Die Frage, ob es eine Genetische
Ursache für CFS gäbe, beantwortete Dr. Schnakenberg mit einem
„klaren Jein“. Es gäbe nicht nur eine Ursache, und man wisse nicht,
was Henne und was Ei ist. ME/CFS ist auf jeden Fall ein
Erscheinungsbild, zu dem auch genetische Faktoren beitragen können.
Die Entzündungswerte, die man bei ME/CFS misst, haben etwas mit der
Genetik zu tun. Tatsächlich hat man, so erläuterte Schnakenberg am
Ende seines Vortrags, neun Gene gefunden, die so etwas wie ein
genetischer Fingerabdruck für die CFS-Erkrankung sind.
Ein Grundkurs
in Genetik:
Um dieses Forschungsergebnis zu
verstehen, beschrieb Dr. Schnakenberg zunächst den Zellaufbau und
den Zellkern, in dem die DNA, also unsere Erbsubstanz, in einem
Knäuel aufgewickelt ist.Wenn man diesen Genfaden biochemisch
auseinandergedröselt, dann ist er etwa einen Meter lang. Auf der DNA
ist alles codiert, was den Menschen ausmacht, von der Embryogenese
bis hin zur somatischen Zellteilung auf phänotypischer Ebene. Wenn
eine Zelle sich teilt, kann man die 46 Chromosomen erkennen, von
denen wir je die Hälfte von Vater und Mutter geerbt haben. Eine
Genomanalyse sagt also auch immer etwas über Vater und Mutter auf.
Die Grundbausteine der DNA sind
vier verschiedene Nukleinbasen: Basen
Adenin
(A),
Guanin
(G),
Cytosin
(C) und
Thymin
(T), die sich kombinieren. Adenin paart sich mit Thymin und
umgekehrt, Cytosin paart sich mit Guanin. Das menschliche Genom
besteht aus 3x109 Basenpaaren, und in der Reihenfolge der
Bausteine A, C, G, T (der Basensequenz) ist die genetische
Information verankert. Man hat heute die technischen Mittel, die
Abfolge dieser Basenpaare abzulesen, ein zeitaufwendiger Prozess.
Bioinformatiker können diese Abfolge lesen und verstehen.
Durch das humane Genomprojekt hat
man herausgefunden, dass es auf diesem einen Meter 25.000 Gene gibt.
Menschen untereinander sind zu 99,9% identisch, die Unterschiede
ihres Genoms betragen also nur 0,1%. Aber genau diese Unterschiede,
die genetische Variabilität bzw. die Sequenzvariationen sind dann
u.U. auch relevant für die Frage des ME/CFS. Gene sind bestimmte
Abschnitte auf diesem Meter, die, wenn sie abgelesen und umgesetzt
werden, zur Produktion von 150.000 bis 300.000 verschiedenen
Proteinen führen.
Die Kombination der Nukleinbasen
bilden die Sequenzen, die von der Zelle abgelesen und in Aminosäuren
umgesetzt werden. Und aus diesen Aminosäuren bilden sich dann die
Proteine, aus denen wir bestehen, also letztlich unseres Phänotyps.
15% des Meters sind mit Genen besetzt, und damit die Zelle weiß, wo
sie mit dem Ablesen anfangen und aufhören soll, gibt es am Beginn
und am Ende eines Gens jeweils ein Start- und Stopsignal aus drei
dieser Nukleinbasen.
Es gibt einen zweiten genetischen
Code, ein Forschungsfeld, das in nächster Zukunft eine Bedeutung
bekommen wird, und das ist das Konzept der Methylierung. An
bestimmten Stellen des Gens docken sich Methylgruppen an, die
darüber entscheiden, ob ein Gen aktiv ist oder nicht, d.h. abgelesen
wird oder nicht. Diese Methylgruppen wirken wie ein Lichtschalter –
sie stellen quasi das Gen an oder aus. Diese Methylgruppen sind
genauso wie etwa das Vitamin D sogenannte Transkriptionsfaktoren,
die in der Lage sind, Gene an- und auszuschalten.
Diese Methylierungsmuster werden
zunächst von der Mutter mitvererbt, sie werden bei der
Embryonalentwicklung wieder entfernt, so dass das Kind ein eigenes
Methylierungsmuster entwickelt.
Die Methylierungsmuster sind durch
Umweltfaktoren beeinflussbar, z.B. durch Umweltschadstoffe wie
Pyrethroide oder Holzschutzmittel. Dadurch kommt es dann zu einer
veränderten Genexpression und zum Anschalten verschiedener anderer
Gene.
Aufbaukurs
Genetik:
Ist das Genom verantwortlich?
