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    Artikel des Monats August 2010 Teil 1

    Ein Brief an Patienten mit einer chronischen Krankheit

    Gedanken eines etwas sonderbaren (aber nicht gesundheitsschädlichen) Hausarztes*

    Liebe Patienten,

    Sie haben es sehr schwer, viel schwerer, als es sich die meisten Menschen vorstellen können. Nachdem ich jetzt 16 Jahre in meiner Praxis sitze und Ihren Berichten zuhöre, die Müdigkeit in Ihren Augen sehe und höre, wie Sie versuchen, das Unbeschreibliche zu beschreiben, habe ich schließlich begriffen, dass auch ich nicht verstehen kann, wie Ihr Leben wirklich aussieht. Was antworten Sie auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“, wenn Sie vergessen haben, wie sich „normal“ anfühlt? Wie werden Sie mit all den Leuten fertig, die denken, Sie übertreiben Ihre Schmerzen, Ihre Gefühle, Ihre Erschöpfung? Wie entscheiden Sie, wann Sie ihnen glauben können oder wann Sie Ihrem eigenen Körper trauen sollten? Wie werden Sie mit einem Leben fertig, was Sie niemals Ihre Schwäche, Ihre Begrenzungen und Ihre Sterblichkeit vergessen lässt?

    Ich kann es mir nicht vorstellen.

    Aber ich habe etwas für Sie, das Sie vielleicht noch nicht wissen. Ich habe Informationen, die Sie aufgrund Ihrer einzigartigen Perspektive, Ihrer zerstörten Welt nicht wirklich verstehen können. Es gibt etwas, das Sie verstehen müssen und das Ihnen helfen wird, auch wenn es Ihre Schmerzen nicht auflösen, Ihre Erschöpfung nicht vertreiben und Ihre Laune nicht verbessern wird. Es sind Informationen, ohne die Sie sich selbst in eine Lage bringen, in der Sie noch mehr leiden als nötig; es ist eine Wahrheit, die der Schlüssel dafür ist, dass Sie sehr viel leichter als früher die Hilfe bekommen, die Sie brauchen. Diese Information erscheint vielleicht nicht wichtig, aber glauben Sie mir, sie ist es.

    Sie machen Ärzten Angst.

    Nein, ich rede nicht von der Angst vor Krankheit, Schmerzen oder dem Tod. Ich spreche nicht über die Angst der Ärzte vor der Begrenztheit ihres Wissens. Ich rede von Ihrem Verständnis für eine Tatsache, die allen anderen zu entgehen scheint, eine Tatsache, vor der sich viele Ärzte verstecken: wir sind ganz normale, fehlbare Menschen, die zufällig den Beruf des Arztes gewählt haben. Wir sind nichts Besonderes. Tatsächlich sind viele von uns sehr unsicher und wünschen sich die Bestätigung durch Menschen, denen es besser geht, wünschen sich, das Lob derer zu hören, denen wir helfen können. Wir wollen Krankheiten heilen, Leben retten, die helfende Hand sein, die richtige Person im richtigen Moment am richtigen Platz.

    Aber chronische, nicht heilbare Krankheiten stehen uns da kräftig im Weg. Es geht Ihnen nicht besser, und das frustriert viele von uns, und manche werden wütend auf Sie. Wir wollen nicht mit Problemen konfrontiert werden, die wir nicht lösen können, denn sie zeigen uns unsere Grenzen auf. Wir wollen das Übernatürliche, eine Wunderkur, und Sie verweigern uns die Möglichkeit, das zu erreichen.

    Und da dies der Blickwinkel ist, den Sie haben, wenn Sie zum Arzt gehen, ist die Art und Weise, wie Sie die Ärzte sehen, ganz anders. Sie sehen, wie wir langsam frustriert werden. Sie sehen uns, wenn wir am liebsten aufgeben würden. Wenn wir uns um Sie kümmern, müssen wir die Illusion aufgeben, die Kontrolle zu haben, die Macht über Krankheit. Wir werden ärgerlich, wir fühlen uns unsicher und wollen uns lieber mit einem Patienten beschäftigen, dem wir helfen, den wir retten oder beeindrucken können. Sie sind der Fels, der beweist, wie leicht ein Schiff sinken kann. Deshalb ist Ihr Blickwinkel, unter dem Sie Ärzte sehen, ganz anders.

