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    Artikel des Monats September 2011 Teil 3

    Protest gegen neue Leitlinie Müdigkeit -  Reaktion der DEGAM und Antworten des Bündnis ME/CFS

    Sie haben vielleicht auch an der Protestaktion des Bündnis ME/CFS gegen die neue "Leitlinie Müdigkeit" teilgenommen und einen Offenen Brief geschickt oder selbst einen Brief formuliert. Wir haben über Rückmeldungen in Foren etc. erfahren, dass mehrere Hundert Briefe bei Prof. Gerlach eingegangen sein müssen. Nachdem der Brief auch noch ins Englische übersetzt und in internationalen Foren zum Versenden aufgefordert wurde, hat Prof. Gerlach auch aus Australien und anderen Ländern/Kontinenten Post bekommen.

    Und wir haben jetzt einen Antwortbrief (hier als pdf-Datei) bekommen, um dessen Veröffentlichung uns die Autoren gebeten haben. Wir kommen dieser Bitte gerne nach, denn dadurch werden die unterschiedlichen Standpunkt sehr deutlich. Und Sie finden auch unseren Antwortbrief auf diese Antwort: hier als pdf-Datei.

    Auf diesen Antwortbrief unsererseits erhielten wir eine Email von Frau Baum, aus der die Differenzen klar hervorgehen. Einen Kommentar - "Unüberbrückbare Differenzen" -von Regina Clos zu dieser Email finden Sie hier.

    Und die Distanzierung des Bündnisses ME/CFS von der neuen Leitlinie Müdigkeit, von der wir hoffen, dass sie in die Leitlinie mit aufgenommen wird, finden Sie unten.

    Fatigatio steigt aus der Protestaktion gegen neue DEGAM-Leitlinien Müdigkeit aus

    Mit einer überraschenden Email an die anderen Bündnis ME/CFS-Mitglieder und einer weiteren überraschenden Email an Frau Baum von der DEGAM hat sich der Fatigatio ohne vorherige Diskussion oder Ankündigung eines solchen Schrittes von der Protestaktion (Offener Brief und Distanzierungsschreiben an die DEGAM) distanziert. Mehr dazu hier oder hier als pdf-Datei.

    Bündnis ME/CFS distanziert sich von der „LL Müdigkeit“

    Bündnis ME/CFS distanziert sich von der „LL Müdigkeit“

    Das Bündnis ME/CFS sieht sich gezwungen, sich von der Sichtweise der LL Müdigkeit zum Krankheitsbild ME/CFS in den Bereichen Assoziation mit seelischen Störungen und psychosozialen Belastungen, der Epidemiologie, der Definition und Diagnose (auch bezüglich der NICE-Guidelines), der Ätiologie und insbesondere der Therapieempfehlungen zu distanzieren. Die LL basiert überwiegend auf dem Ansatz, dass Patienten mit ME/CFS durch falsche Krankheitsüberzeugungen eine daraus resultierende Dekonditionierung entwickeln und damit selbst eine negative Prognose zu verantworten haben. Die LL ignoriert die Tatsache, dass bei ME/CFS-Patienten zahlreiche biologische Anomalien nachgewiesen wurden, wie Entzündungsprozesse, immunologische Störungen, Störungen im Gehirn, Störungen der Energiegewinnung in den Mitochondrien, Infektionen und andere gravierende Auffälligkeiten. Ebenso wird nirgends in der LL darauf hingewiesen, zu welch großer Beeinträchtigung die Krankheit ME/CFS führen kann – etwa 20% der Betroffenen sind über Jahre hinweg ans Bett gefesselt und auf Pflege angewiesen.

    Die überarbeitete Leitlinie spricht ausschließlich vom Symptom der „Müdigkeit“. Andere körperliche und neurologische Symptome finden sich, wenn überhaupt, nur in der Diagnosestellung und den zitierten Leitlinien. Es gibt jedoch bei ME/CFS Symptome, die sich klar von anderen Müdigkeitszuständen unterscheiden. Doch diese sucht man in der LL vergeblich. Auch dass ME/CFS-Patienten nicht aufgrund von „Müdigkeit“ zu Pflegefällen werden, sondern aufgrund schwerwiegender körperlicher Behinderung infolge der vielfach belegten pathophysiologischen Prozesse findet man nirgends in der LL. Leitsymptom bei ME/CFS ist die Zustandsverschlechterung nach körperlicher oder geistiger Aktivität. Diese „post-exertional Malaise“ ist ein klares biologisches Symptom, das in der Internationalen Leitlinie als „neuro-immunologische Entkräftung“ bezeichnet wird. In der Leitlinie Müdigkeit findet sich aber außer in der Tabelle „Falldefinition“ im Kanadischen Konsensdokument kein Hinweis dazu. Die für einen Arzt wichtigen Hinweise auf Medikamentenunverträglichkeiten und Intoleranz gegenüber bestimmten Narkosemitteln und Impfungen werden nicht aufgeführt. Laut LL soll der Arzt seine Patienten über den Hintergrund ihrer „Müdigkeit“ aufklären. Doch dieser wird in der Leitlinie nicht beschrieben und es werden keine Quellen genannt, in denen sich der behandelnde Arzt über die Pathophysiologie des ME/CFS informieren kann.