Wenn man der Frage nachgeht,ob und
wie das Genom für Krankheiten verantwortlich ist, dann muss man
verschiedene Untersuchungsebenen betrachten: das Genom bzw. die
Sequenzvariationen, das Epigenom, das Transkriptom, das Proteom und
das Metabolom.
Auf der Ebene des Epigenoms gibt
esbislang nur ein Gen, das diagnostisch eingesetzt wird. Das
sogenannte Septimgen. Mit dem Nachweis dieser genetischen
Veränderung kann man im Blut erkennen, ob ein Mensch einen
colorektalen Tumor hat. Im umweltmedizinischen Bereich, also z.B.
bei CFS und Fibromyalgie, wird es noch eine Weile dauern, bis das
spezifische Methylierungsmuster aufgeklärt wird. (Das Epigenom
umfasst die Eigenschaften, die nicht auf der DNA festgelegt sind,
die aber dennoch von einer Zelle auf die Tochterzelle weitergegeben
werden – z.B. über diese Methylierungsmuster.)
Das Transkriptom ist die Ebene,
welche Gene an und welche abgeschaltet sind, d.h. welche Gene in
einer Zelle gerade von DNA in RNA umgeschrieben, also transkribiert
sind. Hier könnte man ansetzen, um eine mögliche Diagnose des CFS
mit Hilfe eines sogenannten Gen-Arrays zu erreichen. Auch hier kann
man im Prinzip spezifische Muster erkennen und nachweisen – und das
müsste man auch für CFS erforschen. Prof. Scheibenbogen plant, wenn
sie die entsprechende finanzielle Förderung bekommt, 10.000 Gene auf
solchen Arrays zu untersuchen, um herauszufinden, welche davon bei
ME/CFS an- und ausgeschaltet sind. Daraus könnte sich ein
diagnostischer Marker ergeben, wobei es wahrscheinlich ist, dass wir
nicht nur einen, sondern mehrere Marker finden.
Das Proteom ist die Gesamtheit der
zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Zelle vorliegenden Proteine,
also eine Ebene weiter oben. Die Proteomanalytik wird sich in den
nächsten Jahren sehr stark weiterentwickeln. Hier kann man noch
keine Anhaltspunkte für einen diagnostischen Marker für CFS
ableiten.
Das Metabolom ist die Ebene, der
z.B. die Abbildung von Martin Pall zum NO/ONOO-Zyklus entspricht,
d.h. die Ebene, mit der man viele Vorgänge des Stoffwechsels
erfassen kann. Damit kann man viele genetische Effekte erklären.
Bei der Frage, welche Bedeutung
die Gene im Diagnose-Algorithmus des ME/CFS haben, ist die
sogenannte Penetranz eines Gens wichtig, d.h. die
Wahrscheinlichkeit, dass es sich durchsetzt, also vom Genotyp zum
Phänotyp führt. Wenn z.B. jemand Träger des Chorea-Huntington-Gens
ist, so wird er zu 100% daran erkranken. Es gibt aber auch
genetische Variationen, die nicht zu 100% zu einer bestimmten
Krankheit führen und bei denen man durch eine ausgleichende
Medikamentengabe durchaus etwas machen kann.
Bei Multisystemerkrankungen wie
CFS sind durchaus auch Gene beteiligt, sie haben aber eine
untergeordnete Penetranz. Umweltfaktoren haben hier einen größeren
Anteil. Beeindruckend seien die Ergebnisse der XMRV-Forschung – das
Retrovirus integriert sich in das menschliche Genom und wird Teil
der Sequenz. Man würde es also bei einer Genomanalyse auch finden.
Und man hofft, daraus einen biologischen Marker entwickeln zu
können.
Ein
Hierachiemodell der Einflussfaktoren
Das vernünftigste Modell zur
Erklärung der Multisystemerkrankungen ist die folgende Hiearchie,
beginnend bei der genetischenDisposition, die man geerbt hat und
endend bei den Symptomen einer Erkrankung:
Die Genetische Disposition haben
wir von unseren Eltern über die Gene geerbt. Dann bauen wir durch
eine initiale Exposition wie etwa eine Viruserkrankung oder
Umweltgifte eine Suszeptibilität, also Anfälligkeit, auf. Es kommt
dadurch möglicherweise zu einem Toleranzverlust und zur
Sensitivität, d.h., Dinge, die man früher toleriert hat, führen
jetzt zu einer Überempfindlichkeitsreaktion. Dadurch werden bereits
im Niedrigdosisbereich Symptome sichtbar, die dann das
Krankheitsbild ausmachen.
