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    Artikel des Monats Februar 2014 Teil 1

     

    Interview mit dem Kinderarzt Dr. Nigel Speight

    Wissenschaft für die Patienten

    Seminar 31, 32, 33 und 34 der ME/CVS Vereniging (Niederlande)

    Vorbemerkung:

    Dr. Nigel Speight hat etwa 30 Jahre Erfahrung in der Behandlung von Kindern mit ME und war als Facharzt für Pädiatrie für das University Hospital von North Durham in Großbritannien tätig. Er ist immer noch ein leidenschaftlicher Fürsprecher für Kinder mit ME, die von Sozialbehörden mit der Herausnahme aus ihren Familien bedroht werden. Abgesehen von vielen Vorträgen, die er überall hielt, spielte er eine wichtige Rolle in dem Dokumentarfilm Voices from the Shadows.

    Die Interviews können hier im Original angesehen werden: Seminar 31, Seminar 32 , Seminar 33, Seminar 34

    Wenn Sie zu diesem Interview Fragen haben, bitte schreiben Sie diese an diese E-Mail-Adresse: wvp@me-cvsvereniging.nl

    Es ist gestattet, alle Transkripte des Projektes Wetenschap voor Patiënten (Wissenschaft für die Patienten) weiterzuverbreiten, jedoch unter der ausdrücklichen Bedingung, dass die Quelle klar und deutlich angegeben wird: ME/cvs Vereniging, http://www.me-cvsvereniging.nl/

    Übersetzung ins Deutsche: Regina Clos, deutscher Text 31+32 hier als pdf-Datei, deutscher Text 33+34 als pdf, englisches Original hier als pdf-Datei

     

    Seminar 31: ME/CFS und der Verlauf der Krankheit

    Dr. Nigel Speight, beratender Facharzt für Pädiatrie (Kinderheilkunde)

    Sendung vom 28. Januar 2014

     

    Wie beginnt ME?

    ME bricht häufig sehr plötzlich und intensiv im Verlauf einer akuten Infektion aus. Eine beträchtliche Anzahl der Fälle fängt auf diese Weise an. In der Kinderheilkunde kommt es häufiger vor, dass Kinder eine Art prodomalen Zustand haben, der die Krankheit ankündigt oder ihr vorausgeht. Sie sind vielleicht ein, zwei Jahre vorher etwas angeschlagen, und dann erleiden sie eine akute Verschlechterung, die oft wiederum durch ein weiteres Virus, eine weitere Krankheit oder Stress ausgelöst wird. Es kann also auf unterschiedliche Weise ausbrechen, und es fängt wahrscheinlich häufiger allmählich als plötzlich an.

    Wie kommt es, dass ME schlimmer wird?

    Einige der sehr schweren Fälle zeigen sich auf intensive Weise und bleiben sehr schwer, und es kann sein, dass eine Besserung nur sehr, sehr langsam eintritt und das viele Jahre so anhält. Wenn man sich die Gruppe der Kinder mit ME insgesamt ansieht, dann zeigt sich, dass die Krankheit äußerst unberechenbar ist, und die Krankheit kann abklingen, es kann aber auch aus heiterem Himmel zu Rückfällen kommen, die keinen offensichtlichen Grund haben. Es kann also wie bei einer graphischen Kurve auf und ab gehen, über mehrere Jahre hinweg. Natürlich gibt es Dinge, die die Krankheit verschlimmern können. Dazu gehören Druck, übermäßige Anstrengungen, der Zwang, wieder in die Schule zu gehen. Und solche Fälle können durch Falschbehandlung beträchtlich verschlimmert werden.

    Was kann man tun, um diese Entwicklung zu stoppen?

    Als erstes müssen wir zugestehen, dass wir noch kein Heilmittel für ME haben. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass sich die Ärzte dieser Realität stellen. Wir reden also nicht über Behandlung [im Sinne einer Heilung, d.Ü.], wir reden hier über Krankheitsmanagement.

    Und die erste Regel sollte sein, dem Patienten nicht zu schaden, die Krankheit nicht schlimmer zu machen, indem wir es dem Patienten erlauben, zuviel zu tun oder ihn gar unter Druck setzen, zuviel zu tun. Mein Motto für die Patienten ist immer: geht zwei Schritte zurück bevor Ihr einen Schritt nach vorne geht, denn die natürliche Tendenz ist immer, in den frühen Stadien der Krankheit zuviel zu machen.