    Die undifferenzierte Behandlung von ME durch kognitive Verhaltenstherapie und Bewegungstherapie ("graded exercise"), der kein Verständnis der beschriebenen Ursachen von ME/CFS zugrunde liegt und die somit auf die häufig extrem ja für einen Nicht-Betroffenen unvorstellbar geringe Belastbarkeit eines ME/CFS-Patienten keine Rücksicht nimmt, kann zu gravierender, langfristiger und definitiver Verschlechterung des Zustandes führen. Mehrere Studien belegen die Gefahr der Verschlimmerung durch ansteigendes körperliches Training bei ME/CFS. Der Vermerk, dass bei körperlicher Aktivität eine Überforderung vermieden werden muss, ist nicht ausreichend, da dabei angenommen wird, dass eine Aktivierung stattfinden muss, nachdem der Patient mit Hilfe kognitiver Verhaltenstherapie davon überzeugt wurde, eine falsche Krankheitsvorstellung zu haben. In der LL werden also im Gegensatz zu zahlreichen internationalen ME/CFS-Forschern die körperlichen Einschränkungen nicht als Folge der Erkrankung angesehen, sondern die LL geht davon aus, dass die falschen Krankheitsüberzeugungen dem Krankheitsprozess voraus gehen und ursächlich dafür verantwortlich sind.

    Diese Fehleinschätzung hat in der Vergangenheit bei den Patienten schon oft großen Schaden angerichtet. Zahlreiche Studien haben die Wirksamkeit und Ungefährlichkeit von aerobem Training sehr in Frage stellt. Das Weglassen dieser wichtigen Information in der LL und der Patienteninformation verstößt aus unserer Sicht gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht.

    Einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu ME/CFS findet sich in der  Broschüre „Die neueste Forschung zu CFS“ (http://www.cfs-aktuell.de/Komaroff%20cfs%20aktuell.pdf). Der renommierte Harvard-Professor Anthony Komaroff schreibt darin: „Es gibt objektive biologische Vorgänge, die bei Menschen mit CFS anomal verlaufen…  Sie betreffen mit Sicherheit das Gehirn, das zentrale Nervensystem, das autonome Nervensystem, das im Gehirn entspringt und sich dann über die Nerven im gesamten Körper verbreitet, um die vitalen Funktionen des Körpers zu steuern, die Körpertemperatur, die Pulsrate, die Atemfrequenz usw., das Immunsystem, es betrifft den Energiestoffwechsel und die Mitochondrien, welches die kleinen Organellen in jeder Zelle sind, die die Energie für sie produzieren. Es gibt genetische Studien, die die genetischen Unterschiede belegen, …, und dann gibt es schließlich den Zusammenhang zwischen Infektionserregern und dieser Krankheit.“ In dieser Broschüre werden zahlreiche Studien zitiert, um die genannten Auffälligkeiten zu belegen und die mit den Kanadischen Konsenskriterien übereinstimmen. Angaben der oben aufgeführten  wissenschaftlich belegten biomedizinischen Anomalien wurden in der LL nicht berücksichtigt.

    Die Forschung und klinische Erfahrung der letzten Jahre, die stark auf ein ausgedehntes Entzündungsgeschehen und eine multisystemische Neuropathologie hinweisen, wurden bereits im Kanadischen Konsensdokument von 2003 und jetzt auch im neu veröffentlichten Internationalen Konsensdokument Myalgische Enzephalomyelitis berichtet. (DOI: 10.1111/j.1365-2796.2011.02428.x Myalgic encephalomyelitis: International Consensus Criteria). Dieses internationale Konsensdokument stimmt zudem mit der neurologischen Klassifikation des ME/CFS als G93.3 in den ICD-10 überein. ME/CFS ist  bereits seit 1969 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation als organisch-neurologische Krankheit klassifiziert.

