Unüberbrückbare Differenzen -
oder: aus Leitlinien werden Leidlinien und aus Ärzten werden
Produzenten von Ideologien, die die Produktion
gesellschaftlicher Unbewusstheit abstützen.
ein Kommentar von Regina Clos
Wir erhielten
als Antwort auf dieses Schreiben am 24.8.2011 eine Email von
Frau Baum, die gerade in ihrer Kürze die unterschiedlichen und
wahrscheinlich unvereinbaren Standpunkte zwischen den
Leitlinienautoren und uns verdeutlicht. Diese Email beginnt mit
dem bemerkenswerten Satz: „Ihre Replik zeigt, dass Sie wirklich
sehr engagiert sind und eventuell auch durch Ihre Erkrankung
bedingt Dinge miteinander vermischen.“
Höre ich da eine Mischung aus Sarkasmus und dem Versuch heraus,
uns mit der Unterstellung, wir würden durch
„unsere Krankheit
bedingt Dinge miteinander vermischen“, für unzurechungsfähig zu
erklären? Will sie uns sagen, dass wir das alles nicht
beurteilen können, weil wir krank sind, und dass es gerade diese
Krankheit ist, die unseren Blick vernebelt?
Nun, womit sie zweifellos recht hat, ist, dass unser Engagement
als „durch unsere Krankheit bedingt“ ist. Hier muss man
ergänzen, dass es vor allem durch die ungewöhnlich schlechte
Lage der Patienten bedingt ist, die bei keiner anderen uns
bekannten Krankheit durch so eklatante Missverständnisse und
Fehleinschätzungen und daraus resultierender Fehlbehandlung und
sozialer Not charakterisiert ist. Da sich in Deutschland nur
eine Handvoll Ärzte und Psychologen für unsere Belange
engagieren, sind wir darauf angewiesen, dies selbst zu tun –
etwas, das uns angesichts unserer Erkrankung äußerst schwer
fällt und den meisten Betroffenen gänzlich unmöglich ist.
Es würde uns freuen, wenn sie und die anderen Autoren der
Leitlinien diesen Aspekt begriffen hätten. Aber sie meinen
wahrscheinlich etwas anderes, etwas, das auch Wessely in seinen
derzeitigen mediengestützten Attacken gegenüber ME/CFS-Patienten
ausdrückt: wir seien ein Haufen uneinsichtiger, aggressiver,
psychisch kranker Menschen, die nicht anerkennen wollen, dass
die Ärzte und Psychiater es besser wissen, was uns fehlt, als
wir, dass sie doch so wohlmeinend und wir unerträglich sind.
Man kann jedoch ganz deutlich erkennen, dass es sicher nicht wir
sind, die hier etwas vermischen. Sind es vielleicht die
Leitlinienautoren und auch viele andere Mediziner, die dem
„biopsychosozialen Modell“ anhängen, die hier – bedingt durch
ihren Beruf und die damit verbundenen Ideologien – etwas
vermischen? Wir haben immer versucht, die Autoren der Leitlinien
auf die unzulässige Vermischung des Symptoms Müdigkeit mit dem
eigenständigen Krankheitsbild ME/CFS hinzuweisen, die wir in der
Leitlinie an vielen Stellen entdecken, sowohl im allgemeinen
Teil, als auch in dem Teil, der sich mit „CFS/ME“ beschäftigt.
Aber das scheinen sie nicht begriffen zu haben. Sonst hätte Frau
Baum nicht erneut betont: „Die Leitlinie beschäftigt sich mit
dem Symptom Müdigkeit in der Hausarztpraxis und enthält nur
einen kurzen Diskurs zu CFS/ME. Ihre Zitate beziehen sich
überwiegend auf den allgemeinen Teil und nicht diesen
Sonderaspekt. Somit sind Ihre diesbezüglichen Äußerungen
unzutreffend.“ Es ist uns vollkommen klar, dass die Leitlinie
sich mit dem breitgefächerten und zunächst unspezifischen
Symptom der „Müdigkeit“ beschäftigt und dass die
Leitlinienautoren die schätzungsweise 300.000 ME/CFS-Patienten
in Deutschland lediglich als „Sonderaspekt“ betrachten, der als
extreme Form der „chronischen Müdigkeit“ verstanden wird. Jedoch
bezieht sich unsere Kritik an diesem Verständnis sowohl auf den
allgemeinen Teil als auch auf den Teil, in dem dieser
„Sonderaspekt“ abgehandelt wird – in beidem wird das
Krankheitsbild, wie sie selbst schreibt, auf der Basis des
„biopsychosozialen Modells“ abgehandelt. Da wir mit der
überwiegenden Mehrheit der ME/CFS-Forscher und –Patienten
weltweit übereinstimmen, wenn wir dieses Modell in Verbindung
mit ME/CFS als falsch und schädlich ablehnen, verstehen wir
nicht, wieso unsere Zitate und „diesbezüglichen Äußerungen
unzutreffend“ sein sollen.
