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Was passiert mit Patienten wie Emily Collingridge in Deutschland? Kommentar von Regina Clos und Kommentar zur neuen Leitlinie Somatoforme Störungen Gerade ist in München der viertägige Kongress über Psychosomatische Medizin unter Leitung unsers "Freundes", des Psychosomatikers Peter Henningsen, zu Ende gegangen. Ein näherer Blick darauf gibt eine grausame Antwort auf die Frage, was mit Patienten wie Emily hier geschehen mag - und nach allem, was täglich in Foren von ME/CFS-Patienten berichtet wird, auch tatsächlich geschieht. Beim Studieren des Programms fragte ich mich, ob einer der mehr als 800 Teilnehmer und der zahlreichen Referenten auch einen Gedanken daran verschwendet hat, was mit Menschen geschieht, die eine organische Krankheit haben und aufgrund des Missbrauchs der Psychosomatik als institutionellem und individuellem Abwehrmechanismus im Medizinsystem nicht behandelt werden? Die eine falsche oder gar keine Diagnose bekommen? Die, wie Emily und ungezählte andere ME/CFS-Patienten aufgrund fehlender oder falscher Diagnose in eine noch schwerere Form ihrer Erkrankung rutschen? Deren Beschwerden nicht weiter abgeklärt werden, weil es viel billiger und bequemer ist, zu behaupten, sie hätten kein organisches Korrelat und seien folglich "somatoform" oder "psychosomatisch"? So wie es hier und an vielen anderen Stellen behauptet wird? Die zum Psychologen, Psychiater oder in eine psychosomatische Klinik geschickt werden, statt untersucht und angemessen behandelt zu werden? Denen man weitere Untersuchungen verweigert - Neeeiiiin, natüüürlich nicht aus Kostengründen, sondern weil weitere Untersuchungen sie ja nur in ihren falschen Krankheitsüberzeugungen bestärken und damit die "Somatisierungsstörung" verschlimmern würden? Hat auch nur einer darüber nachgedacht, dass es viele Gründe dafür geben kann, warum "der Arzt (...) jedoch keine organischen Ursachen" findet? (a.a.O.) Dass er vielleicht ungeeignete Untersuchungsverfahren hat, kein Geld für geeignete ausgeben will/darf/kann, er vorhandene Untersuchungsergebnisse nicht richtig deuten kann und die Medizin nicht allwissend ist und noch längst nicht alle Störungen kennt u.v.a.m.? Dass der Schluss, es handele sich automatisch um "funktionelle(n) und somatoforme(n) Körperbeschwerden" (a.a.O.), wenn der Arzt nichts findet, was die Symptome des Patienten erklären kann, nichts weiter als ein logischer Fehlschluss ist, der auf dem Größenwahn beruht, der Arzt, die Medizin wisse alles? Hat auch nur einer darüber nachgedacht, welche psychischen Folgen sich aus einer solchen Fehldiagnose oder mangelnden Diagnose ergeben? Wie Menschen mit ME/CFS und zweifelsohne auch anderen organischen Erkrankungen, die als "somatoform" (= nicht organisch = "psychisch bedingt") klassifiziert werden, täglich traumatisiert werden durch mangelnde Hilfe, Diskriminierung, Fallen- und Alleingelassenwerden in einer Situation absoluter Abhängigkeit und Hilflosigkeit? Ich konnte in dem umfangreichen Programm des Kongresses nicht einen Hinweis auf einen solchen Gedankengang finden. Nicht einer der Referenten, die sich mehr oder weniger auf die Theorie kapriziert haben, dass ungelöste unbewusste Konflikte zu körperlichen Beschwerden und Krankheiten führen (= somatoforme Störung) und folglich als Therapie für diese körperlichen Beschwerden die Aufdeckung und Bearbeitung des Unbewussten des Patienten empfehlen, scheint die Theorie des Unbewussten einmal auf das eigene Handeln bezogen zu haben, d.h. auf den Stellenwert, den das "psychosomatische Denken" in der eigenen Berufspraxis und im Medizinsystem allgemein bekommen hat. Würden sie ihr eigenes Handeln mit