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Verlorene
Stimmen werden laut
30 erschütternde Lebensgeschichten in
„Lost
Voices from a hidden illness“
Wer immer noch zweifelt, dass CFS/ME
eine verheerende Erkrankung ist, der sollte das kürzlich erschienene Buch „Lost
Voices“ lesen. Ungläubigen Verwandten, Freunden, Ärzten und Gutachtern sollte
man dieses Buch mit seinen beeindruckenden Bildern vorlegen, die zeigen, was
diese zerstörerische Krankheit mit jungen Menschen anrichten kann: Aus ehemals
gesunden, lebensfrohen Kindern werden junge Erwachsene, die jahrelang in einem
abgedunkelten Raum in ihren Betten liegen, unfähig zu den einfachsten
Alltagstätigkeiten und vollkommen angewiesen auf die Pflege ihrer Angehörigen.
CFS/ME trifft unterschiedslos,
und die Symptomatik ist so charakteristisch, dass sie schwerlich „im
Internet angelesen“ oder bei jüngeren Menschen durch das Verhalten der
Eltern absichtlich hervorgerufen – also ein sogenanntes
Münchhausen-Syndrom sein kann. |
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Allein die Geschichte des kleinen Ben
straft alle Behauptungen einschlägiger Psychiater Lügen, „falsche
Krankheitsüberzeugungen“ und „dysfunktionales Krankheitsverhalten“ sei die
Ursache. Wie sollte wohl ein drei- oder fünfjähriges Kind mit CFS/ME sich „falsche
Krankheitsüberzeugungen“ aneignen und dann exakt unter den gleichen Symptomen
leiden wie ein Jugendlicher oder ein Erwachsener?
Ben, ein bis dahin gesunder, lebhafter
Junge, erkrankte im Alter von drei Jahren an Windpocken, von denen er sich zwar
schnell erholte, aber in deren Folge er eine weitere Viruserkrankung bekam und
schließlich schwere Symptome entwickelte: überwältigende Schwäche und
Erschöpfung, massive Schlafstörungen in Form von Einschlaf- und
Durchschlafstörungen, massives Schwitzen bei der kleinsten Anstrengung,
Intoleranz gegenüber Sonnenschein und Lärm, beinahe jede Nacht Nasenbluten,
Schmerzen in den Muskeln und schreckliche Angst- und Panikattacken. Alle diese
Symptome wurden verstärkt, wenn Ben sich überanstrengt hatte. Er konnte nicht
mehr in den Kindergarten gehen oder seine Freunde besuchen. Er brauchte drei
Wochen, um sich von einem zweieinhalbstündigen Aufenthalt im Kindergarten zu
erholen – und das bei einem Kind, das vor seiner Erkrankung gerne mit anderen
Kindern getobt hatte und dies an „guten“ Tagen noch immer liebend gerne macht.
„Die Patienten und
Angehörigen, die in Lost Voices zu Wort kommen, sind Helden im
besten Sinne des Wortes. Durch ihre Bereitwilligkeit, sich zu
äußern, konnten wir ein neues Land betreten, eines, das von etwas
Übernatürlichem erfüllt ist – von der Fähigkeit, Schmerzen und
Zurückweisung zu ertragen und von einem kafkaesken, Orwell’schen
Gesundheitssystem stigmatisiert zu werden. Ihr Mut und ihre
lebensbejahenden Geschichten fordern uns zum Handeln heraus. Genauso
wie die Bürgerrechtsbewegung und die Frauenbewegung unsere
Aufmerksamkeit auf die schwerwiegenden Ungleichheiten und die
Notwendigkeit, aktiv zu werden, gerichtet hat, zwingt uns Lost
Voices die Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen mit ME zu
erkennen und uns dem Kampf für eine Heilmethode anzuschließen.“
Leonard Jason,
Vizepräsident der International Association for CFS/ME (www.iacfsme.org) |
Da ist die Geschichte von Anna, die als
Elfjährige erkrankte und nun mit 29 Jahren ihr furchtbar eingeschränktes Leben
beschreibt, – ebenso wie die Schilderungen ihrer beiden Brüder Josh und Oliver
und ihrer Eltern Natalie und Iain. Wie verheerend sich CFS/ME auch auf die
Angehörigen der Patienten auswirkt, wird in dem Buch nur allzu deutlich: Auch
ihre Welt verändert sich vollständig.