Frau Baum schreibt weiter:
„Wir verbitten
uns auch den unterschwelligen Vorwurf einer Verflechtung mit der
KV Nordrhrein [es war die Ärztekammer Nordrhein)
die erstens nicht bestand und zweitens auch in keiner
Weise einen Interessenkonflikt bedeuten würde.“ Wenn sich das
Vorgehen und die Haltung der Leitlinienautoren von der
unterscheidet, wie sie in dem Schreiben der Ärztekammer Nordrhein zum
Ausdruck kommt, dann können wir das nur begrüßen. Denn diese
Haltung erscheint uns als zutiefst unethisch und mit der
ärztlichen Sorgfaltspflicht nicht vereinbar.
Eine Verflechtung der britischen Hauptvertreter der „biopsychosozialen Schule“ Simon Wessely, Peter White und
Michael Sharpe mit der Versicherungsindustrie und verschiedenen
Ministerien (Verteidigung, Arbeit und Renten, Gesundheit) ist
jedoch als Interessenkonflikt anzusehen, denn diese Herren
beraten die genannten Institutionen und Unternehmen dahingehend,
wie sie mit Hilfe des „biopsychosozialen Modells“ berechtigte
Ansprüche schwer kranker Menschen (und nicht nur die von
ME/CFS-Patienten!) abschmettern können. Diese Verflechtung und
die sich daraus ergebenden klaren Interessenkonflikte sind
hinreichend in dem Buch von Martin Walker (Skewed) (1) und auch
in zahlreichen anderen Schriften belegt.
Wir würden uns natürlich freuen, wenn es hierzulande keine
solche Verflechtung von Ärzten/Psychiatern und der Industrie
bzw. staatlichen Institutionen und damit auch keine
Interessenkonflikte gäbe. Davon ist aber leider nicht
auszugehen.
Es ist sicher die ehrliche Überzeugung von Frau Baum und
Kollegen, wenn sie schreibt: „Als engagierten Hausärzten ist es
uns ein wichtiges Anliegen, Patienten und die Gesellschaft vor
Diagnostik und Therapie zu schützen, die keinen vernünftigen
Wirknachweis hat.“ Wenn dem so ist, dann raten wir ihr und ihren
Leitlinienkollegen jedoch erneut dringend an, vor der
unreflektierten therapeutischen Empfehlung von kognitiver
Verhaltenstherapie und körperlicher Aktivierung bei ME/CFS zu
warnen. Denn beide Verfahren haben bei diesem Krankheitsbild in
der Tat „keinen vernünftigen Wirknachweis“, selbst wenn sie das
bei unspezifischen Müdigkeitszuständen haben mögen. Genau darauf
haben wir mit zahlreichen Studien, die wir ihnen vorgelegt
haben, versucht hinzuweisen – aber diese Studien wurden
ignoriert bzw. als nicht evidenzbasiert abgeschmettert.
Die Erfahrung von Tausenden, von Zehntausenden Patienten, die
berichten, dass ihnen kognitive Verhaltenstherapie in Bezug auf
ihre Krankheit nichts genützt habe, die allmählich ansteigende
körperliche Aktivierung, die ihre engen Grenzen oft bei weitem
überschreitet, hingegen schwer geschadet hat, zählt hier nicht.
Es zählen auch all die Studien nicht, die belegen, dass und wie
die ohnehin vorhandenen Krankheitsmechanismen auf
immunologischer, neurologischer und endokriner Ebene durch
körperliches Training erst recht angeheizt werden und dass sich
die Effekte körperlicher Belastung bei ME/CFS-Patienten
signifikant von denen bei Gesunden unterscheiden. Ein solch
enges Verständnis von Evidenz erklärt die Erfahrung von
Patienten und die solide Arbeit zahlreicher Wissenschaftler
schlicht und einfach für nicht beachtenswürdig.