den Mitteln der Aufdeckung unbewusster Konflikte und Strebungen untersuchen, also die Methode, die sie als angebliche Heilungsmöglichkeit für kranke Menschen vor sich hertragen, auch auf ihr eigenes Handeln und ihre eigenen Institutionen anwenden, so könnte dies eine erhebliche Verunsicherung ihrer beruflichen Identität nach sich ziehen. Nur allzu verständlich, dass man das vermeiden will - ganz im Gegenteil, wenn man sich die Bilder auf der Kongresswebsite ansieht und die großartigen Titel von Vorträgen und Postern liest, hat man den Eindruck, man findet sich rundum toll und fortschrittlich. Selbstverständlich wird ME/CFS in Deutschland weiterhin als somatoforme Störung abgehandelt. Unser Freund Peter Henningsen und viele seiner Kollegen haben dafür nicht nur mit diesem Kongress und zahlreichen einschlägigen Schriften gesorgt, sondern auch mit den gerade neu herausgekommenen Leitlinien "Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden", die unter Federführung des Herrn Henningsen entstanden sind. (Eine Kritik an diesen Leitlinien finden Sie im Kasten unten.) In einem Bericht des Bayerischen Fernsehens über den Kongress, der mit seinem einleitenden Satz "Psychosomatik - das ist ein körperliches Leiden mit psychischer Ursache" deutlich aufzeigt, wie die Öffentlichkeit und auch viele Ärzte die Sache "verstehen", sagt Henningsen den aufschlussreichen Satz: "Ab einem bestimmten Punkt ist das Suchen nach ärztlicher Hilfe, nach weiteren technischen Untersuchungen, Laboruntersuchungen, nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Das macht es eigentlich immer noch schlimmer nach dem Motto 'zwei Experten, drei Meinungen', da werde ich immer noch weiter verunsichert, und wenn ich kapiere, dass das mir nicht gut tut und mehr darauf achte, was ich in meinem persönlichen Lebensumfeld tun kann, ist schon viel getan." In diesem einen simplen Satz kann man erkennen, worum es bei dem, was "Fachleute" wie Henningsen unter Psychosomatik verstehen und wie die Ideologieproduktion läuft: Ausgangspunkt seiner "Argumentation" ist die bittere Erkenntnis, dass es in der Praxis nicht einfach ist, die Ursachen für die Symptome eines Patienten mit den diagnostischen Mitteln der Medizin zu erkennen und damit evtl. einen Therapieansatz zu finden ("zwei Experten, drei Meinungen"). Dass der Patient in dieser Situation der Verwirrung und Hilflosigkeit nach mehr oder anderer Diagnostik strebt, wird jetzt subtil als auch psychisches Problem definiert (ist "nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems") - und mit dieser geschickten Formulierung wird auch gleich die körperliche Symptomatik, die den Patienten zum Arzt getrieben hat, als offenbar der andere "Teil des Problems", sprich: eines psychischen Problems definiert. Hier geht es wohlgemerkt eben nicht um das, was diese Leute als Totschlagargument immer vor sich herschieben, nämlich um die Binsenweisheit, dass Körper und Seele eine Einheit sind und aufeinander einwirken und man beides berücksichtigen muss - schön wär's, sie könnten das oder würden das tatsächlich tun. Denn dazu müssten sie zumindest ja auch die körperliche Symptomatik berücksichtigen, untersuchen, diagnostizieren und behandeln, aber genau das soll ja nicht mehr geschehen. Sondern es geht - das zeigt der einleitende Satz des BR-Fernsehbeitrags deutlich - darum, körperliche Krankheiten in ihrer "wahren" Ursache als "psychisch" zu definieren. Und schon ist der Boden bereitet für den von Henningsen empfohlenen Ausweg aus dem Dilemma: er empfiehlt statt vertiefter Diagnostik (die bei komplexen Krankheitsbildern unumgänglich ist und die auch die Voraussetzung für einen wahren psycho-somatischen Ansatz wäre, in