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    Artikel des Monats
Juli 06 Teil I

    Was ist die Ursache des CFS?

    Nach fast 20 Jahren Forschung und 3.000 Studien kennen wir noch immer die Ursache des Chronic Fatigue Syndroms nicht. Ein bekannter CFS-Experte liefert hier eine dringend notwendige historische Perspektive, gibt einen Überblick über das vorhandene Wissen und beleuchtet vielversprechende neue Forschungsansätze.

    Von  

    Antony L. Komaroff, MD, 

    Harvard Medical School 

     

    Übersetzung aus dem Englischen von Regina Clos

    hier als pdf-Datei

     

    Seit 20 Jahren behandele ich Patienten mit Chronic Fatigue Syndrom (CFS) und erforsche die Krankheit. Sie können sich vorstellen, wie oft ich gefragt wurde, was die Ursache des CFS sei. Darauf antworte ich oft: „Wollen Sie die kurze oder die lange Antwort hören?” Die kurze Antwort lautet: „Wir wissen es nicht.“ Die lange Antwort folgt hier.

    Warum kennen wir die Ursache nicht?

    Bevor ich unser Wissen um die Ursache des CFS zusammenfasse, sollten wir einen Schritt zurücktreten und eine breitere Perspektive einnehmen. Es scheint für viele Menschen überraschend zu sein, dass die Ärzte trotz 20 Jahren Forschung die Ursache des CFS noch immer nicht kennen. Aber das ist keineswegs überraschend. Die Ursachen einer Krankheit – und zwar jeder Krankheit – sind vielschichtig. Es ist niemals so, dass die Wissenschaftler einen plötzlichen Durchbruch erzielen, der uns von totaler Unwissenheit zu vollkommener Erleuchtung bringt. Der Prozess des Verstehens verläuft in sehr kleinen Schritten, bei denen wir einen Fuß vor den anderen setzen, und der Weg dabei ist lang.

    Tatsächlich verstehen wir die zentralen Ursachen der meisten schweren Erkrankungen nicht wirklich. Dazu gehören fast alle Formen von Krebs, Diabetes und Arteriosklerose – der Ursache von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Aber wir wissen heute sehr viel mehr über all diese schweren Erkrankungen – und auch über CFS –, als das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war, weil wir öffentliche und private Gelder in die Forschung investiert haben.

    Nehmen wir beispielsweise Krebs. Vor etwa 30 Jahren hat die Regierung der USA beschlossen, dem Krebs den Krieg zu erklären und begann, sehr viel mehr Gelder in die Krebsforschung zu stecken. Dreißig Jahre später wissen wir die grundlegende Ursache der meisten Krebsarten noch immer nicht. Aber wir wissen sehr viel mehr, als wir früher wussten, und dieses Wissen hat bereits zu einer starken Verbesserung von diagnostischen Möglichkeiten und der Behandlung geführt. Vor dreißig Jahren wussten wir die Antworten auf beinahe alle der naheliegenden Fragen noch nicht. Warum entwickeln sich normale Zellen zu Krebszellen und fangen an, sich unkontrolliert zu vermehren? Wenn sich ein Tumor bildet – wie bekommen die Zellen die Nährstoffe, die sie brauchen, um zu überleben und sich zu vermehren? Erkennt der Körper, dass sich ein Krebsgeschwür ausbildet? Wenn dem so ist, versucht er, den Krebs zu bekämpfen? Wenn dem so ist, gibt es dann Möglichkeiten, die natürliche Abwehr des Körpers dagegen zu steigern? Warum verlassen Krebszellen manchmal das Organ, in dem sie sich gebildet haben und streuen in andere Bereiche des Körpers? Gibt es auf Krebszellen Ziele, die es auf gesunden Zellen nicht gibt? Wenn dem so ist, können wir dann Medikamente entwickeln, die an diesen Zielen angreifen?

    In anderen Worten: vor 30 Jahren – genauso wie all die Tausende von Jahren zuvor, in denen man den Krebs erkannt und zu behandeln versucht hat – wussten die Ärzte beinahe nichts darüber. Heute wissen wir, dass der Krebs mit der Entartung einer Zelle aufgrund von Veränderungen in speziellen Genen beginnt, und es wurden bereits wirksame Medikamente entwickelt, die auf diese Gene abzielen. So zum Beispiel Glivec/Gleevec bei chronischer myelogener Leukemie und Herceptin bei Brustkrebs. Wir wissen, dass sich bildende Tumore in der Lage sind, über das Wachstum von Blutgefäßen [Angiogenese] ihre Versorgung mit Blut zu sichern, das ihnen die Nährstoffe für die Vermehrung der Krebszellen liefert und dass Medikamente wie etwa Avastin [einem Angiogenesehemmer] entwickelt wurden, die diese Blutzufuhr absperren.

