähnlich krank, aber isoliert und alleingelassen sind und ebenso wie ich ein Ausmaß an körperlichem Leid kennen lernen mussten, das selbst mir noch nicht bekannt war.

    Im Jahr 1869 beschrieb der amerikanische Neurologe George Beard die Neurasthenie, eine erschöpfende Krankheit, die an das CFS erinnert, als das „Zentralafrika der Medizin – ein unerforschtes Territorium, in das nur wenige Menschen vordringen.“5 Lässt man die Überheblichkeit des amerikanischen Chauvinismus einmal beiseite, so beschwört Beards Beschreibung des dunklen, inneren Kontinents genau das Bild der unkartierten Landschaft des CFS herauf. Die Medizin hat das fruchtbare Land auf dem dunklen Kontinent ungeklärter Krankheiten zwar verkleinert, aber nicht abgeschafft. Wir, die CFS haben, leben noch immer an diesem düsteren Ort.

    Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Auftauchen des CFS kennen wir noch immer weder Ursache noch Pathophysiologie, auch wenn der Umfang der Forschung ständig wächst. Die Forschung – die wissenschaftliche Sprache des Leidens – hat Anomalien in den neurologischen, immunologischen, autonomen und endokrinen Systemen des Körpers aufgedeckt. Heute vermuten viele Forscher und Kliniker, dass CFS – auch als Chronic Fatigue and Immune Dysfunction Syndrome (CFIDS) oder Myalgische Enzephalomyelitis (ME) bezeichnet – aus einer ganzen Gruppe von Krankheiten bestehen könnte, bei denen es ein oder mehrere Pathogene gibt und möglicherweise weitere Faktoren eine Rolle spielen: Chemikalien, Umweltgifte, Stress, Verletzungen und genetische Ausstattung. So sagt der Kliniker Paul Cheney: „Ich glaube, dass CFS eine heterogene Erkrankung ist, die durch viele verschiedene Auslöser hervorgerufen werden kann. Aber in den 1970er Jahren gab es einen neuen Erreger, der das CFS auslöste.”6

    Ich war erstaunt zu erfahren, dass ich Teil einer breitgestreuten epidemiologischen Landkarte und durchaus nicht allein war, so wie ich es viele Jahre lang geglaubt hatte. Und ich war ebenso fasziniert von der Entdeckung vieler anderer Berichte über Epidemien im 19. und 20. Jahrhundert: unter anderem der Neurasthenie, der Epidemie im Los Angeles  County im Jahr 1934, der Royal Free Disease in London im Jahr 1955. Die Profile dieser Epidemien sind dem Bild des CFIDS erstaunlich ähnlich: ganze Gruppen von zuvor gesunden Menschen wurden von grippeähnlichen Symptomen getroffen, denen Jahre völliger Entkräftung folgten. Wir alle, die Teil der heutigen Epidemie sind, haben Leidensgenossen in der Gegenwart genauso wie in der Vergangenheit.

    In den Jahren 1986-87 begannen meine wiederkehrenden, grippeähnlichen Symptome – die massive geistige Erschöpfung und Benommenheit, die geschwollenen Lymphknoten, die Ohren- und Halsschmerzen – langsam zu verschwinden, so wie Feuchtigkeit irgendwann verdunstet. Es gab Tage, an denen ich hinausging und die Welt scharf und kristallklar wahrnahm, anstatt von dieser verschwommenen Kakophonie überwältigt zu sein. Mein Kopf war auf wundersame Weise klar. Ich verliebte mich, konnte manchmal eine Strecke von drei Meilen laufen und schaffte es sogar, mit meinem neuen Partner Bill an den Kanälen Venedigs entlang zu schlendern. Ich erinnere mich an den Tag im Jahr 1989, als ich das Gefühl hatte, auf die letzten neun Jahre zurückzublicken wie von einem Berggipfel, von dem aus man eine weite, erhabene Sicht über das Land hat. Ich sagte zu Bill: „Ich bin zwar immer noch die meiste Zeit erschöpft, aber ich werde nicht mehr krank." An manchen Tagen war ich einfach nur müde. Und ein paar Tage im Jahr fühlte ich mich erstaunlich und auf gesegnete Weise normal.

    Oh ja, der Trugschluss der Normalität, die falsche Hoffnung auf Geschäftigkeit. Mein fieberhaftes berufliches Leben hatte mich im Schlepptau – der Unterricht und Workshops in Kreativem Schreiben, Vorträge auf Konferenzen, das Mitverfassen eines Buches, die Beratung von Autoren. Anfang der 1990er war ich wieder den größten Teil des Jahres krank. Ich wusste, dass ich mich übernommen hatte. Ständig versprach ich mir selbst, dass ich mich ausruhen würde, wenn ich dies oder jenes beendet haben würde. Ich verstand die wachsenden Klagen meines Körpers nicht, die Katastrophe, die sich da in jedem Muskel, in jedem Knochen anbahnte, und ich wusste nicht, dass ich noch kränker werden würde, als ich es jemals zuvor gewesen war.