    Wenn Sie es vermeiden können, den Zustand der Patienten zu verschlimmern, dann können Sie sich entspannen und hoffen, dass sich die Krankheit spontan bessert. Vorbehaltlich der Entdeckung einer Heilmöglichkeit für diese unerträgliche Krankheit.

     

    Seminar 32: ME & Kinder, Teil 1

    Dr. Nigel Speight, beratender Facharzt für Pädiatrie (Kinderheilkunde)

    Sendung vom 28. Januar 2014

    Was sind die Hauptmerkmale der ME bei Kindern?

    Eines der wichtigsten Dinge ist, dass der Sachverhalt ganz eindeutig ist. Ich empfinde die Tatsache, dass wir ME bei Kindern sehen, eines der überzeugendsten Argumente dafür, dass dies ein organischer Prozess ist. Weil man glückliche, gesunde Kinder aus einer netten Familie sehen kann, die aus heiterem Himmel von dieser Krankheit geschlagen werden. Das ist es, was die Krankheit als organische Krankheit erscheinen lässt und uns hilft, gegen die psychiatrische Sichtweise dieser Krankheit zu argumentieren, die schon so lange so viel Schaden anrichtet. Die andere Sache ist, dass die Zahl anderer Krankheiten, die so ähnlich aussehen wie ME, bei Kindern sehr klein ist und die Differentialdiagnose somit wirklich ziemlich einfach ist. Es ist also nicht so schwierig wie bei Erwachsenen, sich wirklich sicher zu sein, dass das Kind ME hat.

    Gibt es bei Kindern mit ME Untergruppen?

    Ganz allgemein kann man die Kinder mit ME anhand der Schwere der Krankheit in Gruppen aufteilen. Bei den leichter Erkrankten ist das Aktivitätsniveau auf 70-90% des normalen Aktivitätsniveaus abgesunken, bei den moderat Erkrankten auf 40-70% und bei den schwer Erkrankten liegt es irgendwo zwischen 10% und 40% des normalen Aktivitätsniveaus. Und dann gibt es da die sehr schweren Fälle, eine sehr bedauernswerte Patientengruppe, die sehr schwer krank und über lange Zeiträume hinweg bettlägerig sind, und das sind die Fälle, die ein Aktivitätsniveau unter 10% des normalen haben.

    Gibt es unterschiedliche Behandlungsformen für die verschiedenen Gruppen?

    Die allgemeinen Prinzipien des Krankheitsmanagements bei ME sollten für alle gleich sein – in dem Sinne, dass man ihren Zustand nicht verschlimmert, sie unterstützt und beschützt und eine symptomatische Behandlung versucht. Und man muss sie davon abhalten, zuviel zu tun. Aber manche Leute glauben an Behandlungen wie Graded Exercise [ansteigendes körperliches Training] und kognitive Verhaltenstherapie. Der Beweis [für deren Sinn, d.Ü.] ist lediglich an Leuten erbracht worden, die leicht bis moderat erkrankt waren und die ambulant behandelt werden können, die in der Lage sind, Kliniken aufzusuchen, um dort Hilfe zu finden. Es gibt keinen Beleg dafür, dass diese Management-Techniken bei der Gruppe der schwer Erkrankten angewendet werden sollten.

    Über was sollten Kinderärzte Bescheid wissen?

    Wenn Sie einen Fall von ME bei Kindern behandeln, dann gibt es da eine Menge Dinge, über die Sie Bescheid wissen sollten. Da ist zum Beispiel der Einfluss des weiteren Familienkreises. Es ist sehr, sehr wichtig, dass alle, die den Patienten mit ME nahestehen, ihnen glauben und sie bestätigen. Oft ist da ein Familienmitglied, manchmal ein entfernteres, getrennt lebendes, ein Ex-Ehemann, eine Tante, die weit weg wohnt – häufig eine halbprofessionelle Person –, das strikte Ansichten hat. Und diese Leute können den Glauben der Familie in das Kind untergraben und sehr zerstörerisch sein. Und ich glaube, es kann für den Kinderarzt sehr wichtig sein, solche Probleme zu entdecken und vielleicht dadurch anzugehen, dass er den Mitgliedern im weiteren Familienkreis, die nicht an die Krankheit des Kindes glauben, ein Gespräch anbietet.

    Welche Untersuchungen sollten Kinderärzte anordnen?