    Haben wir deshalb den Krebs besiegt? Nein. Sind wir nahe an der Heilung der meisten Krebsarten? Nein, aber manche Krebsarten können geheilt werden und andere sind jetzt zu einer chronischen Erkrankung geworden, während sie vor 30 Jahren noch ein Todesurteil waren. Wenn ich oder ein Mitglied meiner Familie an einer Krebsart erkranken würden, über die wir noch nicht viel wissen - würde mich das dazu anregen, aus dem allgemeinen Fortschritt zu lernen, den wir bei anderen Krebsarten gemacht haben? Vielleicht nicht, aber vielleicht sollte ich daraus lernen.

    Die Lehren, die man aus einem Gebiet der Forschung gezogen hat, finden häufig ganz unerwartet Anwendung auf anderen Gebieten. Beispielsweise ist eines der heißesten Gebiete der experimentellen Krebsbehandlung eine erst kürzlich entdeckte Technik mit dem Namen RNA-Interferenz [(RNAi)-Methode] Bei Tieren hat die RNA-Interferenz bereits das Wachstum mancher Tumorarten verlangsamt. Ist die RNA-Interferenz von Wissenschaftlern entdeckt worden, die ein Heilmittel gegen Krebs suchten? Nein. Sie wurde zufällig entdeckt, und zwar von Pflanzenbiologen, die die Verkaufszahlen von violetten Petunien erhöhen wollten, indem sie ihnen eine noch leuchtendere Farbe verliehen. Sie hätten sich niemals träumen lassen, dass ihr Experiment irgendetwas mit der Behandlung von Krebs zu tun haben würde. Aber das tut es nun.

     

    Ist CFS eine wirkliche Erkrankung, und was wissen wir über ihre Ursache?

    CFS ist zum ersten Mal vor 20 Jahren beschrieben worden, auch wenn ähnliche Erkrankungen mit unterschiedlichen Namen schon seit Jahrhunderten beschrieben werden. Vor zwanzig Jahren wurde CFS genauso wie heute durch eine bestimmte Kombination von Symptomen definiert. Symptome werden subjektiv erlebt. Es gibt keine Möglichkeit, dass ein Familienmitglied, ein Chef oder ein Arzt das Leiden eines Menschen nachweisen kann, der sagt, er leide an Erschöpfung, Schmerzen, Konzentrationsschwierigkeiten oder anderen Symptomen.

    Wenn Menschen über die Ursache einer Erkrankung sprechen, dann beziehen sie sich auf objektive Beweise im Sinne einer messbaren Anomalie des Körpers, einer Anomalie, die der Kranke nicht selbst fabrizieren oder fälschen kann. Aus meiner Sicht besteht die größte Veränderung unseres Verständnisses von CFS in den vergangenen 20 Jahren darin, dass es nun unzählige Beweise für messbare Anomalien im Körper der CFS-Patienten gibt, wie sie in diesem Artikel und dem gesamten Heft, in dem dieser Artikel erscheint, zusammengefasst werden. Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass die Debatte darüber, ob CFS eine wirkliche Krankheit sei, endgültig vorbei ist.

    Die Identifikation objektiver, messbarer biologischer Anomalien bei CFS-Patienten bedeutet jedoch nicht, dass wir die Ursache der Krankheit kennen. Ist das etwas Ungewöhnliches? Nicht im Mindesten. Das ist bei allen Krankheiten der Fall. Vor dreißig Jahren wussten wir, dass im Erwachsenenalter auftretender Diabetes durch hohe Blutzuckerwerte und Symptome gekennzeichnet ist, die durch diese hohen Blutzuckerwerte hervorgerufen werden. Dies war eine wirkliche Krankheit. Aber warum war der Blutzuckerspiegel so hoch? Vor zwanzig Jahren hatten wir dann eine erste, unvollständige Antwort: weil viele Körperzellen gegenüber der Wirkung des Insulins, nämlich der Senkung des Blutzuckers, resistent waren. Das war eine äußerst wichtige Einsicht. Aber sie rief gleich die nächste Frage hervor: warum sind die Zellen dem Insulin gegenüber resistent? Vor 10 Jahren dann gelangten wir zu einer vollkommen unerwarteten Erkenntnis. Fettzellen, von denen man bis dahin dachte, sie seien schlicht ein Aufbewahrungsort für Fett, sind tatsächlich kleine Chemielaboratorien. Fettzellen produzieren ständig Hormone, die den Stoffwechsel im gesamten Körper beeinflussen, einschließlich der Resistenz gegenüber Insulin. Mit anderen Worten, wir haben heute ein sehr viel tieferes Verständnis davon, was beim Erwachsenendiabetes schief läuft, aber dennoch kennen wir die Ursache nicht wirklich.