In den Leitlinien ist nicht einmal der Hinweis darauf
aufgeführt, dass viele Patienten über Schäden durch körperliche
Aktivierung berichten. Insofern mag die obige Aussage von Frau
Baum ihrer Überzeugung von dem entsprechen, was sie und ihre
Kollegen tun ("...Patienten und die
Gesellschaft vor Diagnostik und Therapie zu schützen, die keinen
vernünftigen Wirknachweis hat.“), sie entspricht aber leider nicht der Realität. Wir
würden uns freuen, wenn sie ihrem eigenen Anspruch genüge tun
würden, der auch in diesem Satz zum Ausdruck kommt:
„Wir haben auch keine Probleme damit, unsere Aussagen zu
revidieren, wenn neue und solide Studienergebnisse dies geboten
erscheinen lassen.“ Das freut uns sehr. Allerdings freut uns
weniger, dass sie offensichtlich die von uns vorgelegten Studien
und Schriften, die zum größten Teil peer-reviewed in
renommierten medizinischen Fachzeitschriften erschienen sind,
dennoch offensichtlich als unsolide betrachten. Wir haben unsere
diesbezüglichen Argumente bereits ausführlich dargelegt und
möchten sie hier nicht wiederholen. Nach allen Erfahrungen im
Leitlinienprozess glauben wir nicht, dass wir die Haltung der
Leitlinienautoren über das, was solide („evidenzbasiert“) und
was nicht solide ist, durch noch so überzeugende Studien
beeinflussen können.
Schön, dass Frau Baum so offen und ehrlich bekennt:
„Wir gehen
immer vom bio-psycho-sozialen Modell aus.“ Genau das ist das von
uns vielfach beklagte Problem. Dieses biopsychosoziale Modell
ist eine sehr einseitige, wenn auch leider in Kreisen der
Medizin und Psychiatrie verbreitete Sichtweise, die den
Tausenden von biomedizinischen Forschungsartikeln eklatant
widerspricht. Letztere werden demgemäß von der
„biopsychosozialen“ Schule, der sogenannten „Wessely-School“
einschließlich ihrer Anhänger in Deutschland ignoriert – unserer
Erfahrung nach zum großen Schaden der ME/CFS-Patienten. Dass die
Vorstellungen der biopsychosozialen Schule den Patienten in
vielfacher Weise schaden – auf der medizinischen,
psychologischen und sozialen Ebene – haben wir uns im Übrigen
nicht ausgedacht, sondern wir haben lediglich das wiedergegeben,
was von Tausenden, wenn nicht Zehntausenden von ME/CFS-Patienten
und ihren Patientenvertretern (unter ihnen auch erfahrene Ärzte
und Forscher) weltweit öffentlich kundgetan wird.
Es liegt uns fern, eine
„strenge Trennung in psychisch versus
somatisch“ zu propagieren, so wie Frau Baum es uns in ihrem
Schreiben unterstellt – und wie es auch Wessely und seine
Anhänger uns immer wieder unterschieben wollen, um uns für
unzurechnungsfähig zu erklären. Ganz im Gegenteil haben wir
immer wieder darauf hingewiesen, welche verheerenden Folgen es
gerade auch auf der psychischen und sozialen Ebene hat, die
somatischen Aspekte des ME/CFS zu verkennen und falsche
therapeutische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wir haben
jedes Jahr zahlreiche Selbstmorde zu beklagen haben, weil
Menschen mit ME/CFS ihr durch keine ärztlich-therapeutische
Maßnahme gelindertes Leiden und vor allem die
Verständnislosigkeit von Ärzten und sozialem Umfeld, die soziale
Diskriminierung und finanzielle Verarmung nicht mehr ertragen
haben, die sie über Jahre und Jahrzehnte zu erleiden hatten,
ohne dass es einen Funken Hoffnung gegeben hätte oder gibt, dass
sich daran etwas ändern würde. Von den Toten, die wir aufgrund
falscher und/oder fehlender Behandlung zu beklagen haben und dem
Leid, das dadurch auch bei Angehörigen erzeugt wird, sprechen
wir hier gar nicht.
Wir können Frau Baum deshalb nur zustimmen, wenn sie schreibt:
„Eine strenge Trennung in psychisch versus somatisch ist
medizinisch falsch und wird unseren Patienten nicht gerecht.“
Wir haben nicht nur im Leitlinienprozesse immer wieder versucht,
genau darauf hinzuweisen – auf diese enge Verknüpfung. Denn
diese biopsychosoziale Schule berücksichtigt eben diese beiden
Aspekte gerade nicht, sondern ignoriert den somatischen – und
damit logischerweise auch die Wechselwirkung zwischen beiden
Elementen. Das ist ja das Problem. Wenn man einen Aspekt von
zweien verleugnet, kann man auch keine Wechselwirkung
wahrnehmen.