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So
schreibt Iain, der Vater von Anna, dass die verständnislosen Reaktionen
von Bekannten, Freunden und sogar Verwandten ihn tief verletzt und
verwirrt haben: „Nach 15 Jahren jedoch habe ich es schließlich mehr
oder weniger akzeptiert, dass die meisten Leute – insbesondere viel
beschäftigte, ‚erfolgreiche’, gebildete Menschen – der Realität von
Menschen wie Anna einfach nicht ins Gesicht sehen können. Sie können
nicht damit umgehen, daran erinnert zu werden, dass sie letztlich ihr
Leben doch nicht unter Kontrolle haben, dass weder noch so harte Arbeit,
noch Geld oder Erfolg ihnen garantieren können, dass sich ihr Leben
bessert, dass sie das Glück erreichen werden, von dem sie denken, es
verdient zu haben. |
Sie wollen nicht daran erinnert werden,
dass ihr Glaube an die Macht der Wissenschaft, durch neue Technologien und neue
Medikamente eine bessere Zukunft zu schaffen, am Ende so unvollkommen und
fragwürdig ist wie jeder religiöse Glaube. Ich habe gelernt, dass wir als
Familie das Schreckgespenst sind, das die Feier stört, eine unwillkommene
Erinnerung an den hohlen Schein so vieler Überzeugungen, von denen unsere
Gesellschaft lebt.“
Annas Mutter Natalie schreibt: „Viele
Nächte habe ich wachgelegen, gequält von Trauer und Sorge um unsere reizende,
hübsche und lebendige 12-jährige Tochter, die da lag und unerträgliche Schmerzen
hatte, Schmerzen, die ich durch nichts lindern konnte, Schmerzen, die so stark
waren, dass sie ihr die Tränen nahmen, dass sie nicht mehr atmen konnte, nicht
mehr sprechen konnte, um uns zu sagen, was mit ihr los war.“
Ihr Bruder Josh schreibt: „Sechzehn
Jahre ist es her, dass ich eine große Schwester hatte, eine schlaue, lustige,
fürsorgliche und liebevolle Schwester - die ihr Bestes tat, um ihre zwei
jüngeren Brüder, rauflustige und wahrscheinlich ziemlich unerträgliche kleine
Brüder, in Schach zu halten. Sie war die älteste und klügste, jeweils die erste,
die etwas Neues erlebte, die erste, die in die Schule ging, die erste, die nach
Frankreich fuhr. Sie war da, um in jenen furchterregenden ersten Schultagen der
Grundschule auf mich aufzupassen, sie war da, um mit ihr zu spielen, fernzusehen
oder um sich an sie zu wenden, wenn man Hilfe und Unterstützung brauchte.
Jetzt ist sie erschöpft, unfähig zu
kommunizieren, mit diesem glasigen Blick der totalen Erschöpfung. Sie hat
schlicht nicht die Energie um zu laufen, geschweige denn, die Treppe zu steigen.