Ein gutes Modell ist das des NO/ONOO-Zyklus
von Martin Pall. Schnakenberg ergänzt es insofern, als bestimmte
Triggerfaktoren für diesen Zyklus wie z.B. die Zytokine und
Superoxiddismutase genetisch bedingt stärker exprimiert werden
können, also durch genetische Faktoren verstärkt produziert werden.
Das führt dazu, dass ein Mensch, der genetisch bedingt mehr IL1-ß
produziert, bei der gleichen Exposition stärker reagiert als ein
Mensch, der diese Sequenz nicht hat. Man muss immer die
Sequenzvariationen in Verbindung mit den Umweltfaktoren sehen, denn
beides wirkt zusammen. Die Erhöhung des Erkrankungsrisikos ist immer
von beidem abhängig, von der genetischen Anlage und den
Umweltfaktoren.
Ein weiteres Beispiel für einen
solchen Zusammenhang ist der zwischen Genen und
Mitochondrienfunktion. Mitochondrien haben wichtige Funktion im
programmierten Zelltod und im Zitronensäurezyklus. Ein wichtiges
Enzym im Rahmen der Energieproduktion in den Mitochondrien ist die
SOD (Superoxiddismutase). Sie hat die Aufgabe, Radikale abzufangen
und elimiert oxidativen Stress, der im normalen Stoffwechsel
auftritt. Wenn die SOD genetisch bedingt verändert ist, dann kann
sie Radikale nicht mehr optimal einfangen. D.h. es gibt Menschen,
die eine genetische Veranlagung haben, sehr viel mehr oxidativen
Stress aufzubauen, der dann in den Mitochondrien vorhanden ist.
Wie ermittelt
man genetische Hintergründe von Krankheiten?
Eine der Strategien zum Auffinden
eines genetischen Hintergrunds von Krankheiten ist die Erstellung
eines Familienstammbaums. In einer humangenetischen Beratung kann
man dadurch bereits sehen, ob es einen möglichen genetischen
Hintergrund einer Erkrankung geben könnte. Eine zweite Strategie
sind Zwillingsstudien. Eine dritte Möglichkeit sind die sogenannten
genomweiten Assoziationsstudien: dabei versucht man, einzelne
Sequenzvariationen des Genoms bestimmten Krankheitsbildern
zuzuordnen. Man setzt dabei sogenannte Mikroarrays ein, mit denen
man untersuchen kann, welche Gene aktiv sind, d.h. angeschaltet sind
und abgelesen werden. Jonathan Kerr aus Großbritannien hat solche
Genexpressionsstudien auch schon bei CFS-Patienten durchgeführt und
spezifische Muster gefunden. Ziel solcher Genexpressionsstudien ist,
einen diagnostischen Marker für Krankheiten finden. Wahrscheinlich
wird man dabei mehrere Punkte finden, die ein ME/CFS begründen
können, d.h, es sind wahrscheinlich mehrere Gene beteiligt. Denn CFS
ist eine komplexe Erkrankung. Weiterhin muss man herausfinden,
welchen Stellenwert die einzelnen Gene haben, die exprimiert sind.
Ende der 90er Jahre hat man erste
Untersuchen dieser Art an Golfkriegsveteranen durchgeführt und
herausgefunden, dass sie eine genetische Disposition für eine
erhöhte Zytokinproduktion haben. Sie hatten signifikant höhere Werte
als Vergleichspersonen.
Genexpressionsstudien geben Hinweise
Inzwischen sind eine Menge
Genexpressionsstudien durchgeführt worden, und man hat tatsächlich
Gene gefunden, die mit CFS in Verbindung stehen könnten. Dabei hat
sich auf genetischer Ebene bestätigt, was man bereits beobachtet und
vermutet hatte: es sind zum einen das Gen für das Cytochrom P450,
was an der Detoxifikation von Fremdstoffen beteiligt ist, und zum
anderen das Gen für die Catechol-O-Methyltransferase, die für den
Abbau der Neurohormone Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin wichtig
ist, verstärkt exprimiert.
Jonathan Kerr und sein Team haben
weitere typische Genexpressionen gefunden. Es handelt sich dabei um
Gene aus dem Bereich der T-Zell-Aktivierung, der Immunantwort, der
Mitochondrien, des Zellzyklus, der Apoptose etc.Diese
Genexpressionsanalysen haben aber noch keinen diagnostischen Wert.
Das liegt u.a. daran, dass es bei der Probengewinnung große Probleme
gibt, denn das Genexpressionsmuster verändert sich sofort, sobald
die Blutprobe abgenommen wird, denn das, was man misst, nämlich die
RNA, ist hoch instabil und zerfällt sofort, so dass die Aussagekraft
nicht eindeutig ist. Und außerdem müssten noch genomweite
Assoziationsstudien an sehr großen Patientenkollektiven durchgeführt
werden, damit sie auch verlässlich sind. Bislang hat man nur kleine
Studien gemacht.