    Die zehn wichtigsten Entdeckungen zur Biologie des CFS

    In den vergangenen 20 Jahren haben wir sehr viel über die Biologie des Chronic Fatigue Syndroms erfahren. Hier die zehn wichtigsten Forschungsergebnisse:

    1.       CFS ist keine Form der Depression und viele Patienten mit CFS haben keine diagnostizierbare psychiatrische Erkrankung. Wie bei den meisten chronischen Krankheiten, etwa Multipler Sklerose und Lupus erythematodes, werden auch viele CFS-Patienten aufgrund der Auswirkungen der Erkrankung auf ihr Leben depressiv, aber die meisten Studien kommen zu dem Schluss, dass die große Mehrheit der CFS-Patienten vor Beginn ihrer Erkrankung nicht unter einer Depression gelitten hatte.

    2.       Bei CFS liegt ein Zustand chronischer leichter Immunaktivierung vor. Es gibt Belege über aktivierte T-Zellen, die Aktivierung von Genen, die eine Aktivierung des Immunsystems widerspiegeln und erhöhte Werte von bestimmten Substanzen des Immunsystems, die man als Zytokine bezeichnet. Sie haben die Funktion von chemischen Botenstoffen zwischen den Zellen.

    3.       Es gibt umfangreiche Belege für eine stark erniedrigte Funktion der natürlichen Killerzellen, weißen Blutzellen, die bei der Bekämpfung viraler Infektionen eine wichtige Rolle spielen. In verschiedenen Studien gibt es unterschiedliche Aussagen darüber, ob es bei CFS-Patienten eine erhöhte Anzahl von natürlichen Killerzellen gibt.

    4.       Bei der Untersuchung des Gehirns von CFS-Patienten mit Hilfe von Magnetresonanztomographien wurden Anomalien in der weißen Gehirnsubstanz gefunden. Dabei handelt es sich um kleine Signalanomalien (kleiner als 1cm) genau unterhalb der Großhirnrinde, dem äußersten Bereich der Gehirnhemisphären.

    5.       Es wurden Anomalien im Stoffwechsel des Gehirns entdeckt, die sich bei SPECT- und PET-Untersuchungen zeigen. Nur wenige Patienten wurden nach einiger Zeit erneut untersucht, aber bei diesen schien es so, als ob die Anomalien kommen und gehen und hauptsächlich die Schläfenlappen des Gehirns betreffen.

    6.       CFS-Patienten leiden unter Anomalien in zahlreichen neuroendokrinen Systemen im Gehirn, insbesondere unter einer Aktivitätsminderung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse), aber auch der Hypothalamus-Prolaktin-Achse und der Hypothalamus-Somatotropin-Achse.

    7.       Kognitive Beeinträchtigungen treten bei CFS-Patienten sehr häufig auf. Die am häufigsten dokumentierten kognitiven Anomalien sind: Schwierigkeiten mit der Effektivität der Informationsverarbeitung, mit dem Gedächtnis und/oder der Aufmerksamkeit.

    8.       Anomalien des autonomen Nervensystems wurden von zahlreichen Forschern unabhängig voneinander gefunden. Dazu gehören: die Unfähigkeit des Körpers, den Blutdruck mehrere Minuten aufrechtzuerhalten, nachdem die betroffene Person aufsteht, anomale Reaktionen der Herzschlagfrequenz im Stehen und eine ungewöhnliche Ansammlung von Blut in den Beinvenen. Einige Studien fanden auch ein geringes Blutvolumen.

    9.       Bei CFS-Patienten findet man eine gestörte Genexpression bei den Genen, die für den Energiestoffwechsel wichtig sind. Jede Zelle verbraucht Energie, um zu überleben und ihre Funktion zu erfüllen. Die Energie wird aus bestimmten natürlichen Substanzen gewonnen, die in jeder Zelle durch Enzyme verarbeitet werden, und diese beruhen auf den Nährstoffen, die über die Nahrung aufgenommen werden. Diese Enzyme werden von bestimmten Genen gesteuert.

