An
Prof. Dr.
med. Ferdinand M. Gerlach
Präsident
der DEGAM
c/o
Institut für Allgemeinmedizin
Haus 10 C/1. Stock
Klinikum
der Johann Wolfgang
Goethe-Universität
Theodor-Stern-Kai 7
60590
Frankfurt
Juli 2011
Sehr
geehrter Herr Prof. Gerlach,
mit großer
Sorge habe ich festgestellt,
dass die überarbeitete Version
der Leitlinie Müdigkeit erneut
weit hinter dem aktuellen Stand
der Wissenschaft zum
Krankheitsbild ME/CFS
zurückbleibt.
Die
Leitlinie geht nach wie vor
davon aus, dass ME/CFS eine
somatoforme Störung sei. Als
Therapieempfehlungen werden
dementsprechend ausschließlich
kognitive Verhaltenstherapie und
Aufbautraining genannt und es
wird behauptet, dass beides
wirksame Therapieformen seien.
Dies widerspricht sowohl den
Erkenntnissen seriöser
ME/CFS-Forscher als auch den
Erfahrungen von
ME/CFS-Patienten.
Erneut
haben sich die Autoren der
Leitlinie Müdigkeit fast
ausschließlich an Studien von
Psychiatern wie Simon Wessely,
Peter White, Michael Sharpe,
Kurt Kroenke, Peter Henningsen
etc. orientiert, deren Theorie
des ME/CFS darin besteht, dass
es durch falsche
Krankheitsüberzeugungen und eine
übermäßige Aufmerksamkeit
gegenüber harmlosen
Körpersensationen und daraus
folgender übermäßiger
Schonhaltung und
Dekonditionierung zustande käme.
Wie Ihnen
mit Sicherheit bekannt ist, wird
ME/CFS seit über 40 Jahren von
der WHO als
organisch-neurologische
Erkrankung klassifiziert. In den
aktuellen ICD-10 ist es unter
G93.3 aufgelistet – und nicht,
wie es o.g. Psychiater tun,
unter psychiatrischen
Erkrankungen wie Neurasthenie
o.ä. mit der Klassifizierung
F48.xx einsortiert. Warum
basieren Sie die Leitlinien auf
Theorien über das ME/CFS, die
gegen die
Klassifizierungsrichtlinien der
WHO verstoßen?
Warum
werden zu einer
neuro-immunologischen Krankheit
fast ausschließlich Psychiater
und keine Immunologen,
Neurologen, Endokrinologen und
Infektionsmediziner zitiert, wo
doch eine stattliche Ansammlung
von etwa 5.000 in
Fachzeitschriften
veröffentlichten Studien die
charakteristischen
immunologischen, neurologischen,
endokrinologischen Anomalien und
zahlreiche Infektionen bei
ME/CFS beschreiben? Es scheint,
als ob die Autoren der
Leitlinien keine einzige dieser
Studien berücksichtigt hätten.
Auffallend
ist außerdem, dass die meisten
der zitierten Studien mehr als
10, teilweise 20 Jahre alt sind
und aktuelle Studien in der
Minderheit sind.
Zwar ist es
erfreulich, dass die Kanadischen
Konsenskriterien – die erste
klinische Definition des ME/CFS
– jetzt in die Leitlinie
aufgenommen wurden. Aber sie
wurden weder für das
diagnostische noch für das
therapeutische Vorgehen der
Leitlinie berücksichtigt.
Eine derart
einseitige Darstellung und
Auswahl der wissenschaftlichen
Literatur kann weder im Sinne
der Patienten noch der Ärzte
sein.
Studien,
die die Wirksamkeit eines
Aufbautrainings bei ME/CFS zu
belegen scheinen, sind bei
näherer Betrachtung häufig gar
nicht mit ME/CFS-Patienten
durchgeführt worden, sondern mit
Menschen mit unspezifischen
Erschöpfungszuständen oder
vorwiegend psychogenen
Erschöpfungszuständen.
Patienten
mit schwerem und mittelschwerem
ME/CFS sind aufgrund ihrer
Behinderungen gar nicht in der
Lage, an solchen Studien
teilzunehmen. Diese
Patientengruppe ist dauerhaft
bettlägerig (oft über Jahre
hinweg), ans Haus gefesselt
und/oder auf einen Rollstuhl
angewiesen. Es versteht sich von
selbst, dass diese Menschen an
einer Studie, die körperliches
Training von ihnen verlangt,
nicht teilnehmen können. Sie
sind nicht einmal in der Lage,
die Zentren aufzusuchen, in
denen diese Studien durchgeführt
werden. Eine Studie, bei der die
Mehrzahl der Patientengruppe
unmöglich teilnehmen kann, kann
von daher über dieses
Krankheitsbild auch nur wenig
oder gar nichts aussagen.
Es gibt
zahlreiche Studien aus den
verschiedensten Bereichen der
medizinischen Forschung, die
belegen, dass Aufbautraining die
Krankheitsmechanismen des ME/CFS
anheizt und zu einer akuten
Zustandsverschlechterung sowie
einer Verschlechterung der
langfristigen Prognose der
Patienten führt. Es erscheint
geradezu fahrlässig, dass Sie
solche Studien nicht in der
Leitlinie verarbeitet haben.
Ihre
Therapieempfehlungen zu
körperlichem Aufbautraining
führen nachweislich zu einer
Schädigung von ME/CFS-Patienten
und sind von daher eine
Verletzung der ärztlichen
Sorgfaltspflicht.
Abgesehen
von den körperlichen Schäden
geraten Patienten durch diese
Ihre Empfehlung auch auf der
sozialen und finanziellen Ebene
in große Not. Sie werden von
Rentenversicherern gezwungen,
sich in psychosomatische
Kliniken zu begeben. Andernfalls
droht ihnen der Entzug der
finanziellen Lebensgrundlage.
Patienten, die sich in dieser
existentiellen Notlage in eine
psychosomatische Klinik begeben
müssen, werden durch die hier
verfolgten Therapieprogramme
noch kränker, da sie die Kräfte
eines ME/CFS-Patienten
vollkommen übersteigen.
Ihre
Leitlinie trägt auch dazu bei,
dass Patienten in einem
Krankenhaus die elementarsten
Pflegemaßnahmen vorenthalten
werden. Da in Deutschland ME/CFS
noch immer als eine harmlose
psychische
Befindlichkeitsstörung angesehen
wird – auch aufgrund der von
Ihnen verfassten Leitlinie! –
werden schwerkranke,
bettlägerige und teilweise
gelähmte Patienten gezwungen
aufzustehen, z.B. um die
Toilette aufzusuchen. Oftmals
wird diesen Menschen, wenn sie
alleine nicht mehr aufstehen
können, der Gebrauch einer
Bettpfanne verweigert. Die
Menschen erhalten keine Hilfe
beim Waschen oder beim Essen.
Ist Ihnen
bewusst, welches enorme
zusätzliche Leid Sie mit Ihren
Empfehlungen bei diesen ohnehin
schwerkranken Menschen
verursachen?
Ich fordere
Sie auf, den Entwurf der
Leitlinie (Stand Juni 2011)
nicht zu autorisieren und dafür
Sorge zu tragen, dass
-
Studien, die die
Schädlichkeit körperlichen
Trainings bei ME/CFS
belegen, in die Leitlinie
mitaufgenommen werden,
Mit
freundlichen Grüßen
Ihre
Unterschrift