    Die in der Leitlinie zitierten PACE-Trials und andere zitierte Studien überwiegend aus Großbritannien stehen im Widerspruch zur internationalen ME/CFS-Forschung. Außerdem wurden einige der Studien bereits im Vorfeld wegen schwerwiegender methodischer Defizite kritisiert, so z.B. die PACE-Trials. Dort wird behauptet, dass Pacing unwirksam sei, und trotz schwacher Beweislage wird propagiert, dass Aktivierung und kognitive Verhaltenstherapie bei ME/CFS wirksam seien. Doch sogar der leitende Autor der PACE-Trials Peter White hat diese Schlussfolgerung stark relativiert: In einem Brief an Professor Hooper schrieb er ausdrücklich, dass die Studie nicht auf Menschen mit ME/CFS ausgerichtet war. Diese Einschränkung fehlt beim Zitieren dieser Studie.

    In der begleitenden Patienteninformation der DEGAM zu der LL ist man sogar der Meinung, dass die Diagnose ME/CFS gar nicht gestellt werden sollte. Zitat aus der Patienteninformation: „Auch wenn die Diagnose des 'Chronischen Müdigkeitssyndroms' gestellt werden kann, ist das für die Patienten jedoch häufig nur wenig hilfreich. Denn es gibt keine spezielle Therapie, und es besteht die Gefahr, dass diese Menschen sich zurückziehen oder resignieren." Selbstverständlich ist es für die Patienten entscheidend und von außerordentlicher Wichtigkeit, möglichst frühzeitig eine richtige Diagnose zu erhalten, wenn die Diagnosebedingungen (aus unserer Sicht: nach Kanadischem Konsensdokument und künftig nach den Internationalen Konsenskriterien aus dem Juli 2011) erfüllt sind und andere Krankheiten ausgeschlossen wurden. Alles andere ist unverantwortlich, da eine fehlende Diagnose zur Fehl- oder Unterversorgung und zu Stigmatisierungen führt, vorhandene Rentenansprüche nicht gelten gemacht werden können, eine Einstufung über den Grad der Behinderung verweigert wird und schwersterkrankte Betroffene ansonsten im Pflegefall von keiner Versorgungseinrichtung angenommen würden (dies ist heute leider Alltag).


    Die NICE-Guidelines haben nicht, wie in der LL behauptet, eine weite Verbreitung gefunden. Sie finden nur in Großbritannien Anwendung und sind auch dort sehr umstritten. Erfahrene Mediziner und Forscher, britische Patientenorganisationen und Teile der Politik setzen sich seit Einführung dieser Leitlinie für deren Abschaffung ein. Ansonsten finden sie überwiegend nur in deutschsprachigen Ländern Beachtung, die keine eigene Forschung und Versorgungsstrukturen zu ME/CFS haben und dadurch keine eigenen Erfahrungen und Studien besitzen. Davon abgesehen ist die NICE-Guideline weltweit bedeutungslos und steht keineswegs über den Fukuda-Kriterien. In einer Pressemitteilung des norwegischen Gesundheitsministeriums im Juli 2011 wird ebenfalls berichtet, „dass nach Prüfung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse die Nutzung der NICE-Guidelines (Oxfordkriterien) nicht mehr unterstützt werden kann“. Außerdem wird darin empfohlen, die „Behandlung“ mit kognitiver Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen Training nicht mehr länger aus öffentlichen Geldern zu bezahlen und stattdessen Forschungsansätze zu finanzieren, die auf ein Verständnis der Ursachen der Krankheit und auf eine effektive Behandlung abzielen sowie in absehbarer Zeit einen landesweites spezialisiertes Behandlungsangebot für Menschen mit ME/CFS aufzubauen.

    Aus unserer Sicht ist auch eine Klassifizierung nach ICPC2 unter A 04 ungeeignet, um die schwere neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS in ihren Auswirkungen richtig zu klassifizieren. A 04 bedeutet lediglich eine Müdigkeit/allgemeine Schwäche. Diese Klassifizierung stellt eine Fehlkategorisierung von ME/CFS da und wird die schon jetzt katastrophale Versorgungslage in der hausärztlichen Praxis keineswegs ändern. Die Studienlage ist so eindeutig, dass ME/CFS wie bisher eine eigene N-Klassifizierung als neurologische Erkrankung oder sogar eine B-Klassifizierung nach ICPC erfordert. Soweit uns bekannt ist, hat die ICPC weltweit bisher noch keine große Bedeutung. Weltweit laufen Projekte, die dieses System auf Praxistauglichkeit prüfen sollen, es wird zunächst an der Übersetzung in Landessprache gearbeitet und anschließend muss noch eine geeignete Software für die Praxis entwickelt werden. Von „inzwischen in vielen Ländern eingesetzter“ ICPC kann daher noch keine Rede sein.