    10.   Es gibt Belege für eine häufiger auftretende latente Aktivierung von Infektion mit verschiedenen Herpesviren und Enteroviren bei CFS-Patienten. Zu diesen Herpesviren gehören das Epstein-Barr-Virus, das HHV-6-Virus und das Cytomegalievirus, jedoch nicht jene Herpesviren, die Bläschen im Lippen- und Genitalbereich hervorrufen. Andere infektiöse Agens können ebenfalls CFS auslösen. Dazu gehören das Bakterium, das die Lyme-Borreliose verursacht, das Ross-River-Virus und das Q-Fieber.

     

    Inwieweit sind die Anomalien bei CFS reproduzierbar?

    Die Wissenschaft schreitet üblicherweise voran, indem ein Team von Wissenschaftlern Forschungsarbeiten durchführt und anschließend einen Bericht über die Ergebnisse schreibt. Lektoren gehen diesen Bericht durch und entscheiden, ob er veröffentlicht wird oder nicht. Dann versuchen andere Wissenschaftler, die vom ersten Team beschriebene Forschung zu wiederholen und die Ergebnisse zu reproduzieren.

    Manche äußern sich sehr skeptisch darüber, wenn eine Studie an CFS-Patienten eine biologische Anomalie findet, die von einer zweiten nicht bestätigt werden kann. Die Skeptiker argumentieren dann, dass, wären die Anomalien und die Krankheit tatsächlich existent, dann jede Studie zum gleichen Ergebnis kommen sollte. Tatsächlich aber ist das bei den meisten Krankheiten fast nie der Fall. Es gibt endlose Kontroversen in der Medizin, die auf der Tatsache beruhen, dass verschiedene Studien an Patienten mit der gleichen Krankheit zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.

    Warum ist das so? Warum ist es so schwierig, diese Erkrankung zu untersuchen? Es gibt dafür mehrere Gründe:

    ¢      Menschen mit ein und derselben Krankheit werden nicht immer einheitlich ermittelt. CFS ist durch eine Gruppe von Symptomen definiert, aber in den meisten Studien zum CFS wurden keine formalen und validierten Instrumentarien eingesetzt, um das Vorliegen und die Schwere eines jeden Symptoms zu ermitteln. Das bedeutet, dass die Personen, die in der einen Studie als CFS-Patienten diagnostiziert werden, nicht der Personengruppe entsprechen, die in einer anderen Studie als solche diagnostiziert wurden.

    ¢     Die "gleichen" Messinstrumentarien sind in Wirklichkeit gar nicht immer die gleichen. So gibt es beispielsweise viele Studien, in denen das Gehirn von CFS-Patienten mit Hilfe von SPECT-Tomographien untersucht wurde. Man könnte annehmen, dass die eine SPECT-Scan-Untersuchung der anderen gleicht, aber das ist nicht der Fall. Die Radionukleide, die den Patienten bei der Untersuchung injiziert werden, können verschieden sein, der Zeitpunkt der Injektion kann unterschiedlich sein und die Apparate können eine unterschiedliche Auflösung haben, was zu unterschiedlicher Genauigkeit führt.

    ¢      Studien müssen von ausreichender Größe sein, um verlässliche Ergebnisse zu liefern. Es ist daher nicht überraschend, dass, je größer die Anzahl der untersuchten Patienten ist, desto verlässlicher wahrscheinlich die Ergebnisse der Studie sind. Kleine Studien können zu fehlerhaften Ergebnissen führen – einfach aus Zufallsgründen. Manche CFS-Studien, insbesondere diejenigen, bei denen kostenintensive Tests eingesetzt werden, sind relativ klein.

    ¢      Krankheiten neigen zu Schwankungen, und bei den meisten CFS-Patienten verändern sich die Symptome von Tag zu Tag. Die Messung von biologischen Parametern an einem Tag kann durchaus andere Ergebnisse bringen wie die gleiche Messung ein paar Tage später.