    Ich war direkt konfrontiert mit den beunruhigenden Charakteristika des CFIDS: Es verläuft zyklisch, aber genauso auch gradlinig. Die wechselnden Perioden von Besserung und Rückfällen sind für CFIDS typisch. Paul Cheney beschreibt CFIDS mit einem dreiphasigen Modell, das sehr hilfreich für das Verständnis des Gesamtbildes der Krankheit ist.7 Charakteristisch für die Anfangs- oder Auslösephase sind akute, grippe-ähnliche Symptome, die die Patienten aus der Bahn werfen und ins Bett zwingen, in einem Zustand, den sie als die schlimmste Grippe beschreiben, die sie jemals gehabt haben. Anstatt abzuebben, entwickelt sich die Krankheit in den folgenden Monaten oder Jahren zum klassischen CFIDS, bzw. mündet in die triadische Phase, die man so nennt aufgrund der Triade an Symptomen: Dem Patienten geht es vielleicht etwas besser, aber noch immer leidet er an überwältigender Erschöpfung, sein Gehirn funktioniert nicht und sein Körper schmerzt überall. Fünf bis zehn Jahre später kommt der Patient in die dritte Phase, die Phase der dynamischen Schädigung, in der die Gehirnfunktionen sich verbessert und die Schmerzen nachgelassen haben, aber die Schäden an den verschiedensten Körpersystemen weiterhin die geistige und körperliche Aktivität begrenzen. Obwohl sich die Patienten insgesamt weniger krank fühlen, erreichen sie nie wieder den Zustand, in dem sie vor Beginn der Erkrankung waren und in dem sie mühelos ein bestimmtes Pensum an Arbeit oder körperlicher Anstrengung aufrechterhalten konnten.

    Diese drei Phasen gehen kontinuierlich ineinander über und überlappen sich oft. Selbst in der dritten Phase können die Patienten noch über Wochen oder Monate an geschwollenen Lymphknoten oder Halsschmerzen leiden. Ihre Muskel- und Gelenkschmerzen können immer wieder aufflammen. Aber das vorherrschende Merkmal ist ihre Unfähigkeit, ein normales Maß an Aktivitäten zu verfolgen, und wenn sie ihre Grenzen überschreiten, dann bekommen sie einen Rückfall. Bei manchen Patienten ist der Beginn der Erkrankung eher schleichend als abrupt, wodurch die Phasen etwas verschwommener erscheinen, aber zumindest im Rückblick können die Betroffenen insgesamt meist ein ähnliches Muster erkennen.

    So wie der Sturz in die Krankheit, die Zerstörung des Alltäglichen, unvorhersehbar und plötzlich ist, so verläuft der Wiederaufbau des Lebens langsam und gewissenhaft. Dieses Buch konzentriert sich hauptsächlich auf meine unsanfte Konfrontation mit einer akuten Phase im Herbst 1995, während der ich kränker wurde als jemals zuvor, und auf das langsame Zusammenflicken von Körper und Seele, das dann folgte. Nach einer Geschäftsreise nach New York, die ich besser nicht angetreten hätte, wurde ich über Nacht so krank, dass ich danach für Monate ans Haus gefesselt war. Durch die katastrophalen Umbrüche, die diese Zeit schwerer Erkrankung mit sich brachte, war ich schließlich gezwungen, sowohl mein Leben als auch meine Identität völlig neu zu strukturieren und mich in der Gemeinde der CFIDS-Patienten einzuordnen inmitten des Kontinents der chronisch Kranken.

    Das war alles andere als leicht für mich. Als jemand, der sein Leben lang eine Abneigung dagegen hatte, über Schwäche überhaupt nur zu sprechen, geschweige denn, sie anzuerkennen, war es ein äußerst ambivalenter Prozess, mich als schwer kranke Person zu bekennen. Dass ich über diesen Prozess einmal schreiben würde, erschien mir anfangs sehr unwahrscheinlich. Irgendwann im Jahr 1997 hatte ich ein denkwürdiges Telefonat mit einer Kusine. Ihre Mutter, meine geliebte Tante, lag gerade im Sterben. Sie hatte schweres Parkinson und die letzten zehn Jahre am Eosonophilie-Myalgie-Syndrom gelitten, einer langwierigen, schmerzhaften Erkrankung, die dem CFIDS ähnelt und die durch eine verunreinigte Charge des Schlafmittels L-Tryptophan verursacht worden war. Wir hatten großes Mitleid mit ihr, und meine Kusine, die vielleicht um die Lust der Autoren am Schreiben wusste, fragte mich, ob ich nicht vorhätte, zu beschreiben, was ich in den letzten Jahren durchgemacht hatte.

