Inhaltsverzeichnis
Vorspann
von Daphne
Wurzbacher
Einführung: Durch den Spiegel
gehen
Was ist
CFS/ME?
Die Mosaike
amira
Lena
Grace
Luca
Nachwort der
Herausgeberin
Was bleibt (?) - ein persönliches Nachwort von amira
Einführung: Durch den Spiegel gehen
(Auszug)
Im ersten Band „Leben mit
CFS/ME“ habe ich Sie, liebe Leser, eingeladen, durch den Spiegel zu gehen, durch
die Tür in die Welt hinter dem Einwegspiegel, der das Leben mit CFS/ME für die
gesunden Menschen unsichtbar macht, weil sie für gewöhnlich im Spiegel immer nur
sich selbst sehen, ihre eigenen Projektionen und nicht die Wirklichkeit der
Kranken, die dahinter verborgen liegt.
Auch in diesem Buch geht es
wieder um einen Durchtritt auf eine andere Seite, um eine Suche nach dem
Verborgenen. Doch diesmal machen sich die CFS/ME-Betroffenen, 4 Autorinnen, die
am Chronic Fatigue Syndrom/Myalgischer Enzephalopathie erkrankt sind, auf den
Weg, auf einen ganz besonderen Weg, einen Weg der Poesie, eine Suche nach dem
Zugang zur Welt der inneren Bilder und der eigenen Melodie, der ganz eigenen
Stimme.
( ... )
Vier CFS/ME-Patientinnen
begeben sich beherzt auf eine ungewöhnliche Reise, brechen auf in das Reich der
Poesie, in ihre Innenwelt und wieder zurück, drehen sich ein und aus und weben
mit Worten neue Energien, um zu wandeln und ihren Spielraum zu erweitern, und
auch um einfach zu benennen, was ist. Dabei entstehen mit ganz individuellem
Wortpinselstrich hingetuschte Mosaike aus Gedichten und Miniaturen von vier sehr
verschiedenen Frauen. Dass aus Patienten wieder Personen werden, die sichtbar
werden in ihrer Individualität, auch das ist ein wichtiges Anliegen dieses
zweiten Bandes „Leben mit CFS/ME“. Denn auch die Zeit der Krankheit - möge sie
bald vorüber sein! - ist Lebenszeit, die neuen Raum benötigt und neuen Raum
erschließt. Raum, in dem die Kranken nicht nur als Patienten zu Objekten fremder
Benennungen und Diagnosen werden, die die Definition über ihre Realität an sich
ziehen, sondern Raum, in dem sie selbst auch Autoritäten ihrer Wahrheit bleiben
und das letzte Wort über ihre Realität behalten.
( ...)
Zeichnung: Renate Henkel
Baba Yaga
(amira)
Dies ist ein Gedicht für
dich, Baba Yaga,
die Dunkle, Unbezähmbare,
die in der Wildnis wohnt.
Hinterrücks
hast du deine Krallen in
mein Fleisch geschlagen
und bist geblieben.
Ich habe dich verleugnet,
beiseitegeschoben,
gehasst und verflucht,
habe alles versucht, um
dich loszuwerden.
Nichts davon hat dich
beeindruckt,
keine List konnte dich
täuschen.
Wenn ich mit dir verhandeln
wollte,
hast du nur gegrinst mit
deinem zahnlosen Mund.
Du schikanierst mich
mit unlösbaren Aufgaben,
und zur Ermutigung
trittst du mir ab und zu in
den Hintern.
Du demütigst mich
gnadenlos
damit ich kapiere, wo Demut
am Platz ist –
und wo nicht.
Du zeigst mir, was wirklich
in mir steckt,
die dunkelsten Ecken
und das Feuer, das mich am
Leben hält.
Jeden Tag werde ich dir ein
bisschen ähnlicher –
unberechenbar, eigenwillig
und verrückt.
Manchmal
kann ich mich freuen an
deinen Geschenken:
Du bewahrst mich
vor den Fangstricken der
Normalität
und lehrst mich, aufrecht
zu gehen
mit dem Stolz der
Ausgestoßenen.
Dir verdanke ich den
scharfen Blick,
der alles entlarvt
was so wohlmeinend
daherkommt
auf tönernen Füßen.