dem sowohl Psyche als auch Soma berücksichtigt werden) dem Patienten, etwas in seinem "persönlichen Lebensumfeld" zu tun, was auch immer er mit dieser schwammigen Formulierung meint. Sprich: statt ärztlicher Hilfe wird der Kranke auf sich selbst verwiesen. Hilf Dir selbst, sonst hilft Dir keiner. Und das Medizinsystem ist mit dieser perversen Form von "Psychosomatik" ein lästiges Problem los: nämlich, dass man viele Symptome, Störungen und Krankheiten weder ordentlich diagnostizieren noch ordentlich behandeln kann. (Und zwar weder mit organisch-medizinischen noch mit psychologischen Verfahren, geschweige denn, mit einer integrierten Form beider Ansätze.) Was für Multisystemerkrankungen wie ME/CFS, Fibromyalgie, Multiple Chemikaliensensitivität etc. in besonderem Maße gilt, denn dazu ist ein komplexes Wissen darüber nötig, was auf der molekularen Ebene in den vernetzten Abläufen der immunologisch-neurologisch-endokrinen Steuerung passiert und wie man dort heilend eingreifen kann - ein Wissen, was nur wenige Ärzte haben, geschweige denn Psychologen. Auf dem Hintergrund der so produzierten und als "Wissenschaft" deklarierten Ideologie (es gibt ja laut Henningsen "ein kontinuierlich wachsendes, empirisches Fundament" und: "Gegenwärtig haben wir die erfreuliche Situation, dass die Psychosomatik auf festem Grund steht und einen angestammten Platz in der Medizin und im Gesundheitssystem hat." [s. hier]) wird es für ME/CFS-Patienten und viele andere Menschen mit sogenannten medizinisch ungeklärten Syndromen (medically unexplained syndromes) weiterhin nicht dazu kommen, dass diese Syndrome endlich geklärt werden, sondern sie werden mit Hilfe angeblich fortschrittlicher und humaner "Wissenschaft" weiterhin verklärt, den Patienten wird eine angemessene Hilfe und Betreuung verweigert, sie werden weiter alleingelassen, fallengelassen, diskriminiert, falsch behandelt, gar nicht behandelt, weggeschickt - und im Namen der "Psychosomatik" traumatisiert. Großartig! Der Fall Emily Collingridge ist kein Einzelfall und wird es mit einer solchen, das Medizinsystem und die Öffentlichkeit mehr und mehr durchdringenden Ideologie auch nicht bleiben. Wir hören immer öfter von Patienten, die so todsterbenskrank sind wie Emily, die in Psychiatrien eingewiesen und mit Psychopharmaka vollgestopft werden, die "aktiviert" werden, um aufgrund dieser Überlastung in einer schwere Verschlimmerung ihrer Symptomatik zu rutschen bis hin zum Tod. Und was am schlimmsten ist: Kindern und Jugendlichen, die von dieser Krankheit betroffen sind, droht man den letzten Schutz zu nehmen, den sie haben, nämlich ihre Eltern, die sie pflegen und zu beschützen versuchen. Man wirft den Eltern etwa vor, sie hätten ein "psychisches Problem", das für die Krankheit des Kindes verantwortlich sei - die Krankheit sei also ein sogenanntes Münchhausen-by-Proxy-Syndrom oder auf andere mysteriöse Weise der Ausdruck einer seelisch gestörten Familie. Das geht so weit, dass man Eltern beschuldigt, ihre Kinder sexuell zu missbrauchen und qua Amtsarzt eine Untersuchung durch einen Kindergynäkologen verlangt. Daraus leitet man ab, dass die Kinder aus (dem letzten verbliebenen Schutz) der Familie herausgenommen werden müssten, um gesund zu werden. Man droht in der Folge mit Hilfe von Schulbehörden, Jugendämtern und Richtern, den Eltern das Sorgerecht zu entziehen und die Kinder in Psychiatrien und/oder andere Institutionen zwangseinzuweisen, statt die geschlagenen Familien zu unterstützen und den Kindern Raum zu geben, sich zu erholen und sich trotz ihrer schweren Krankheit altersgerecht zu entwickeln und vielleicht sogar zu lernen. (siehe auch Artikel April 3) Mir ist leider nicht nur ein