    Auf das Hinzuziehen von erfahrenen Immunologen, Endokrinologen, Umweltmedizinern und  der Leiterin der einzigen deutschen klinischen Sprechstunde für ME/CFS, Frau Prof. Scheibenbogen, Berliner Charité, wurde von der DEGAM für die Konsensfindung trotz unserer Bitte ganz verzichtet.

    Fazit:

    Als praktischer Leitfaden für die Versorgung von ME/CFS-Patienten in der hausärztlichen Praxis ist die LL Müdigkeit vollkommen ungeeignet. Sie wird weder den Patienten noch den versorgenden Ärzte gerecht.

    Einen guten Überblick über die Erkrankung ME/CFS bietet das Kanadische Konsensdokument, das nicht nur bei der Diagnosestellung hilfreich ist, sondern darüber hinaus etliche in der Praxis bewährte Therapievorschläge nennt. Hierzu gehören Medikamente zur Verbesserung des Schlafes und zur Schmerzlinderung ebenso wie antivirale Therapien und Medikamente, die auf eine Stärkung des Immunsystems abzielen. Das Kanadische Konsensdokument wurde von erfahrenen Klinikern erstellt, bietet Ärzten einen Überblick über Symptome, diagnostische Möglichkeiten und Therapien und ist daher für die Praxis unverzichtbar. Das Kanadische Konsensdokument kann HIER (http://www.cfs-aktuell.de/Konsensdokument.pdf) kostenlos heruntergeladen werden.

    Weitere Informationen zu ME/CFS und die Partner des Bündnis ME/CFS finden Sie unter:

    www.buendnis-mecfs.de

     

    Unüberbrückbare Differenzen -

    oder: aus Leitlinien werden Leidlinien und aus Ärzten werden Produzenten von Ideologien, die die Produktion gesellschaftlicher Unbewusstheit abstützen.

    ein Kommentar von Regina Clos

    Wir erhielten als Antwort auf dieses Schreiben am 24.8.2011 eine Email von Frau Baum, die gerade in ihrer Kürze die unterschiedlichen und wahrscheinlich unvereinbaren Standpunkte zwischen den Leitlinienautoren und uns verdeutlicht. Diese Email beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Ihre Replik zeigt, dass Sie wirklich sehr engagiert sind und eventuell auch durch Ihre Erkrankung bedingt Dinge miteinander vermischen.“

    Höre ich da eine Mischung aus Sarkasmus und dem Versuch heraus, uns mit der Unterstellung, wir würden durch „unsere Krankheit bedingt Dinge miteinander vermischen“, für unzurechungsfähig zu erklären? Will sie uns sagen, dass wir das alles nicht beurteilen können, weil wir krank sind, und dass es gerade diese Krankheit ist, die unseren Blick vernebelt?

    Nun, womit sie zweifellos recht hat, ist, dass unser Engagement als „durch unsere Krankheit bedingt“ ist. Hier muss man ergänzen, dass es vor allem durch die ungewöhnlich schlechte Lage der Patienten bedingt ist, die bei keiner anderen uns bekannten Krankheit durch so eklatante Missverständnisse und Fehleinschätzungen und daraus resultierender Fehlbehandlung und sozialer Not charakterisiert ist. Da sich in Deutschland nur eine Handvoll Ärzte und Psychologen für unsere Belange engagieren, sind wir darauf angewiesen, dies selbst zu tun – etwas, das uns angesichts unserer Erkrankung äußerst schwer fällt und den meisten Betroffenen gänzlich unmöglich ist.

    Es würde uns freuen, wenn sie und die anderen Autoren der Leitlinien diesen Aspekt begriffen hätten. Aber sie meinen wahrscheinlich etwas anderes, etwas, das auch Wessely in seinen derzeitigen mediengestützten Attacken gegenüber ME/CFS-Patienten ausdrückt: wir seien ein Haufen uneinsichtiger, aggressiver, psychisch kranker Menschen, die nicht anerkennen wollen, dass die Ärzte und Psychiater es besser wissen, was uns fehlt, als wir, dass sie doch so wohlmeinend und wir unerträglich sind.