Du schenkst mir deine
eigene Zeit,
nicht planbar, nicht
nutzbar,
wild und frei.
Manchmal bin ich dir sogar
dankbar –
bis du mir wieder das
Fleisch von den Knochen reißt
und mich zu Boden wirfst.
Wir sind noch nicht
miteinander fertig,
du und ich. Zwischen den
Zeilen
höre ich dein unbändiges
Kichern.
Trotz allem schreibe ich
dies für dich, Baba Yaga,
meine Gefährtin seit
zwanzig Jahren, meine Lehrmeisterin –
meine Krankheit.
Zeichnung: Renate Henkel
W
ei
l
ich
nicht
schreiben will,
sondern wandern in den Spätsommer
und weiter,
und feiern und reden mit den Menschen,
die ich so vermisse.
Weil ich auf einer wackligen Leiter balancieren möchte,
um rote Äpfel zu pflücken,
und das Kind eines Freundes in den Armen halten,
oder unseres?
Weil ich Pläne schmieden will für die Zukunft,
mit dir.
Und weil ich das alles nicht kann,
muss ich schreiben.
Lena
Foto: Lena
Foto: Lena
Foto: Grace
Mein Körper
(Grace)
Mein Körper
zerbrechliche Seifenblase
Behälter aus Glas
Nest auf Zeit
ich gebe acht auf dich
ich brauche dich
bis meine Seele einen anderen Platz braucht
um weiter zu wachsen
du erlaubst mir
mit anderen Zeit-Lebenden zu sprechen
oft fällt es schwer
manchmal geht es gut
ich mag diesen Platz
ein schönes Nest
ich pflege dich gut
hoffentlich bleibst du lange bei mir.
Sonnwendepunkt
Glänzend und hart
die goldene Kugel
zoomt mich ein
wie einen
Metallsplitter
ins Innere des
Magnetfelds
in der Kälte
der längsten
Nacht
zieht es mich
hinter den
Spiegel
des Metalls
ich kreisel mich
ein
lange Filmnacht
der
Vergangenheiten
Quecksilbrig und
weich
das frische
Wasser
sauge ich ein
wie eine
Blumenzwiebel
im trockenen
Boden
im Frost
der längsten
Nacht
ströme ich
in meine Wurzeln
es steigt in mir
auf
lange Filmnacht
der
Möglichkeiten
Samtig und warm
in die Dunkelheit
kuschle ich mich
wie ein
zitterndes Kind
in eine warme
Decke
allein in
der längsten
Nacht
sinke ich ein in
ihre nährende
Ruhe
ich schmiege mich
in ihren Schutz
lange Nacht des
Vertrauens
Luca
Foto: Daphne Wu
Was bleibt (?)- ein persönliches
Nachwort von amira (Auszug)
Wenn ich versuche, CFS zu
beschreiben und wie es mir damit geht, dann ist das vorherrschende Wort „nicht“:
ich bin/kann/ habe nicht/nicht mehr, das zieht sich wie ein Leitmotiv durch alle
Sätze.
Was bleibt? Von mir, von meinem
Leben? Wie ist es denn? Wo finde ich ein „Ja“ - ja, das bin ich, das will ich,
das kann ich tun?
Das erste „Ja“ nach
Jahren mit CFS war „Ja, ich bin krank.“ Ein bitteres „Ja“, aber ein Anfang. Dem
folgte – nach weiteren Jahren – erstmal wieder ein „Nein“ - „Nein, ich kann
nicht gegen die Krankheit kämpfen“. Das war zuerst Resignation; in einer Kultur,
in der eine solche Haltung als absolut ketzerisch gilt (auch die sogenannten
alternativen Ansätze machen da kaum eine Ausnahme), wurde es für mich immer mehr
zu einer mutigen und positiven Aussage: „Ja, ich gehe meinen eigenen Weg.“
( ... )
Euch und allen da draußen, die
vielleicht im Bett liegen und sich fragen, was sie tun können in einem Leben mit
CFS, und natürlich mir: uns allen wünsche ich noch viele Gelegenheiten, unser
Licht leuchten zu lassen!
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