    „Auf keinen Fall! Das soll jemand anderes machen“, antwortete ich ihr. Allein der Gedanke daran, mir all diese furchtbaren Tage wieder ins Gedächtnis zu rufen, war entsetzlich. Ich hatte den inständigen Wunsch, wieder gesund zu werden, aber nicht, meine Krankheit erneut zu durchleben.

    Aber in jenem Herbst ertappte ich mich dabei, Notizen zu machen. Ein Aufsatz nahm Gestalt an, dann ein weiterer. Allmählich, ganz allmählich, entstand ein zusammenhängendes Buch. Mein Gehirn schwamm oft in einem Nebel, der so dicht war, dass ich nur ein paar Sätze am Tag schreiben konnte. Die Kombination von Erschöpfung, geistiger Benommenheit und Problemen mit der visuellen Verarbeitung begrenzte die Zeit, die ich am Computer sitzen konnte, anfangs auf ein paar 15- bis 20-minütige Sitzungen in der Woche. Im Jahr 2004-05 schließlich, als ich das Buch beendet hatte, konnte ich jeden Tag ein oder zwei Stunden auf sein, ein enormer, unerwarteter Gewinn. Die größte Herausforderung war das Recherchieren. Ich habe Schwierigkeiten, mehr als einen Gedanken gleichzeitig festzuhalten, geschweige denn, einen ganzen Komplex an Informationen zu behalten und zu gliedern. Ich setzte meine Ideen zusammen, indem ich immer nur einen Gedanken, immer nur einen Satz auf einmal gestaltete, indem ich meinen Finger auf den Abschnitt hielt, den ich zitieren oder benutzen wollte, um ihn dann sofort in meinen Text einzubauen, bevor sich der Gedanke wieder verflüchtigt hatte. Oft fühlte ich mich von der Arbeit vollkommen überfordert. Häufig habe ich daran gedacht, aufzugeben. Aber irgendetwas in mir zwang mich dazu, aus diesen Monaten und Jahren mehr zu machen, als nur eine endlose Abfolge von düsteren Tagen.

    Oft hatte ich Ehrfurcht vor den biochemischen Schlachten und Stürmen, der aufgewühlten Atmosphäre in meinem Körper, wenn ich still dalag – Schlachtfeld und Beobachterin zugleich. Trotz des erschöpften Schweigens der Kranken, trotz des geringschätzigen Stillschweigens der Mediziner ist CFIDS kein stiller Gast. CFIDS hat Stürme entfacht – in Familien, unter den Patienten selbst, bei Regierungsbeamten, Ärzten, Forschern, Versicherungsunternehmen und in den Medien. CFIDS hat Streit und Diskussionen um die wahre Natur der Erkrankung entzündet, darum, wie Krankheiten wahrgenommen und definiert werden und wer die Macht dazu hat, dies zu tun. Diese Krankheit hat aufgezeigt, wie die Spezialisierung in der Medizin den Dialog über den Körper als Ganzes zersplittert und hat das schwache Gerüst medizinischer Wohltaten offenbart. CFIDS ist ein heftiger Schlag für das Leben einzelner Menschen und ganzer Familien, aber auch für das Konzept von Krankheit in unserer Kultur und für unseren Glauben an die Medizin und ihre Macht.

    „Krankheit scheint uns immer mehr über einen Menschen oder eine Ära zu sagen, als Gesundheit das tut, auch wenn nicht klar ist, warum das so ist“, schreibt der Literaturwissenschaftler David Morris.8 Für CFIDS gilt das ohne Zweifel. CFIDS ist nicht nur ein kleiner Leuchtfleck auf dem Radar der Mediziner, sondern ein Indiz dafür, dass wir uns ständig in Bewegung befinden: die eine Darstellung von Krankheit verschwindet und eine andere entwickelt sich. Sind wir Zeugen des Aufkommens von Krankheiten der Post-Moderne, die den Triumph der modernen Wissenschaft als äußerst brüchig offenbaren, indem plötzlich Leiden zunehmen, die nicht in das Raster der medizinischen Wissenschaft passen? David Morris und andere vermuten genau das und erklären diese rätselhaften Krankheiten als den „unverdaulichen Rest, der durch das duale Denken entsteht, das den gesamten westlichen Rationalismus durchzieht, ein Rest, der über das hinausgeht, was das biomedizinische Modell erfassen oder erklären kann."9 Krankheiten der Post-Moderne sind chaotisch, komplex und multikausal. Man wird sie nicht allein im Labor besiegen können. Sie bedürfen eines ganzheitlichen Ansatzes, in den man Umwelt- und psychosoziale Faktoren miteinbeziehen muss. Sie erfordern die Zusammenarbeit, die gemeinsame Anstrengung von Arzt und Patient. Den subjektiven Erfahrungen des Patienten muss große Aufmerksamkeit geschenkt werden, und nicht nur den Laborergebnissen.