    Deshalb sollten wir nicht erwarten, dass alle klinischen Studien zu den gleichen Schlüssen kommen. Die Frage ist nicht, ob jede Studie oder jeder Patienten in jeder Studie an jenem Tag, an dem die Untersuchung stattfand, eine bestimmte Anomalie aufweist. Die Frage ist vielmehr, ob die überwiegende Mehrheit der veröffentlichten Studien und der in diesen Studien erfassten Patienten diese Anomalie aufweist. Zeigt die überwiegende Mehrheit der veröffentlichten Belege eine bestimmte Anomalie bei CFS-Patienten signifikant häufiger auf als bei Patienten mit anderen Erkrankungen, die Erschöpfung verursachen, oder bei gesunden Kontrollpersonen? Aus meiner Sicht zeigt die Mehrheit der veröffentlichten Forschungsbelege klar und deutlich eine Menge neurologischer und immunologischer Anomalien bei CFS auf.

    Anomalien des zentralen Nervensystems

    In der Mehrzahl der Studien, in denen das Gehirn von CFS-Patienten mit Hilfe von Magnetresonanztomographien (MRT) untersucht wurde, fand man kleine, verstreute Bereiche von Signalanomalien in der weißen Gehirnsubstanz. Wenn man vergleichbare Untersuchungen an Tieren zugrunde legt, kann man darauf schließen, dass es sich bei diesen Signalanomalien wahrscheinlich um aktive Entzündungs- und möglicherweise Entmarkungsherde handelt.

    In der Folge durchgeführte Studien mit anderen bildgebenden Untersuchungsverfahren, die eher die Gehirnchemie als die Anatomie des Gehirns abbilden – insbesondere SPECT, PET und funktionelles MRT – haben ganz generell ebenfalls Anomalien aufgezeigt.

    Das Gehirn ist der Sitz vieler Hormone, die die Organe des endokrinen Systems im gesamten Körper beeinflussen, etwa die Nebennierenrinde. In den frühen 1990er Jahren berichtete ein Team der National Institutes of Health der USA über eine bei CFS-Patienten auftretende Anomalie der neuroendokrinen Achse, die als Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse) bezeichnet wird. Die Mehrheit der anschließend durchgeführten Studien bestätigen dieses Ergebnis und fanden relative niedrige Werte des Nebennierenrindenhormons Cortisol. Es wurden auch andere Arten von neuroendokrinen Anomalien nachgewiesen.

    Die Mehrzahl der Studien zur Wahrnehmung haben bei Patienten mit CFS Anomalien gefunden. Zu den Anomalien, die durchgängig berichtet werden, gehören Schwierigkeiten mit der Effektivität der Informationsverarbeitung, mit dem Gedächtnis und/oder Aufmerksamkeitsstörungen, die nicht durch eine gleichzeitig bestehende Depression erklärt werden können.

    Viele Studien haben Anomalien im autonomen Nervensystem gefunden – dem Teil des Gehirns, des Rückenmarks und des peripheren Nervensystems, das für die Kontrolle der Vitalfunktionen des Körpers zuständig ist, also etwa der Herzschlagfrequenz, dem Blutdruck, der Körpertemperatur, der Schweißproduktion, der Atmungsfrequenz und der Kontraktionen von Darm und Blase.

    Und schließlich hat eine Studie, die Ende 2005 veröffentlicht wurde, einen charakteristischen „Fingerabdruck“ natürlich vorkommender Moleküle (zumeist Proteine) in der Rückenmarksflüssigkeit von CFS-Patienten gefunden. Die Rückenmarksflüssigkeit spiegelt viel eher als Blut die Vorgänge im Gehirn wider.

    Anomalien des Immunsystems

    Die Anomalien des Immunsystems, die an anderer Stelle in diesem Heft zusammengefasst werden, stimmen überein mit einem Immunsystem, das glaubt, einen ständigen, wenn auch geringfügigen Angriff gegen einen fremden Eindringling fahren zu müssen. Dazu gehören beispielsweise eine erhöhte Anzahl von aktivierten T-Killer-Zellen (eine Aktivierung, die sich an bestimmten chemischen Verbindungen auf der Oberfläche dieser Zellen widerspiegelt), die Aktivierung von Genen, die bei der Immunabwehr und der Aktivierung verschiedener natürlicher Substanzen des Immunsystems, der sogenannten Zytokine, eine wichtige Rolle spielen.

    Es gibt eine Reihe anderer Anomalien, die man jedoch nicht so einfach als Teil einer allgemeinen Aktivierung des Immunsystems charakterisieren kann, aber sie wurden von verschiedenen Forschern berichtet, die unterschiedliche Gruppen von CFS-Patienten untersucht hatten. Die überwiegende Zahl von Studien, die hier Anomalien gefunden haben, belegt, dass diese tatsächlich existieren.