Jetzt kommt es vor, dass ich meine gebrechliche 28-jährige Schwester in meinen
Armen die Treppe hinauf in ihr Zimmer trage. Es dauert oft Wochen oder Monate,
bevor sie sich von der Anstrengung erholt hat, die es für sie bedeutet, wenn sie
sich zwingen muss, einen Arzt aufzusuchen, um die Leute daran zu erinnern, dass
es sie immer noch gibt, immer noch krank nach all den Jahren.“
Annas Geschichte
Es fing im Jahr 1990, als sie zehn Jahre alt war, mit einer schweren
lungenzündungsartigen Infektion an, von der sie sich nie wieder
richtig erholte. Zwei Jahre danach wurde sie nach einigen
Margen-Dar-Infektionen furchtbar krank, mit unerträglichen Schmerzen
in der Brust. Sie war mit ihren 12 Jahren zu krank, um jemals wieder
in die Schule zu gehen oder irgendein soziales Leben zu haben. Ein
Arzt, der Mitglied der Forschungsgruppe Newcastle war, stellte die
Diagnose ME, das von einem Enterovirus Coxsackie B4 verursacht
worden sei. Dies hatte außerdem zur Bornholmer Krankheit und zum
Hashimoto-Syndrom geführt. Der Hausarzt, den wir damals hatten, war
nicht in der Lage, den entsprechenden Behandlungsanweisungen zu
folgen, und seitdem waren die Behandlungen und die Ratschläge, die
Anna erhielt, irgendetwas zwischen unwirksam und katastrophal
–
obwohl sie in dieser Zeit bei vielen Ärzten des National Health
Service (NHS) war, die der Diagnose zugestimmt hatten.
Annas Krankheitsverlauf war schwankend. Langsam machte sie
Fortschritte, und nachdem sie das Lesen wieder gelernt hatte, konnte
sie über einige Jahre hinweg wieder etwas lernen. Aber dann kamen
schwere Rückfälle, wenn sie mal wieder eine Infektion eingefangen
oder zuviel gemacht oder es mit Graded-Exercise-Therapie versucht
hatte oder durch einen Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI
–
einem Mittel gegen Depressionen, d.Ü.) schwere Nebenwirkungen bekam,
die ihre Fähigkeit zu lernen völlig zunichte gemacht haben.
Der letzte und unerwartete schwere Rückfall im Jahr 2005 führte dazu,
dass sie bettlägerig wurde, in einem abgedunkelten Raum lag und zu
schwach war, um sich im Bett ohne Hilfe aufzusetzen und ohne Hilfe
zu essen und zu trinken oder zu verdauen. Die Veränderungen, die das
Virus in ihrem Immunsystem hervorgerufen hatten, führten zu
Überempfindlichkeiten auf die meisten Nahrungsmittel und gegenüber
verbreiteten Chemikalien wie Parfümstoffe, Deodorants, Waschmittel,
Autoabgase etc. Ihre Lärmempfindlichkeit wurde noch stärker, und sie
musste sich sogar von den Mitglieder der eigenen Familie fernhalten.
Sie hatte ständige und oft unerträgliche Schmerzen, die durchs Essen
verstärkt wurden und so nahm sie innerhalb weniger Monate fast 20 kg
ab.
Mit einer besseren Behandlung geht es Anna
jetzt allmählich besser, aber sie hat immer wieder Rückfälle. Sie
kann das Bett verlassen und sich für kurze Zeit ein wenig im Haus
bewegen, und sie hat auch wieder gelernt, ein bisschen zu lesen. Das
Laufen fällt ihr schwer, weil ihr Gleichgewicht und die Koordination
sehr schlecht sind und ihr oft schwindlig ist. Ihre Bewegungen sind
jetzt so steif wie die einer alten Frau, während sie früher elegant
und beweglich und sehr aktiv war. In ganz kurzer Zeit hat sie alle
Energie, die sie hat, verbraucht. Wenn sie mehr als ein paar
Schritte zu laufen versucht, dann führt das zu einer Verstärkung all
ihrer Symptome, insbesondere zu starken Schmerzen, zu Erschöpfung,
zu Sehstörungen, zu Ohrgeräuschen und Schlafstörungen, und das
dauert dann Tage oder gar Wochen an. Sie ist jetzt auf einen
Treppenlift und auf einen Rollstuhl angewiesen. Die stechenden
Schmerzen in ihrer Brust, die schlimmer werden, wurden
diagnostiziert als Folge davon, dass ihr Herz gegen eine entzündete
Stelle an ihrem Herzbeutel reibt, die durch die Ausbreitung des
Virus' verursacht wurde.