    Und dann ist da noch die Tatsache, dass Sie etwas besitzen, das üblicherweise in unseren Herrschaftsbereich fällt: Wissen. Sie wissen mehr über Ihre Krankheit als viele von uns – sogar als die meisten von uns. Ihre MS, Ihre rheumatoide Arthritis, Ihr Nierenversagen im Endstadium, Ihr Cushing Syndrom, Ihre bipolare Störung, Ihre chronischen Schmerzen, Ihr schwer einzustellender Diabetes oder Ihre lähmende psychiatrische Erkrankung – Ihr ganz spezielles Leid – das alles ist etwas, dem wir üblicherweise nicht begegnen. Es ist etwas, das die meisten von uns zu vermeiden suchen. Von daher besitzen Sie ein tiefes Verständnis, das viele Ärzte nicht haben. Selbst Ärzte, die sich auf Ihre Krankheit spezialisiert haben, teilen nicht das Wissen, das man nur bekommt, wenn man mit einer Krankheit lebt. Es ist so wie das Wissen, das Eltern von ihren Kindern haben – im Unterschied zu dem Wissen eines Kinderarztes. Der mag ein breit gestreutes Wissen haben, aber sie haben die Tiefe der Kenntnis Ihres Kindes, die kein Arzt haben kann.

    Wenn Sie also auf einen Arzt zugehen, insbesondere auf einen, den Sie zuvor noch nicht aufgesucht haben, dann kommen Sie mit einem Wissen über Ihre Krankheit, das dieser nicht hat, und mit einem Wissen über die Begrenzungen des Arztes, wie sie nur wenige andere Patienten haben. Sehen Sie jetzt, warum Sie Ärzten Angst machen? Dass Sie das tun, ist nicht Ihre Schuld, aber wenn Sie diese Tatsache ignorieren, wird das die Hilfe, die Sie nur von den Ärzten bekommen können, noch weiter begrenzen. Ich weiß das, weil ich, genauso wie Sie Ihre Krankheit besser als jeder Arzt kennen, besser als jeder Patient es je verstehen könnte weiß, wie es sich anfühlt, Arzt zu sein. Sie sehen einen Arzt nur ab und zu (vielleicht öfter, als Ihnen lieb ist), aber ich lebe jeden Tag mit dem Beruf des Arztes.

    Lassen Sie mich also so kühn sein und Ihnen einen Rat geben, wie Sie mit Ärzten umgehen sollten. Es gibt manches, was Sie tun können, um die Sache leichter zu machen, und andere Verhaltensweisen, die jede Hoffnung auf eine gute Arzt-Patient-Beziehung von vorneherein sabotieren.

    1.    Treten Sie nicht zu kämpferisch auf – ja, natürlich müssen Sie für Ihre Interessen eintreten, aber denken Sie daran, dass Ärzte gewohnt sind, die Oberhand zu haben und zu bestimmen, wo es lang geht. Alle anderen Patienten treten dem Arzt mit sofortigem Respekt gegenüber, aber Ihr Verständnis hat die Illusion vom Arzt als dem Halbgott in Weiß zerplatzen lassen. Langfristig gesehen ist das eine gute Sache, aber nur wenige Ärzte möchten gleich von Beginn an mit dieser Realität konfrontiert werden. Das Ziel, das Sie bei jedem Arzt haben, ist eine vertrauensvolle Partnerschaft aufzubauen, die auf Gegenseitigkeit beruht, und wenn man gleich zu Beginn zu kämpferisch auftritt, kann das die Chancen zunichte machen, eine solche Partnerschaft je zu erreichen.

    2.    Zeigen Sie Respekt – ich sage das mit Bedacht, weil es sicher einige Ärzte gibt, die ihre Patienten nicht mit Respekt behandeln – insbesondere solche Patienten wie Sie mit chronischen Krankheiten. Aber die Mehrheit der Ärzte ist nicht so. Wir wollen den Menschen wirklich helfen und sie gut behandeln. Aber wir haben hart gearbeitet, um die Position zu erreichen, die wir jetzt innehaben. Sie wurde uns nicht qua Ermächtigung verliehen oder von den Vorvätern ererbt. Genauso wie Sie möchten, dass man Ihnen zuhört, möchten wir das auch.