Im nächsten Satz widerspricht sie der Schlussfolgerung, die die
Anhänger der biopsychosozialen Schule jedoch immer wieder ziehen
und mit der sie belegen wollen, dass wir an einer somatoformen
(also dem Grunde nach psychischen) Erkrankung leiden:
„Die
Wirksamkeit einer Verhaltenstherapie beweist somit auch
keineswegs, dass eine rein psychische Erkrankung vorliegt.“ Mit
dieser Schlussfolgerung hat sie in der Tat recht. Auch das ist
etwas, das aus den von uns vorgelegten Studien und anderen
Schriften hervorgeht. Kognitive Verhaltenstherapie kann durchaus
bei der Krankheitsbewältigung helfen, hat aber noch in keinem
einzigen Fall ME/CFS geheilt. Dies geht u.a. aus der Studie des
belgischen Gesundheitsministeriums hervor, die die Ergebnisse
der entsprechenden therapeutischen Interventionen nach Jahren
ihres Einsatzes bei „CFS“ im belgischen Gesundheitssystem
überprüft haben.
Außerdem ist es nicht die Methode der kognitiven
Verhaltenstherapie oder anderer psychologischer Verfahren an
sich, die wir ablehnen, ganz im Gegenteil, sondern es ist ihr
unreflektierter Gebrauch und die von Frau Baum so richtig
beschriebene unzulässige Schlussfolgerung. Und es ist die
aufgrund der biopsychosozialen Schule verbreitete Annahme, dass
auch ME/CFS (und nicht nur sicherlich tatsächlich vorkommende
psychogene Erschöpfungszustände) auf falschen
Krankheitsüberzeugungen beruhe, die durch kognitive
Verhaltenstherapie ausgemerzt werden müssten, damit der Weg für
eine „erfolgreiche“ körperliche Aktivierung zur Bekämpfung der
(durch falsche Krankheitsüberzeugungen hervorgerufenen)
Dekonditionierung frei sei.
In der Tat wäre es wichtig, den von ME/CFS betroffenen
Patienten auch eine psychologische Begleitung anzubieten – die
jedoch auf dem Wissen des Therapeuten über die organische Natur
des Krankheitsbildes beruhen muss und als sekundäre Maßnahme
neben der als primär zu betrachtenden medizinischen Behandlung
eingesetzt werden kann. Es wäre wünschenswert, wenn man den
ME/CFS-Patienten über eine biomedizinische Behandlung ihrer
Erkrankung hinaus auch Hilfen anbieten könnte, mit den sozialen
und psychischen Folgen ihrer schweren Erkrankung fertig zu
werden. Deshalb liegt es uns fern, psychologische Verfahren als
zusätzliches therapeutisches Angebot zu verteufeln – etwas, das
uns fälschlicherweise immer wieder unterstellt wird. Auch hier
sind es nicht wir, die etwas vermischen. Denn nahezu alle
ME/CFS-Patienten haben irgendein psychotherapeutisches Verfahren
durchlaufen – was jedoch zu ihrem großen Leidwesen keine große
Auswirkung auf ihre körperliche Krankheit hatte.
Wenn psychotherapeutische Verfahren jedoch, so wie das derzeit
nicht nur im deutschen Medizinsystem der Fall ist, als
„Abfalleimer“ für alles dienen, was der Haus- oder auch Facharzt
nicht diagnostizieren kann oder will und nicht behandeln kann
oder will, wenn das an sich hilfreiche und einst
fortschrittliche Element der Psychosomatik nurmehr zum
individuellen und institutionellen Abwehrmechanismus verkommt,
der die Unzulänglichkeiten des Medizinsystems verdeckt und
abstützt, dann haben wir in der Tat etwas dagegen. Denn damit
verkehrt sich der humane Ansatz der Psychosomatik in sein
Gegenteil. Er wird zum Instrument, schwerkranken Menschen eine
ärztliche Behandlung bzw. Begleitung und die entsprechende
soziale Absicherung zu verweigern und sie obendrein noch als
„unverdiente Kranke der Gesellschaft und unseres
Gesundheitswesens“ zu diskriminieren.(2)
Nach all den Versuchen, unsere Argumentation für falsch,
krankheitsbedingt verwirrt und wissenschaftlich unsolide zu
erklären, versucht Frau Baum es nun auch noch auf diese Weise,
uns das Recht abzusprechen, die Interessen von ME/CFS-Patienten
zu vertreten: „Sie sind durch die von Ihnen vertretene
Selbsthilfegruppe legitimiert, aber nicht durch die Patientenschaft insgesamt.“ Auch hier können wir
ihr nur
zustimmen: selbstverständlich haben wir niemals den Anspruch
erhoben, für die von Müdigkeit betroffene „Patientenschaft
insgesamt“ zu sprechen. Ganz im Gegenteil: Wir haben uns immer
bemüht, darauf hinzuweisen, dass wir „nur“ für den Teil der in
den Leitlinien unter dem groben Raster „Müdigkeit“ erfassten Patientenschaft sprechen, die unter dem eigenständigen
Krankheitsbild ME/CFS leidet – und die u.E. eigentlich gar nicht
zu dieser Patientenschaft der „Müden“ gehört.