    Es ist nicht geklärt, ob diese Anomalien des Immunsystems eine Reaktion auf ein infektiöses Agens widerspiegeln oder ob sie auf ein Immunsystem hinweisen, dem es an einer ausreichenden Menge der Substanzen fehlt, die normalerweise die Immunantwort dämpfen oder abstellen. Insbesondere die Anomalien der HPA-Achse, die oben erwähnt wurden, führen oft zu niedrigen Cortisolwerten, und Cortisol dämpft die Immunantwort.

     

    Eine Theorie über die Ursache des CFS

    Die Symptome des CFS werden als Symptome des Gehirns wahrgenommen, und ich vermute auch, dass die Mehrzahl durch Anomalien im Gehirn verursacht wird. Aber was verursacht diese Anomalien? Ich wäre erstaunt, wenn es dafür nur einen einzigen Grund gäbe. Die Forschungsliteratur legt deutlich folgende Möglichkeiten nahe: 1) die Auswirkungen einer chronischen Aktivierung des Immunsystems und der damit verbundenen Substanzen, der Zytokine, auf die Funktion der Gehirnzellen; 2) eine chronische Infektion des Gehirns durch Mikroorganismen, die eine ständige Reaktion des Immunsystems des Gehirns auslösen; 3) eine organische Schädigung des Gehirns. Ein chronisch aktiviertes Immunsystem, wie es sich in den verschiedensten Bluttests manifestiert und/oder ein lokal im Gehirn aktiviertes Immunsystem könnte eine der beiden folgenden Möglichkeiten oder gar beide gleichzeitig widerspiegeln: 1) das Vorliegen eines Mikroorganismus wie etwa eines Virus’, der eine Immunantwort ausgelöst hat, um diesen zu bekämpfen; 2) ein Immundefekt, der dazu führt, dass das Immunsystem unnötigerweise aktiviert wird, teilweise vielleicht verursacht durch die relativ niedrigen Cortisolwerte.

    Letztendlich wird man, so glaube ich, aufzeigen können, dass Mikroorganismen als Ursache für viele, aber nicht alle Fälle von CFS eine Rolle spielen. Ich wäre überrascht, wenn hier nur ein neuartiger Mikroorganismus beteiligt wäre. Ich vermute eher, dass das Problem durch viele Organismen ausgelöst wird, die alle die Fähigkeit haben, der vollständigen Beseitigung durch das Immunsystem zu entgehen und die damit das Ziel einer ständigen, leichten Reaktion des Immunsystems sind.

     

    Und wie geht es weiter?

    Vor zwanzig Jahren noch, zu Beginn der letzten Welle des Interesses an CFS, hatten wir nur eingeschränkte Instrumentarien, um eine Erkrankung wie diese zu verstehen. Im Jahr 2006 verfügen wir in der Forschung jedoch über leistungsfähige neue Technologien. Neuere bildgebende Verfahren zur Untersuchung des Gehirns erlauben es uns, die Aktivität des Gehirns besser als jemals zuvor zu studieren. Neue Technologien in der Molekularbiologie ermöglichen uns die Untersuchung der Genaktivität innerhalb der zirkulierenden Zellen des Immunsystems und mit einer Genauigkeit nach infektiösen Agens zu suchen, die vor zwei Jahrzehnten noch nicht möglich war.

    Wir sind immer noch weit davon entfernt, die Ursachen des CFS zu verstehen. Andererseits sind wir in den letzten 20 Jahren ein großes Stück vorangekommen. Damals hatten die meisten Forscher und Ärzte noch nie etwas von CFS gehört, und die wenigen, die schon mit dieser Krankheit zu tun hatten, wussten wenig darüber. Die Forschung der vergangenen 20 Jahre, die zum Teil von der CFIDS Association unterstützt wurde, hat aufgezeigt, dass es sich um eine wirkliche Krankheit handelt und hat uns den Weg gewiesen, wo wir nach ihren Ursachen suchen müssen. Das ist ein eine bedeutende Errungenschaft.

    *********

    * Wir danken dem Autor Anthony L. Komaroff und der CFIDS Association für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung und Veröffentlichung auf dieser Website.

    Dieser Artikel erschien ursprünglich in einem Sonderheft zu Wissenschaft und Forschung der Zeitschrift der größten Patientenorganisation der USA, der CFIDS Association of America.

    The Science & Research of CFS

    THE CFIDS CHRONICLE

    Special Issue 2005-2006

    © Copyright 2006 by the CFIDS Association of America Inc.

    Das Heft kann in englischer Sprache hier bestellt werden.

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