Alles
hat seine Zeit: Nüchternheit hat ihre Zeit. Träume haben ihre Zeit.
Visionen haben ihre Zeit. Alles braucht seine Zeit. Marcel Proust
suchte nach der verlorenen Zeit. Uns fehlt oft die Zeit. Hat er seine
gefunden? Manchmal haben wir zu viel Zeit und sie vergeht einfach
nicht. Dann versuchen wir sie totzuschlagen. Aber wenn einem die
Stunde schlägt, dann steht die Zeit still und es verschlägt dir den
Atem.
Es
kommt mir vor, mit CFS/ME, dem Chronic Fatigue Syndrome/ Myalgic
Encephalopathy, zu deutsch: Chronisches Erschöpfungssyndrom /
Myalgische Enzephalopathie, von dem unser Buch handeln wird, verlangsamt
sich so das Leben, dass Freunde und Bekannte der Kranken,
die früher in der gleichen Zeit lebten, im Vergleich zu ihrem
jetzigen Tempo in eine andere Zeit voran getrieben sind. Sie liefen mit
dem Glück davon, oder auch mit ihrem geschenkten Gaul, den sie dafür
hielten. Man kann die Zeit nicht zurück drehen und jetzt leben die
anderen, die Freunde von gestern in einer anderen, einer parallelen
Welt. Selbst wenn sie die Kranken anfassen gibt es kaum noch Berührungspunkte,
und sie können ihre Welt nicht mehr wirklich „begreifen“. Ihr
Zeitstrom reißt sie ohnehin schnell wieder weiter und im Bruchteil
einer Sekunde haben sie den Kontakt mit dem „Jenseits“ der Kranken
schon wieder verloren.
Wer
stundet wem die Zeit? Und welche Zeit ist gestundet? Wer taucht
auf, wer geht fort, die Kranken oder die Gesunden? Gehen sie in eine
andere Zeit oder eine andere Welt, bedeutet es Vernichtung oder
Erlösung,
Fortkommen auf neuen Wegen oder Stagnation und eingeschlossen sein?
Ist nur die Zeit gestundet, die vergehen muss bis ein Heilmittel
auftaucht, das die Kranken erlöst, wiederherstellt, bis die
Wissenschaft das Rätsel CFS/ME löst? Oder wurde ihnen die Zeit
gestundet,
verlangsamt, auch geschenkt, eine Zeit außerhalb der Wirklichkeit, der
Wirklichkeit der steten Betriebsamkeit, des von einer Wichtigkeit zur nächsten
Hastens, von einem Sachzwang zum nächsten, haben sie irgendwie auch
einen Ort erhalten, an dem sie mehr erfahren über sich selbst, ist es
auch eine Chance, wesentlicher zu werden, heraus zu finden, wie sie
wirklich leben wollen, neue Erkenntnisse zu sammeln in einer Zone
menschlicher Grenzerfahrungen? Werden sie eine neue Chance mit neuer
Gesundheit bekommen, um neu gewonnene Erkenntnisse umzusetzen, näher an
sich selbst zu leben? Oder driften sie im Sog der Symptome nur immer
weiter von sich selbst weg, verlieren sich und verwirren sich in immer
tieferer Selbstentfremdung, im Schmerz der Stigmatisierung, der
endlosen Verletzungen und Missverständnisse,
in Spiegelgefechten mit ihrer Wut und ihrem Schmerz, mit der Wut
und Abwehr der anderen?
Viele
Fragen, auch viele Projektionen, sogar romantische Vorstellungen löst
diese Krankheit aus, bei den Betroffenen und bei ihren Angehörigen, bei
Bekannten und bei Fremden. So mancher beneidet heimlich diejenigen, die
durch ihre Erkrankung aus den Zwängen der Gesellschaft hinaus
katapultiert werden. Wer alles verloren hat, scheint
eine neue Freiheit im Elfenbeinturm gefunden zu haben. So ist
manchmal die Reaktion, die die Kranken erhalten, sogar Eifersucht,
Missgunst, unterschwellige Aggressivität. Das körperliche Leiden wird
nicht „(für) wahrgenommen“. Gesehen wird jemand, der ganz normal
aussieht, also „doch wohl nichts hat“, und dennoch aus dem
Arbeitsleben ausgeschieden ist oder nur noch wenig arbeitet und also
doch wohl „jede Menge Zeit“ haben muss. Die Folge: Stigmatisierung,
Ausgrenzung, Diffamierung, das ist für CFS/ME–Patienten eine
zunehmende, zentrale Erfahrung, und diese Erfahrung macht stumm. Wer
diffamiert und schlecht behandelt wird, fängt an sich zu schämen, zu
verstecken, sich schuldig zu fühlen. Eine nicht anerkannte Behinderung
löst keine Reaktionen von Unterstützung aus sondern Isolation und
Schweigen. Es ist schwer ein solches Schweigen zu durchbrechen, vor
allem allein. Und es ist schwer, sich weiter zu entwickeln, wenn für
die eigene Wahrheit kein Platz ist, wenn der offene Austausch mit dem
Umfeld blockiert ist. Betroffene suchen nach Auswegen sich weiter
mitteilen zu können, finden zu einander und tauschen sich untereinander
aus. Selbsthilfegruppen gibt es heute zu vielen Themen, auch zu CFS/ME.
Gruppen von Gleichbetroffenen gibt es auch im Internet, für
CFS/ME–Kranke besonders praktisch,
da man schnell vor Ort ist, keine kräftezehrenden Wege überwinden
muss.