Wenn man eine sehr weit gefasste Definition des „CFS“ verwendet
– beispielsweise die empirische Definition der CDC von Reeves et
al. – dann erhält man eine Prävalenzrate von 2,5% der
Bevölkerung. Vielleicht haben wir immer noch nicht genügend
herausgestellt, dass wir niemals den Anspruch erhoben haben, für
diese 2,5% zu sprechen. Uns ging es immer um diejenigen, die
vielleicht ein Zehntel oder etwas mehr dieser 2,5%-Gruppe
ausmachen, nämlich jenen 0,24% bis 0,42% der Bevölkerung, die
entsprechend der beiden großen epidemiologischen Studien in den
USA und Großbritannien auf der Basis der Fukuda-Kriterien am
klassischen ME/CFS leiden – und aufgrund derer wir hier in
Deutschland von etwa 300.000 Betroffenen ausgehen.
Wir haben niemals bestritten, dass der überwiegenden Mehrzahl
der nach dem biopsychosozialen Modell selektierten „Müden“
möglicherweise durch kognitive Verhaltenstherapie und
körperliche Aktivierung geholfen werden kann. Wir haben
lediglich auf die zahlreichen Studien hingewiesen, die belegen,
dass der von uns vertretenen Patientengruppe, nämlich der
schätzungsweise 0,24%-0,42% der Bevölkerung, die am klassischen
ME/CFS leidet, in der Regel geschadet, aber nicht geholfen wird.
Um ihre Kompetenz und die Richtigkeit der therapeutischen
Empfehlungen für die „Müden“ herauszustellen, schreibt Frau
Baum: „Letztere [‚die Patientenschaft insgesamt’] sehen wir in
unselektierter Weise in unseren Hausarztpraxen. Dort wurde auch
die Ursprungsversion der Leitlinie erfolgreich getestet und
erhielt sehr positive Rückmeldungen von Ärzten und Patienten.“
Das glauben wir ihr sofort – es beweist aber leider gar nichts
in Bezug auf ME/CFS-Patienten und ist mit Sicherheit auch nicht
evidenzbasiert. Denn was heißt „sehr positive Rückmeldungen von
Ärzten“ und „erfolgreich“ in diesem Zusammenhang? Es ist
aufgrund der o.g. Zahlenverhältnisse, nach denen schätzungsweise
nur einer von zehn „chronisch Müden“ tatsächlich an ME/CFS
leidet, durchaus möglich, dass die Ärzte in den Hausarztpraxen
mit den in den Leitlinien vorgeschlagenen Verfahren der
kognitiven Verhaltenstherapie und der körperlichen Aktivierung
diese bei neun von zehn „chronisch Müden“ „erfolgreich getestet“
haben. Und der/die eine von zehn, bei dem/der die Verfahren nicht
erfolgreich waren, wird mit Sicherheit nicht wieder in der
Hausarztpraxis auftauchen, in der ihm/ihr nicht geholfen wurde.
Auch das kann man aus der Sicht des Hausarztes als Erfolg
betrachten. Er wird nicht länger von „therapieresistenten“
Patienten belästigt, die im übrigen von der biopsychosozialen
Schule als die „unverdienten Kranken unserer Gesellschaft“
bezeichnet werden.
Im Übrigen zielte unser Engagement im Leitlinienprozess genau
darauf ab, dass Hausärzte die „Patientschaft der Müden“, die sie
zunächst in „unselektierter Weise“ in ihren Praxen sehen,
insofern „selektieren“ lernen, dass sie z.B. die darin
enthaltene Gruppe der ME/CFS-Patienten unterscheiden können und
angemessenen Behandlungsansätzen zuführen können – die eben
anders aussehen, als bei dem „Rest“ der zunächst „unselektierten Patientenschaft“.