    1. Konzentrieren Sie sich auf einige wenige – suchen Sie sich einen guten Hausarzt und ein paar Spezialisten, denen Sie vertrauen. Erwarten Sie von einem neuen Arzt nicht, dass er gleich alles versteht. Ich brauche Jahre und viele Gespräche, um ein wirkliches Verständnis für meine Patienten mit chronischen Krankheiten aufzubauen. Die beste Behandlung ergibt sich, wenn ein Arzt seinen Patienten versteht und der Patient seinen Arzt. So etwas kann sich nur mit der Zeit entwickeln. Ich habe sogar Probleme damit, wenn die chronisch Kranken in meiner Praxis andere Ärzte aufsuchen wollen. Es liegt etwas sehr Kraftvolles darin, wenn man über lange Zeit ein gegenseitiges Verständnis aufgebaut hat.
    2. Gehen Sie nur im absoluten Notfall zu einem Notarzt oder in eine Notaufnahme – denn Notärzte werden immer Probleme mit Ihnen haben. Davon müssen Sie einfach ausgehen. Deren Arbeit besteht darin, zu entscheiden, ob Sie stationär aufgenommen werden müssen, ob Sie eine Notfallbehandlung brauchen oder ob Sie wieder nachhause gehen können. Es kann sein, dass sie Ihre Beschwerden nicht beseitigen können, und sie werden mit Sicherheit nicht versuchen, ein umfassendes Verständnis Ihrer Krankheit zu gewinnen. Das ist nicht ihre Aufgabe. Sie haben sich auf das Fachgebiet der notärztlichen Behandlung spezialisiert, um gesundheitliche Probleme schnell anzupacken und dann weiterzumachen, aber nicht, um chronische Krankheiten zu behandeln. Das Gleiche gilt für jeden anderen Arzt auch, den Sie nur kurz aufsuchen: er wird versuchen, mit Ihnen so schnell wie möglich fertig zu werden.
    3. Gehen Sie Ärzten nicht aus dem Weg. Eine der frustrierendsten Angelegenheiten für mich ist, wenn ein Patient mit einer komplizierten Erkrankung erst nach sehr langer Zeit wieder zu mir kommt und dann eine Riesenliste mit Problemen mitbringt, die ich angehen soll. So kann ich nicht arbeiten, und ich glaube nicht, dass es viele Ärzte gibt, die das könnten. Bei jedem Besuch sollte man nur einige Probleme auf einmal angehen, sonst gerät man durcheinander und macht noch mehr Fehler. Es ist in Ordnung, wenn Sie für sich eine Liste von Ihren Problemen machen, so dass man nichts vergisst. Ich finde es übrigens gut, wenn mir Patienten solche Listen mitbringen, solange sie nicht erwarten, dass ich alle Probleme auf einmal löse. Diese Listen helfen mir dabei, zusammen mit dem Patienten die Probleme herauszusuchen, die zuerst angegangen werden sollen.
    4. Geben Sie sich nicht mit Dummköpfen zufrieden – außer, wenn Sie keine Wahl haben (in der Notaufnahme beispielsweise). Sie sollten solange suchen, bis Sie den richtigen Arzt oder die richtigen Ärzte für Sie gefunden haben. Manche Ärzte sind für die Behandlung chronischer Krankheiten nicht geeignet, während manche die langfristigen Arzt-Patient-Beziehungen vorziehen. Glauben Sie nicht, Sie müssten sich mit Ärzten abfinden, die nicht zuhören oder Ihre Probleme nicht wenigstens ein bisschen lindern. Sie sollten zumindest in der Lage sein, einen Arzt zu finden, der nicht total beschissen ist.
    5. Seien Sie nachsichtig mit uns – manchmal vergesse ich wichtige Dinge aus dem Leben meiner Patienten. Manchmal weiß ich etwas nicht, z.B., dass Sie eine Operation hatten oder dass Ihre Schwester auch bei mir in Behandlung ist. Manchmal meide ich Menschen, weil ich meine Begrenztheit nicht zugeben will. Seien Sie geduldig mit mir – in der Regel weiß ich, wenn ich etwas vermasselt habe, und wenn Sie mich gut kennen, dann wissen Sie auch, dass es mir nichts ausmacht, an etwas erinnert zu werden. Naja, ein bisschen macht es mir vielleicht doch aus.

    Sie wissen besser als irgendjemand sonst, dass wir Ärzte auch nur Menschen sind – mit all der Dummheit, Widersprüchlichkeit und Fehlbarkeit, die mit dem Menschsein verbunden sind – Menschen, die zufällig den Beruf des Arztes ausüben. Ich hoffe, das hilft Ihnen, und ich hoffe wirklich, dass Sie die Hilfe bekommen, die Sie brauchen. Es ist in der Tat schlimm, dass Sie diese gesundheitlichen Probleme haben, und ich hoffe eben, dass das, was ich Ihnen hier dargelegt habe, Ihre besch… Lage wenigstens etwas verbessert.

    Mit freundlichen Grüßen

    Dr. Rob

    **************************

    * Dr. Rob arbeitet als Hausarzt im Südwesten der Vereinigten Staaten. Er ist Internist und Kinderarzt und hat selbst vier Kinder. Er sagt von sich selbst, dass er sehr schnell wechseln könnte zwischen Humor, Späßen und Ernsthaftigkeit, und seine Website ist ein schlagender Beweis für diese in unseren Augen sehr ungewöhnliche Haltung für einen Arzt. Er wirbt für das Lesen seiner Seite und seiner immer neuen Einträge mit diesem Spruch:

    Hallo Leute!! Das Lesen dieser  Gedanken eines leicht ablenkbaren Geistes ist Teil eines gesunden Frühstücks, ist voll von Antioxidantien und stärkt das Immunsystem.

    Man kann sich unter dieser Adresse eintragen, um per Emails über neue Einträge auf dieser Site informiert zu werden.

    Aus: Musings of a Distractible Mind