Es ist jetzt 16 Jahre her, seitdem sie zu
krank geworden war, um zur Schule zu gehen. Den größten Teil ihrer
Teenagerjahre und ihrer Zwanziger Jahre war sie weitgehend ans Haus
gefesselt. Die meisten ihrer Freunde hat sie niemals oder nur einmal
persönlich getroffen
–
während einer kurzen Phase der Besserung, die von einem schweren
Rückfall gefolgt wurde. Sie ist völlig abhängig von ihrer Familie,
und zwar in allen Aspekten ihres Lebens. Trotzdem ist sie weiterhin
außerordentlich optimistisch und entschlossen, und sie ist äußerst
interessiert an allem, was in der Welt so vor sich geht.
September
2007
Ein Jahr später setzt sich Annas Besserung fort, mit Hilfe und
Behandlung durch ihren Arzt, die auf der Grundlage von Ratschlägen
von Ärzten beruhen, die sich mit ihrer Krankheit gut auskennen. Man
hofft, dass sie sich im Verlauf der nächsten zehn Jahre mit Hilfe
ständiger Behandlung und Versorgung soweit erholt, dass sie auf etwa
60 - 80% der Funktionsfähigkeit eines Gesunden kommt. Leider ist das
eine Prognose, die sich ziemlich von der unterscheidet, die ihr von
Ärzten und Fachärzten mit voller Überzeugung und immer wieder
versprochen wurde, nämlich, dass sie in ein paar Wochen oder Monaten,
in einem, zwei, vier oder sieben Jahren etc. wieder vollständig
gesund sein würde.
(a.a.O., S. 101) |
Die Geschichte von über 30 jungen
Patienten mit schwerem ME/CFS werden, von ihnen selbst und von ihren Eltern,
Geschwistern, Großeltern, Tanten, Freunden und Betreuern geschildert. Drei der
Patientinnen leben nicht mehr – sie sind an den Folgen ihrer Erkrankung
gestorben, darunter auch Sophia Mirza, deren Schicksal auf einer von ihrer
Mutter unterhaltenen Website ausführlich beschrieben wird (www.sophiaandme.org.uk
– siehe auch www.cfs-aktuell.de/juni06_2.htm)
Eingerahmt werden die „verlorenen
Stimmen“, von einem Vorwort von Leonard Jason, einer Einführung mit
Hintergrundinformationen und vier weiteren Beiträgen von selbst betroffenen
Forschern und Aktivisten, u.a. von Anette Whittemore, Mitbegründerin und
Direktorin des im Bau befindlichen Whittemore-Peterson-Institutes zur
Erforschung neuro-immunologischer Erkrankungen in Reno, Nevada.
Das Buch erschüttert und macht zugleich
Mut, den eigenen Kampf aufzunehmen oder fortzusetzen – als Betroffene,
Angehörige oder Aktivistin, denn die Kraft, die die Betroffenen mit ihren
Familien ausstrahlen, ist ansteckend. Lost Voices vermittelt das tröstliche
Gefühl, dass man nicht allein ist mit Schmerz, unendlicher Kraftlosigkeit und
unbeschreiblichem Krankheitsgefühl, mit Isolation und Stigmatisierung – und dass
wir unermüdliche Fürsprecher haben.
Das 120-seitige Buch ist im
DIN-A-4-Querformat in aufwendigem Hochglanzfarbdruck erschienen und wird mit 9
britischen Pfund unter dem Selbstkostenpreis verkauft. Die Texte sind mit
einfachen Englischkenntnissen leicht zu verstehen. Der Band ist reich mit
Fotografien und Zeichnungen illustriert.
Lost Voices
from a hidden illness
For Invest in ME by Natalie Boulton,
Wild Conversations Press for Invest in ME, 2008, ISBN: 978-0-9560266-0-6
Für ca. 11 Euro zu beziehen über die Website von Invest in ME:
www.investinme.org
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