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Frau Dr.
Baumgarten-Austrheim hat seit 1997 in Oslo,
Norwegen, eine normale Hausarztpraxis gehabt, in der sie
u.a. mit Homöopathie gearbeitet hat. Aus diesem Grund
kamen viele Patienten mit chronischen Krankheiten zu
ihr, darunter eben auch ME/CFS-Patienten. Heute leitet
sie das ME/CFS-Zentrum an der Universitätsklinik Oslo. |
In einem geschichtlichen
Rückblick berichtete sie zunächst, dass die von Ellen Piro
gegründete norwegische ME/CFS-Patientenorganisation durch ihre
jahrelange Lobbyarbeit schließlich erreicht hat, dass sich das
Gesundheitsministerium mit ME/CFS und der nicht vorhandenen
Versorgung für diese Patienten beschäftigt hat.
Im Juni 2007 schließlich gab
es einen Bericht vom Norwegischen Wissenschaftszentrum für
Gesundheitsdienste mit dem Titel „Diagnose
und Behandlung von Chronischem Erschöpfungssyndrom/Myalgischer
Enzephalopathie CFS/ME”,
an dem einige Ärzte mit Erfahrung auf dem Gebiet des ME/CFS
mitgearbeitet hatten. Er enthielt einen Überblick über die
wissenschaftlichen Artikel, die Definition des Syndroms und eine
Diskussion der Behandlungsmethoden. Sie empfahlen damals nur
kognitive Verhaltenstherapie und Graded-Exercise empfohlen. Die
Patientenorganisationen haben sich deshalb davon distanziert. Im
März 2007 hat das Norwegische
Gesundheitsdirektorat einen Bericht veröffentlicht, in dem die
(desolate) Versorgungssituation der Patienten dargestellt wurde.
Infolgedessen wurden Empfehlungen für eine Verbesserung
abgegeben, die dann schließlich im Oktober 2007 zu einer
Anweisung durch das Gesundheitsministerium führten, landesweit
ein Kompetenznetzwerk für ME/CFS-Patienten aufzubauen. Das
führte dann schließlich im Dezember 2008 zu der Eröffnung einer
Ambulanz für ME/CFS-Patienten am Osloer Universitätskrankenhaus.
Es sollen dort auch 10 Betten für schwerkranke ME/CFS-Patienten
eingerichtet werden, aber dafür gibt es momentan noch kein Geld.
Da sich die
Patientenorganisationen immer wieder an die zuständigen
Politiker und Behörden gewandt und auf das fehlende Angebot für
ME/CFS-Patienten hingewiesen hatten, hatte man sich an Dr.
Brubakk, Infektionsmediziner an der Osloer Uniklinik, gewendet,
um zu untersuchen was man diesen Patienten anbieten könnte. Er
hatte bereits seit 1990 mit ME/CFS-Patienten gearbeitet und
wandte sich 2006 an Frau Dr. Baumgarten, ob sie für einen Tag
pro Woche an der Uniklinik arbeiten könne, um ein Angebot für
ME/CFS-Patienten auszuarbeiten. Im Januar 2008 wurden dann
finanzielle Mittel für die Organisation eines interdisziplinären
Zentrums bereitgestellt, das dann im Dezember 2008 eröffnet
wurde. Ein gut ausgearbeiteter Vorschlag für die Errichtung
einer speziellen Bettenabteilung für schwerkranke
ME/CFS-Patienten wurde zwar eingereicht, konnte aber bislang
wegen fehlender finanzieller Mittel noch nicht realisiert
werden.
Das
interdisziplinäre Team
besteht aus einer
Allgemeinmedizinerin/Abteilungsleiterin, Frau Dr. Baumgarten,
einer halben Stelle mit einem Facharzt für
Infektionskrankheiten, Dr. Brubbak, geplant ist auch ein
Facharzt für Neurologie, aber diese Stelle konnte mangels
geeigneter Bewerber noch nicht besetzt werden, und sie haben
eine Psychologin, die jahrelang mit Menschen mit somatischen
chronischen Krankheiten gearbeitet hat und die speziellen
Bedürfnisse dieser Patientengruppe kennt. Außerdem haben sie
noch eine Ernährungswissenschaftlerin und eine Sozialarbeiterin.
Im ersten Jahr hatten sie 900 Überweisungen, konnten aber nur
300 annehmen.
Organisation:
Wenn Patienten überwiesen
werden, dann werden sie je nach Symptomenschwerpunkt von
Spezialisten untersucht. Entscheidend ist eine gute Anamnese,
die bei ME/CFS-Patienten besonders wichtig ist, weil man dann
sehen kann, ob sie der Kanadischen Falldefinition entsprechen.
Sie verwenden nur die Kanadische Definition, weil die am
genauesten ist. Dann folgt eine klinische Untersuchung und
ausführliche Blutuntersuchungen, auch auf Mineralstoffe und
Vitamine, mit relativ breiter Serologie, um Infektionserreger zu
bestimmen. Gelegentlich finden sie dabei andere Ursachen für die
ME/CFS-Symptomatik, die dann behandelt werden. Alle werden auch
vom Psychologen untersucht, um psychiatrische Krankheitsbilder
auszuschließen, aber auch um eine psychologische Unterstützung
anzubieten. Neu diagnostizierte Patienten brauchen das häufig,
um mit der Diagnose fertig zu werden. Alle werden an die
Mitglieder des interdisziplinären Teams überwiesen und haben
dann zwei oder drei Termine bei diesen. Es wird auch ein
Coping-Kurs angeboten. Bei der Ergotherapeutin lernen sie
Aktivitätsanpassung im Sinne des Pacing und energieschonende
Methoden. Es wird auch der Bedarf für technische Hilfsmittel wie
Stuhl für die Dusche etc. ermittelt. Der Physiotherapeut
vermittelt Entspannungsmethoden.