solcher Fall bekannt, und es gibt mit Sicherheit Hunderte, Tausende solcher Fälle, in denen die Kinder eine falsche Diagnose bekommen, keine oder eine falsche Behandlung bekommen und Eltern sich nicht in Selbsthilfestrukturen durchkämpfen und/oder entsprechend informieren konnten. Was muss eigentlich noch geschehen, damit die Öffentlichkeit, die Verantwortlichen in Politik und Medizinsystem auf diesen Skandal aufmerksam werden? Wie viele junge Menschen müssen noch sterben, bevor hier ein Umdenken, überhaupt nur ein WAHRNEHMEN der Realität stattfindet? Welche Tragödien müssen sich noch ereignen, bevor wir in Deutschland auch nur eine einzige Klinik, eine einzige Anlaufstelle für schwer erkrankte ME/CFS-Patienten bekommen? Bevor die wenigen Ärzte, die sich um die Betroffenen bemühen, nicht mehr selbst diskriminiert und als Scharlatane abgetan werden? Bevor Ärzte wie Psychosomatiker begreifen, welches Verbrechen da im Namen der Medizin und der Psychosomatik an schwer kranken Menschen begangen wird? Dass Empfehlungen wie die in den Leitlinien Müdigkeit und den Leitlinien Somatoforme Störungen zum "Umgang" mit Menschen mit ME/CFS, Fibromyalgie, MCS und anderen Multisystemerkrankungen Körperverletzung im Amt sind? Ehrlich gesagt, ich bin wenig optimistisch, dass das in nächster Zukunft geschehen wird. Zu saturiert und etabliert sind die Vertreter einer solchen inhumanen Medizin. Und sie sind die willfährigen Lakaien von Versicherungen und Industrie und merken es oft nicht einmal. Die einen, die Versicherungen aller Art, sparen mit ihren Ideologien Geld (siehe z.B. hier und hier), die anderen, Kliniken und Pharmaindustrie, verdienen daran Geld. Schaut man sich die Liste der Aussteller bei dem Kongress für psychosomatische Medizin einmal an, so bekommt man eine Ahnung davon, was wirklich dahinter steckt. Follow the money - folge der Spur des Geldes. Vielleicht ist der ein oder andere gutgläubige Vertreter dieser psychosomatischen Medizin noch immer der Überzeugung, er würde Teil eines fortschrittlichen, humanen Gesundheitssystems sein, und es mag durchaus sein, dass der ein oder andere tatsächlich dem ein oder anderen Kranken hilft, auf welche Weise und in welchem Ausmaß auch immer. Was wir als Patientenvertreter/innen täglich an grausamen Geschichten von ME/CFS-Patienten zu hören bekommen, spricht jedoch eine andere Sprache. Der Tod von Emily Collingridge, Sophia Mirza, Lynn Gilderdale und zahllosen anderen Patienten - auch zahlreichen namenlosen hier in Deutschland - sind die Folge einer solcherart dehumanisierten Medizin, die sich an vielen Stellen den Mantel der Humanität und Fortschrittlichkeit umhängt, die aber in Wirklichkeit die passende Ideologie für eine moderne und sehr versteckte Form der Euthanasie bereitstellt. Schaut man sich die derzeitigen Entwicklungen in Großbritannien an (weiterer guter Bericht hier), wo aufgrund einer gesetzlichen Neuregelung des Zugangs zu Krankengeldzahlungen und des Einsatzes eines Privatunternehmens (ATOS) zur Beurteilung der Berechtigung ihres Bezugs selbst terminal erkrankte Krebspatienten als arbeitsfähig beurteilt und ihrer mageren finanziellen Unterstützung von wöchentlich rund 80 britischen Pfund beraubt werden, dann kann man sich vorstellen, was demnächst auch auf uns zukommt - und wofür Ideologien wie die genannten dann der wohlfeile Wegbereiter sind. In Großbritannien ist "Welfare" durch den Begriff "Workfare" ersetzt worden, entsprechend dem Motto der Kampagne "Work is good for you" - was einige Patienten an den Schriftzug über dem Tor von Auschwitz erinnert: "Arbeit macht frei". Es kann einem wirklich Angst und Bange werden.
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