    Ich vermute, dass man mit den Instrumentarien der Biowissenschaften eines Tages das Rätsel CFIDS lösen kann – aber nur teilweise. So stellt die neueste Mikroarray-Technologie einen diagnostischen Test für CFIDS in Aussicht. Aber das Mysterium des CFIDS und anderer umstrittener chronischer Erkrankungen kann nicht gelöst werden, ohne den Einfluss einer Umwelt auf unser Immun- und Nervensystem zu beachten, die voller Chemikalien und Giftstoffe ist, ohne zu untersuchen, wie unser Gesundheitssystem und die Politik kranke Menschen unterstützen oder im Stich lassen, oder ohne den Berichten der Kranken zuzuhören, den verwirrenden, alltäglichen Einzelheiten, die die mikroskopisch fokussierte Linse der etablierten Medizin nicht erfassen kann und die die Gesunden in ihrem abgetrennten Land nur selten erleben.

    Mit der Zunahme von alltäglichen Berichten über Schweiß, Schmerz und Benommenheit wird der kranke Körper aus dem Inneren des dunklen Kontinents zurückgeholt, den George Beard im 19. Jahrhundert beschrieb. Die wachsende Sammlung von Berichten über CFIDS mit all ihren unbehaglichen Einzelheiten ist es, die die verborgenen Körper der Betroffenen in das öffentliche Bewusstsein bringen und den Dialog über Krankheit so verändern wird, dass CFIDS in seinen Denkkategorien enthalten ist.

    Die Geschichte des CFIDS ist in vielerlei Hinsicht eine beunruhigende Aussicht auf das Erleben von Krankheit in einer Zukunft, in der die Fortschritte der Biomedizin der einen Gruppe von Patienten gute Dienste leistet, während die andere weit abgeschlagen bleibt. In dem Vakuum, das von der westlichen Medizin geschaffen wird, erblühen alternative Heilmethoden und Patientenorganisationen, die weitere Konflikte um die medizinische Autorität und das Mitspracherecht der Betroffenen entfachen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um diese vielschichtigen Kämpfe zu beleuchten und CFIDS aus dem Schatten von Verwirrung, Unverständlichkeit und Verzerrung herauszuholen und sichtbar zu machen.

     

    Anmerkungen 

    1. Hillary Johnson, Osler's Web: Inside the Labyrinth o f the Chronic Fatigue Syndrome Epidemic (New York: Crown Publishers, 1996), S.10. 

    2. Ebd., S. 31, S. 41.

    3. Susan Sontag, Illness as Metaphor and AIDS and Its Metaphors (New York: Doubleday,1989), S. 3. [Deutsche Ausgabe  unter dem Titel: Krankheit als Metapher & Aids und seine Metaphern, München, Hanser, 2003]

    4. Arthur Kleinuran, M.D., The Illness Narratives: Suffering, Healing, and the Human Condition (New York: Basic Books,1988), S. xiv.

    5. George M. Beard, A Practical Treatise an Nervous Exhaustion (Neurasthenia): Its Symptoms, Nature, Sequences, Treatment, 2nd ed. (New York: William Wood & Co., 1880), S. vi, zitiert nach Susan E. Abbey, M.D., and Paul E. Garfinkel, M.D., "Neurasthenia and Chronic Fatigue Syndrome: The Role of Culture in the Making of a Diagnosis," American Journal of Psychiatry 148, no.12 (December 1991):1639.

    6. Hillary Johnson, Osler's Web, Inside the Labyrinth o f the Chronic Fatigue Syndrome Epidemic (New York: Crown Publishers, 1996), S. 473.

    7. Siehe Dr. Cheneys Referat "New Insights into the Pathophysiology and Treatment of CFS;” gefördert von der CFS/FM Selbsthilfegruppe in Dallas-Fort Worth, Videoaufnahme in Dallas, Texas, October 2001.

    8. David Morris, Illness and Culture in the Postmodern Age (Berkeley: University of California Press, 1998), S. 52. [Titel der deutschen Ausgabe: Krankheit und Kultur, Kunstmann, München]

    9. Ebd., S. 70.


    [1] Übersetzung und Publikation mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.