Und zum Schluss noch eine vergleichsweise unbedeutende
Anmerkung: Als Einwand gegen unsere Bitte, uns als
Patientenvertreter und nicht als Selbsthilfegruppe zu
bezeichnen, schreibt Frau Baum:
„Patientenvertreter können nach unserer Auffassung durch
parlamentarische Organe oder auch Körperschaften des
öffentlichen Rechts benannt werden, nicht aber durch
Interessensvertretungen wie Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder
immer nur einen kleinen und nicht repräsentativen Teil der
Betroffenen umfassen.“
Dieses formale Argument widerlegt in keiner Weise, dass wir
tatsächlich die Interessen der von ME/CFS betroffenen Patienten
vertreten. Und dass wir eine ganze Menge dieser Patienten hinter
uns haben, und zwar nicht nur in Deutschland, dürfte Frau Baum nicht
zuletzt an der regen Beteiligung der Betroffenen an unserer
Aktion, Herrn Gerlach einen Offenen Brief zuzusenden,
gesehen haben.
Wenn Frau Baum schreibt:
„Wir verzichten aber bewusst darauf, zu
Ihren Argumenten erneut und detailliert Stellung zu nehmen.“
dann bedauern wir das in der Tat. Denn das spiegelt – genauso
wie ihre gesamte Email – das Problem wider, auf das wir immer
wieder hinweisen: Die Mehrheit der Ärzte hört uns einfach nicht
zu. Sie hält sich für überlegen, alles wissend und den Patienten
für inkompetent und krankheitsbedingt unzurechnungsfähig.
Immer wieder hören wir von Ärzten und Psychologen, die genau das
tun, nämlich ihren Patienten zuzuhören, dass es eigentlich ganz
einfach sei, das Krankheitsbild ME/CFS anhand der authentischen
und charakteristischen Schilderungen der Betroffenen zu erkennen
– und von unspezifischen „Reeves’schen“ Müdigkeits-Zuständen zu
unterscheiden. Man braucht dazu nicht einmal evidenzbasierte
Biomarker, so sagen uns die Kliniker, sondern lediglich etwas
klinische Erfahrung und die Bereitschaft, dem Patienten
zuzuhören und seinen Schilderungen Glauben zu schenken. Die
Kenntnis der Kanadischen bzw. Internationalen Konsenskriterien
kann dann zur Validierung des diagnostischen Verdachts
eingesetzt werden.
Diese Ärzte und Psychologen sind jedoch nach unserer leidvollen
Erfahrung eher die Ausnahme. Ein Ausweg daraus wäre, wenn man
uns nicht ständig, wie Frau Baum das bereits im ersten Satz
ihrer Email tut, implizit für unzurechnungsfähig und inkompetent
erklärt, indem sie schreibt, dass wir „eventuell auch durch Ihre
Erkrankung bedingt Dinge miteinander vermischen“.
Wir können uns übrigens nicht daran erinnern, im
Leitlinienprozess in irgendeine Art des therapeutischen
Verhältnisses zu Frau Baum oder den anderen Leitlinienautoren
eingetreten zu sein, die sie in die Rolle einer
diagnostizierenden Ärztin mir oder uns gegenüber gebracht hätte
und sie legitimieren würde, eine solche „Diagnose“ abzugeben.
Auch in dieser Hinsicht vermuten wir, dass das Problem der
Vermischung – nämlich der Rollen – hier eher auf Seiten der
Leitlinienautoren zu finden ist. Wir gingen bislang davon aus,
dass wir im Leitlinienprozess andere Rollen haben, und zwar als
Berater, Frau Baum und Kollegen für die Seite der Ärzte und wir
für die Seite der Patienten.
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(1) Martin J Walker: Skewed: Psychiatric Hegemony
and the Manufacture of Mental Illness in Multiple Chemical
Sensitivity, Gulf War Syndrome, Myalgic Encephalomyelitis and
Chronic Fatigue Syndrome (Paperback - Aug 2003)
(2) "Those who cannot be fitted into a scheme of objective
bodily illness yet refuse to be placed into and accept the
stigma of mental illness remain the undeserving sick of our
society and our health service" ("ME. What do we know - real
physical illness or all in the mind?" Lecture given in October
1999 by Michael Sharpe, hosted by the University of Strathclyde
(transcript)). Siehe http://www.meactionuk.org.uk/Quotable_Quotes_Updated.pdf
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