    Wenn ein Kinderarzt zum ersten Mal ein Kind mit ME sieht, sollte er eine Reihe von Routineuntersuchungen durchführen, die alle verbreiteten oder auch seltenen Krankheiten ausschließen, die so ähnlich aussehen könnten wie ME. Wenn ein Kinderarzt ein Kind über viele Jahre hinweg betreut, sollte er zusätzlich nach zwei oder drei Jahren in Betracht ziehen, diese Routinetests zu wiederholen, weil die Kinder immer noch andere Krankheiten zusätzlich zu ihrer ME entwickeln können und eine Nachuntersuchung natürlich wichtig ist, um sicher zu sein, dass man keine falsche Diagnose gestellt hat. Aber die klinische Untersuchung ist bei dieser Krankheit wahrscheinlich wichtiger als eine große Anzahl von Untersuchungen.

     

    Seminar 33: ME & Kinder, Teil 2

    Sendung vom 11. Februar 2014

    Gibt es mögliche Behandlungsformen für Kinder mit ME?

    Momentan gibt es keine kurative Behandlung für ME, weder für Kinder noch für Erwachsene. Hoffentlich werden wir eines Tages eine haben. Wenn wir hier Farbe bekennen und zugeben, dass wir keine Behandlungsform haben, die ME heilen könnte, dann sollten wir vielleicht das Wort Behandlung nicht mehr verwenden, sondern das Wort „Management“. Und dann müssen wir über verschiedene Strategien des Managements reden.

    Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Wirksamkeit von kognitiver Verhaltenstherapie und Graded Exercise (ansteigendes körperliches Training), vielleicht übertrieben war, und es ist mit Sicherheit keine kurative Behandlung und seine Vorteile sind tatsächlich ziemlich geringfügig. Es gibt eine Behandlung in Form von Immunglobulinen, für die es einige Belege aus randomisierten, kontrollierten Studien gibt. Ich denke, es ist sehr schade, dass diese Studien in den vergangenen Jahren nicht wiederholt wurden. Aber ich habe in den schwersten Fällen einigen therapeutischen Erfolg mit Immunglobulinen gehabt, und das ist ein Gebiet für die zukünftige Forschung

    Ansonsten sollte das Krankheitsmanagement bei einem Kind mit ME eine einfache, unterstützende, einfühlsame, wertschätzende, empathische Vorgehensweise sein, bei der der Arzt, wie ich sagte, Kontinuität und Unterstützung durch die gesamte Krankheit hindurch gewährleistet, zusammen mit einer guten Beratung.

    Was sollte bei einem Kind mit ME absolut vermieden werden?

    Es gibt einige Dinge, vor denen Kinder mit ME es verdienen, geschützt zu werden. Sie verdienen Schutz vor ihrem eigenen Antrieb, zuviel zu machen, weil Kinder natürlicherweise schnell wieder gesünder werden wollen und jede zeitweilige Besserung ausnutzen werden, indem sie tendenziell zu viel tun. Man muss ihnen also helfen, indem man sie ermahnt, nicht zuviel zu tun, um so vor dieser Tendenz zu schützen. Außerdem gibt es natürlich viele andere Quellen für Druck auf die Kinder, nicht zuletzt von ihren Eltern, ihren Familien, ihren Ärzten und dem Schulsystem. Und auch hier kann die wichtigste Rolle des Kinderarztes sein, das Kind vor dieser Art Druck zu beschützen und ihm zu ermöglichen, sich in seiner eigenen Geschwindigkeit zu erholen.

    Wie kann man ein Kind mit ME davor schützen, gezwungen zu werden, in die Schule zu gehen?

    Es gibt immer Druck vom Schulsystem, zu versuchen, die Kinder mit ME in die Schule zu bringen, selbst wenn sie nicht gesund genug dafür sind. Ich denke, hier müssen die Ärzte standhaft sein und sich über den Druck der Schulbehörden hinwegsetzen. Sie müssen sagen, dass dieses Kind nicht gesund genug ist, um in die Schule zu gehen. Manchmal sage ich, es ist schwerer, eine leichtere Form von ME zu haben als eine schwere, weil es dann so viel mehr Möglichkeiten gibt. Ein Kind, dessen Leistungsfähigkeit bei etwa 70% der vollen Leistungsfähigkeit liegt, kann gerade noch so etwas zur Schule gehen, und deshalb muss der Arzt der Schule helfen, sehr flexibel und verständnisvoll gegenüber dem Zustand des Kindes zu sein, damit sie das Kind nicht noch mehr unter Druck setzen.

    Es ist für Kinder manchmal einfacher, ganz aus der Schule draußen zu sein und ein wenig Hausunterricht erteilt zu bekommen, der eine ideale Möglichkeit ist, ME-kranken Kindern etwas Bildung zu bieten und ihnen zu ermöglichen, später etwas aufzuholen, wenn sie sich von ihrem ME erholen.