Dieses
Projekt ist entstanden im Austausch unter CFS/ME–Betroffenen in
einem Internet–Forum über verschiedene Aspekte der Krankheit. Das
Bedürfnis, sich einfach etwas mit einer für CFS/ME-Kranke passenden
Art von sehr verlangsamter Geselligkeit die Zeit zu vertreiben, war
dabei genau so wichtig, wie spezielle wiederkehrende Themen, die im
Laufe der Krankheit auftauchen, zu besprechen, die individuellen
Erfahrungen und Blickwinkel dazu sowohl einander als auch späteren
Lesern darzustellen. Ich eröffnete hierfür in einem speziellen Forum
für dieses Projekt den Austausch im November 2004 und schloss ihn Ende
Oktober 2005.
Da
es in dem Buch darum gehen soll, das Leben mit CFS/ME ein Stück
begreiflicher zu machen, habe ich als Grundstruktur für die Kapitel
die zeitliche Reihenfolge gewählt, in der die Themen und Entwicklungen
für die Betroffenen auftauchen. Angefangen bei der Suche nach der
Diagnose, den Ursachen und damit Behandlungsansätzen für die
Erkrankung, über die psychischen Verarbeitungsprozesse der Situation,
mit unterschiedlichen Stadien, in denen jeweils verschiedene Gefühle
und Themen dominieren wie das Identitätsthema, das
Beziehungsthema, Fragen neuer Schwerpunktsetzungen im Leben sowie
die Diskussion aktueller Empfehlungen zum Krankheitsmanagement.
Nicht
immer ließ sich der Prozess konsequent nachzeichnen, da manche Themen
sich durchziehen, also zeitlich quer zu allem liegen und dennoch eine
konzentrierte Darstellung in eigenen Kapiteln erforderlich machten. Quer
zu dieser Ordnung liegt auch das Kapitel über CFS/ME bei Kindern und
Jugendlichen. Dieses Thema habe ich nachgeschoben, es war nicht
Gegenstand des Schreibprojektes, da nur Erwachsene mitgemacht haben.
Das Thema scheint mir besonders brisant und wichtig, aber zugleich die
Privatsphäre der Kinder auch in besonderem Maße schutzwürdig, und ich
finde es richtig, wenn Eltern aus diesem Grund keine Berichte über
ihre kranken Kinder veröffentlichen wollen. Umso mehr habe ich mich
jedoch gefreut, zumindest ein Gedicht über die Träume einer durch
das Pseudonym Isabella geschützten Jugendlichen zeigen zu dürfen.
Alle
Texte der Teilnehmer sind jeweils durch deren Namen bzw. Pseudonyme
ausgewiesen, die der Überschrift unmittelbar angefügt sind. Texte mit Überschriften
ohne Namensangabe sind von mir. Um ein Stück der Authentizität des
Austauschs zu erhalten, habe ich z.T. als Form der Veröffentlichung die
ursprüngliche Austauschform im Forum, den „Thread“, zu deutsch: Gesprächsfaden,
beibehalten. Ein Thread bedeutet, dass sich auf eine Frage hin Antworten
in der Reihenfolge des Erscheinens
anschließen, wie in einem Gespräch, nur langsamer. Manchmal kam
eine Antwort nach 5 Minuten, manchmal nach einem Monat. Manche Antworten
kamen erst nach einem Jahr. Das Leben mit CFS/ME nimmt einen anderen
Rhythmus an als das Leben vor der Krankheit hatte. So unterschiedlich wie
die Menschen, die an CFS/ME erkranken und so unterschiedlich wie die
Ausprägungen
der Krankheit bei den verschiedenen Betroffenen sind, so verschieden
sind auch die individuellen Rhythmen und Wege, die jeder für sich findet,
aber manchmal auch einige mit einander entwickeln können.
Oft
kam mir dieses Bild, beim Lesen der Berichte, als säßen die Kranken
draußen im Wartesaal und schauten durch eine Glasscheibe in die Zeit, die
von der anderen Seite ein Spiegel ist, durch den die Gesunden nur sich
selbst sehen, aber nicht die „hinter dem Spiegel“. Können die
Kranken, die von der „anderen Seite“, die Gesunden, die im Strom
der Zeit dahin jagen, einmal verführen, „durch den Spiegel zu gehen“,
um ihnen noch einmal zu begegnen, wirklich und ganz und gar, mit Haut und
Haar? Wird es denen, die nun „in einer Parallelwelt leben“ einmal
gelingen, wieder zurückzukehren auf die andere Seite des Spiegels, heraus
aus der Grauzone zwischen Leben und Tod, und ganz und gar, mit Haut und
Haar, ins Leben wieder einzutauchen, es mit allen Sinnen zu schmecken und
sich noch einmal mitreißen zu lassen von der Flut, vom reißenden Strom
der Zeit, ihrem pochenden, stampfenden, rasenden Rhythmus? Wie werden sie
dann sein? Oder findet sich eine Möglichkeit, dort, jenseits des normalen
schnellen Stroms der Zeit, zu ebenso intensiver Lebendigkeit zu finden,
die nur ein wenig anders aussieht,
vielleicht langsamer? Vielleicht effektiver? Vielleicht
wesentlicher? Was werden sie mitnehmen aus der Zeit „hinter dem
Spiegel“? Werden sie als Gesunde, Genesene hindurch schauen können in das
Land der Parallelwelt, das Land des Lebens mit CFS/ME, wird ihr Blick den
Spiegel durchdringen können? Wird es ein Lächeln sein, das nur sie
kennen, ein Blickpunkt im Auge, von dem aus nur sie etwas sehen, ein
Punkt, der ihrem Sehfeld hinzugefügt wurde?
Dieses
Buch öffnet eine Tür für diejenigen, die mehr wissen möchten über die
Welt hinter dem Spiegel. Wer weiter gehen, wer der Welt hinter dem Spiegel
etwas Zeit schenken will, der sei herzlich eingeladen weiter zu lesen. |