Untersuchungen
auf der DNA-Ebene:
Gibt es auf der DNA-Ebene
Variationen, die bei CFS auffällig sind? In einer Studie von 2006
hat man tatsächlich Sequenzvariationen bei drei Genen gefunden, die
die Disposition für eine Fatigue-Erkrankung erklären könnten: Es
handelt sich um die Gene für die Neuronale Tryptophanhydroxilase
(TPH2), die Catechol O-Methyltransferase (COMT) und für einen
Glucocorticoidrezeptor (NR3 C1). Man hat in dieser Studie noch neun
weitere gefunden. Es gibt also eine genetische Komponente, die die
Disposition für eine Fatigue-Erkrankung erklären könnte, denn man
hat diesen genetischen Fingerabdruck bei 76,3% der Patienten mit CFS
gefunden. Das ist ein relativ hoher Wert, aber ob das einen
diagnostischen Wert hat, ist noch unklar.
Alle Gene, die in dieser Studie
untersucht wurden:
Es sind alles Gene aus dem Bereich
des Serotoninstoffwechsels, des Catecholaminstoffwechsels und des
Corticoidstoffwechsels. Aus Millionen von Basenpaaren und 25.000
Genen hat man also neun Gene gefunden, die so etwas wie ein
genetischer Fingerabdruck sind für die CFS-Erkrankung.Um das
abzusichern, müsste man dieseGene jetzt auch an anderen Kohorten von
CFS-Patienten untersuchen. Das hat man auch gemacht, und zwar für
das hauptverdächtige Gen, das für COMT zuständig ist, und man hat
tatsächlich herausgefunden, dass der COMT-Polymorphismus bei CFS
überrepräsentiert ist.
Für das Serotonintransportergen
hat man es auch gemacht und ebenfalls die Sequenzvariation ebenfalls
häufiger bei CFS gefunden. Die Betroffenen haben einen
unterschiedlichen Serotoninhaushalt. Sequenzvariation im Bereich der
Gene für das Cytochrom-Phase 1 Phase 2 Enzym hat man ebenfalls
gefunden. Das führt zu mangelnder Entgiftung und damit zu erhöhtem
oxidativem Stress. Auch in einer neuen Studie von 2010 ist bestätigt
worden, dass die PhaseI/II-Enzyme eine wichtige Rolle bei den
umweltassoziierten Erkrankungen spielen.
Diese neun Gene (NR3C1, TPH2, COMT,
CRHR2, CRHR1, NRC1, TH, POMC, 5-HTT) repräsentieren die gesamte
Hypophysen-Hypothalamus-Nebennierenachse bei CFS und bestätigen von
genetischer Seite aus das, was auf der Neurotransmitterseite schon
immer im Labor gemessen worden ist.
Solche Genvariationen sollten auch
bei medikamentösen Therapien berücksichtigt werden. Medikamente wie
Ibuprofen, Saroten, Amytriptilin und andere werden vom Cytochrom
2-D6 verstoffwechselt. Das Cytochrom 2-D6 ist genetisch bedingt in
unterschiedlicher Menge vorhanden und bei manchen Personen wird es
nicht oder kaum gebildet – mit dem Effekt, dass sie solche
Substanzen nicht abbauen, nicht verstoffwechseln können. Wenn man
diese Medikamente solchen Menschen gibt, dann fügt man ihnen
erheblichen Stress zu. Es gibt aber auch die Variante, dass das Gen
mehrfach vorhanden ist und sehr viel Cytochrom 2 D-6 gebildet wird,
so dass die Betroffenen solche Substanzen sehr viel schneller
abbauen und von den Medikamenten nichts haben. Es gibt also viele
Möglichkeiten: Die einen bauen es nicht oder sehr langsam ab – was
zu einer Medikamentenunverträglichkeit führt, andere bauen es zu
schnell ab und spüren von daher keine Wirkung, d.h. man erzielt
keinen therapeutischen Erfolg.
Wenn die Frage einer
medikamentösen Behandlung ins Spiel kommt, muss man bei der
Dosierung auf mögliche Polymorphismen der Gene für das Cytochrom 2D6
(CYP2D6) und andere Cytochrome (CYP219 und CYP2D9) achten, denn alle
sind für den Abbau der Medikamente im Stoffwechsel zuständig.
Fasst man die Frage CFS-Diagnostik
aus genetischer Sicht zusammen, gibt es in der Literatur viele
Hinweise auf genetische Variationen, die im Prinzip das bestätigen,
was wir von der Beobachtung her schon wissen. Aber am wichtigsten
sind das COMT-Gen und das Serotonintransporter-Gen.