    Was ist das wichtigste Instrument, um Kinder vor der Drohung zu schützen, aus ihren Familien herausgenommen zu werden?

    Es gibt einen sehr unglückseligen und bedauernswerten Trend, dass manche Kinder mit ME und ihre Familien einer Art Verfolgung von den Kinderschutzbehörden ausgesetzt werden, und das ist äußerst beklagenswert und leidvoll. Die wichtigste Möglichkeit, das zu verhindern ist, dass das Kind von einem Kinderarzt betreut wird, der eine überzeugende, eindeutige Diagnose von ME gestellt hat, und dass er/sie allen anderen Behörden klar macht, dass er/sie davon überzeugt ist, dass ME eine körperliche Krankheit ist. Das ist keine psychische Erkrankung, sie ist nicht die Folge davon, dass Eltern überbehütend wären. Und wenn der Kinderarzt das gut hinbekommt, dann ist das Kind geschützt; wenn ihm das nicht gelingt, ist es erschreckend zu sehen, wie viele Leute es dann gibt, die das falsch verstehen, angefangen von den Schulbehörden über die Sozialarbeiter bis hin zur Psychiatrie, und ich bin selbst in 30 sehr, sehr erschütternden Fällen involviert gewesen, die alle darauf zurückzuführen waren, dass man versagt hatte, diesen Schutz zu gewähren.  

    Seminar 34: Hoffung und Zukunft

    Sendung vom 11. Februar 2014

    Welche positive Entwicklungen sehen Sie im Hinblick auf ME in Großbritannien?

    Lassen Sie uns über mögliche Hoffnungen für die Zukunft in diesem Lande nachdenken. Dazu muss es mehr biomedizinische Forschung geben, die jetzt läuft. Und ich glaube, es wäre sehr gut, mehr randomisierte, kontrollierte Studien für Immunglobuline und Rituximab geben, die es jetzt in Norwegen und hier in Großbritannien gibt, um weitere Ansätze zu haben, die Ursache zu finden, was dann zu einer Behandlung führen kann. Lassen Sie uns also hoffen, dass dies ein Weg ist, der uns weiterbringt. Momentan glaube ich ist das dringendste, was wir brauchen, jemand ist, - vielleicht das Parlament oder die Royal Colleges – die der Ärzteschaft bessere Richtlinien an die Hand geben, um ihr Krankheitsmanagement, die Diagnosestellung und den Schutz von Kindern zu verbessern. Momentan passiert das nicht.

    Gibt es irgendwo auf der Welt positive Initiativen?

    Außerhalb Großbritanniens gibt es einige andere positive Entwicklungen. Als ich vor einigen Jahren in Norwegen war, war ich hocherfreut zu hören, dass das norwegische Gesundheitsministerium sich bei der ME-Gemeinde in Norwegen für das Versagen der Ärzteschaft im Hinblick auf ihre Versorgung entschuldigte. Und ich denke, je mehr Länder es gibt, die sich tatsächlich der Belastung durch das ME in ihren eigenen Ländern ins Auge sehen können und die Ärzteschaft ermuntern, damit umzugehen, umso besser. Das kann nur gut sein. In Amerika gibt es derzeit offensichtlich eine Menge an biomedizinischer Forschung, und es gibt weitere Forschungsprojekte zu Rituximab, die aus Norwegen kommen. Ich glaube, eine Heilmöglichkeit für ME zu finden ist der einfachste Weg, all die Kontroversen und die Misshandlung von ME-Patienten zu durchbrechen, weil die Ärzteschaft dann akzeptieren wird, dass es eine organische Krankheit ist. Und hoffentlich wird dieser Tag in den nächsten 5 bis 10 Jahren kommen.

    Was schätzen Sie – wird die tatsächliche Ursache des ME gefunden werden, und wenn ja, wann?

    Ich bin nur ein Kliniker, ich bin kein großer Wissenschaftler, deshalb weiß ich das nicht. Aber es ist zu hoffen, dass wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren große Fortschritte machen werden. Es ist möglich, dass wir nicht eine einzelne Ursache finden, dass wir tatsächlich mehrere Untergruppen von ME finden, manche mit autoimmunen Ursachen, manche mit mehr infektiösen Ursachen, die dann am Ende in die gleiche Krankheit münden. Aber dazu bedarf wirklich sehr viel mehr an Forschung und finanziellen Ressourcen und sehr viel weniger Gewichtung auf die psychiatrische Forschung.