Es wird immer wieder gefragt,
welche Medikamente man denn gegen die bei ME/CFS vorliegenden
immunologischen Störung gibt. Da man weiß, dass im Falle einer
solchen Immundysfunktion und erhöhter inflammatorischer Zytokine
eine Überlastung schädlich ist, bringt man den Patienten
zunächst bei, sich nicht ständig zu überlasten. Wenn man ihnen
durch Entspannungsübungen zu einem etwas besseren Schlaf
verhilft, dann entlastet man damit das Immunsystem, unabhängig
von der Ursache der immunologischen Störungen. Es sei nicht
einfach, den Patienten das beizubringen, weil sie bei einer
Besserung sofort anfangen, alles nachzuholen, was sie gerne
machen möchten, und so setzen sie das Push-und-Crash-Muster
fort. Wenn sie aber die Methoden konsequent anwenden, führt das
zu einer Beruhigung des Immunsystems und sehr langsam zu einer
Ausweitung der Belastungsgrenze. Die Ergotherapeutin macht zur
Zeit eine Studie mit Schwerstkranken und erlebt, dass sogar
Patienten, die fünf Jahre im Bett gelegen haben, wieder
hochkommen können. Es sei nie zu spät, um umzudrehen, aber je
früher, desto besser.
Die Ernährungsberaterin testet
Nahrungsmittelintoleranzen aus und bringt den Patienten bei, auf
energieschonende Weise Essen zuzubereiten. Die Sozialarbeiterin
hilft bei Problemen mit Krankengeld, Rente und weiteren
Unterstützungsleistungen wie Hilfe im Haushalt.
Diese Angebote sind für die
weniger schweren Fälle gedacht, die noch selbständig in die
Klinik kommen können.
Für die ans Haus gefesselten
Patienten ist ein ambulantes Team gebildet worden, dass die am
schwersten erkrankten, d.h. bettlägerigen Patienten zuhause
aufsucht. Hier muss zunächst eine Diagnose gestellt werden, da
manche bislang keinen Arzt gesehen hatten. Manche dieser
Patienten sind jedoch nicht transportfähig, so dass im Falle des
Verdachts auf andere Krankheiten die Diagnose schwierig wird,
wenn stationäre Untersuchungen notwendig werden. Wenn die
Diagnose ME/CFS bestätigt wird, dann gibt es die gleiche
interdisziplinäre Beratung wie in der Ambulanz, mit mehreren
Hausbesuchen. Außerdem ist es wichtig, den Hausarzt und das
Pflegepersonal zu beraten, da diese oft nicht oder falsch
informiert sind und meinen, man müsse die Patienten nur zwingen,
etwas zu tun. Für das Pflegepersonal ist Beratung besonders
wichtig, da die Pflege dieser Schwerstkranken für sie emotional
oft schwierig ist, denn sie bekommen kaum Rückmeldung von den
Patienten. Eine „Aktivierung“ muss sehr langsam erfolgen – es
kann bedeuten, einmal pro Woche den Kopf für fünf Minuten zu
heben. Hierbei ist es wichtig, immer dem Patienten die Kontrolle
zu überlassen, um Verschlimmerungen zu vermeiden.
Für die moderaten Fälle, die
in die Klinik kommen können, wird ein achtwöchiger Copingkurs
angeboten mit einer Sitzung pro Woche, die aus zwei mal 45
Minuten ”Unterricht” mit einer 30-minütigen Pause dazwischen
besteht. Vermittelt werden hier Wissen über ME (Ärztin), wie man
mit ME/CFS als chronischer Krankheit leben kann (Psychologin),
Pacing und Energieökonomisierung (Ergotherapeutin), Ernährung
bei ME/CFS (Ernährungswissenschaftlerin), soziale Rechte bei
ME/CFS (Sozialarbeiterin), Balance zwischen Aktivität und Ruhe
und Entspannungsübungen zum Umgang mit Schmerzen etc.
(Physiotherapeut).
Die interdisziplinäre
Poliklinik berät andere Fachleute wie Hausärzte, Ärzte in
Lokalkrankenhäusern, Hauskrankenpfleger, Pflegeheime,
Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Sozialarbeiter usw. Alle
Lokalkrankenhäusern seit 2010 ist vom Gesundheitsrat aufgetragen
worden, ein Angebot für ME/CFS-Patienten zur Diagnose und
Behandlung zu entwickeln. Nur die schwierigsten Fälle dürfen an
das Zentrum in Oslo überwiesen werden. Das zwingt die Kliniken
und Ärzte dazu, etwas über ME/CFS zu lernen. Es werden auch
Fortbildungskurse für Ärzte angeboten.
Die Bettenabteilung für
Schwerkranke ist geplant, aber bislang an der Finanzierung
gescheitert. Hier soll durch bauliche Maßnahmen und
Räumlichkeiten auf die speziellen Bedürfnisse von Patienten mit
Licht- und Geräuschempfindlichkeit eingegangen werden sowie ein
speziell trainierter Stab von Pflegern und Behandlern aufgebaut
werden.
In der anschließenden
Diskussion betonte Dr. Müller, dass es auch in Deutschland
solche Patienten gäbe – er würde selbst einige zuhause betreuen
–, dass aber keinerlei Angebote für sie gäbe und hier dringend
etwas geschehen müsse. |