    Man kann jedoch ganz deutlich erkennen, dass es sicher nicht wir sind, die hier etwas vermischen. Sind es vielleicht die Leitlinienautoren und auch viele andere Mediziner, die dem „biopsychosozialen Modell“ anhängen, die hier – bedingt durch ihren Beruf und die damit verbundenen Ideologien – etwas vermischen? Wir haben immer versucht, die Autoren der Leitlinien auf die unzulässige Vermischung des Symptoms Müdigkeit mit dem eigenständigen Krankheitsbild ME/CFS hinzuweisen, die wir in der Leitlinie an vielen Stellen entdecken, sowohl im allgemeinen Teil, als auch in dem Teil, der sich mit „CFS/ME“ beschäftigt.

    Aber das scheinen sie nicht begriffen zu haben. Sonst hätte Frau Baum nicht erneut betont: „Die Leitlinie beschäftigt sich mit dem Symptom Müdigkeit in der Hausarztpraxis und enthält nur einen kurzen Diskurs zu CFS/ME. Ihre Zitate beziehen sich überwiegend auf den allgemeinen Teil und nicht diesen Sonderaspekt. Somit sind Ihre diesbezüglichen Äußerungen unzutreffend.“ Es ist uns vollkommen klar, dass die Leitlinie sich mit dem breitgefächerten und zunächst unspezifischen Symptom der „Müdigkeit“ beschäftigt und dass die Leitlinienautoren die schätzungsweise 300.000 ME/CFS-Patienten in Deutschland lediglich als „Sonderaspekt“ betrachten, der als extreme Form der „chronischen Müdigkeit“ verstanden wird. Jedoch bezieht sich unsere Kritik an diesem Verständnis sowohl auf den allgemeinen Teil als auch auf den Teil, in dem dieser „Sonderaspekt“ abgehandelt wird – in beidem wird das Krankheitsbild, wie sie selbst schreibt, auf der Basis des „biopsychosozialen Modells“ abgehandelt. Da wir mit der überwiegenden Mehrheit der ME/CFS-Forscher und –Patienten weltweit übereinstimmen, wenn wir dieses Modell in Verbindung mit ME/CFS als falsch und schädlich ablehnen, verstehen wir nicht, wieso unsere Zitate und „diesbezüglichen Äußerungen unzutreffend“ sein sollen.

    Frau Baum schreibt weiter: „Wir verbitten uns auch den unterschwelligen Vorwurf einer Verflechtung mit der KV Nordrhrein [es war die Ärztekammer Nordrhein) die erstens nicht bestand und zweitens auch in keiner Weise einen Interessenkonflikt bedeuten würde.“ Wenn sich das Vorgehen und die Haltung der Leitlinienautoren von der unterscheidet, wie sie in dem Schreiben der Ärztekammer Nordrhein zum Ausdruck kommt, dann können wir das nur begrüßen. Denn diese Haltung erscheint uns als zutiefst unethisch und mit der ärztlichen Sorgfaltspflicht nicht vereinbar.

    Eine Verflechtung der britischen Hauptvertreter der „biopsychosozialen Schule“ Simon Wessely, Peter White und Michael Sharpe mit der Versicherungsindustrie und verschiedenen Ministerien (Verteidigung, Arbeit und Renten, Gesundheit) ist jedoch als Interessenkonflikt anzusehen, denn diese Herren beraten die genannten Institutionen und Unternehmen dahingehend, wie sie mit Hilfe des „biopsychosozialen Modells“ berechtigte Ansprüche schwer kranker Menschen (und nicht nur die von ME/CFS-Patienten!) abschmettern können. Diese Verflechtung und die sich daraus ergebenden klaren Interessenkonflikte sind hinreichend in dem Buch von Martin Walker (Skewed) (1) und auch in zahlreichen anderen Schriften belegt.

    Wir würden uns natürlich freuen, wenn es hierzulande keine solche Verflechtung von Ärzten/Psychiatern und der Industrie bzw. staatlichen Institutionen und damit auch keine Interessenkonflikte gäbe. Davon ist aber leider nicht auszugehen.
    Es ist sicher die ehrliche Überzeugung von Frau Baum und Kollegen, wenn sie schreibt: „Als engagierten Hausärzten ist es uns ein wichtiges Anliegen, Patienten und die Gesellschaft vor Diagnostik und Therapie zu schützen, die keinen vernünftigen Wirknachweis hat.“ Wenn dem so ist, dann raten wir ihr und ihren Leitlinienkollegen jedoch erneut dringend an, vor der unreflektierten therapeutischen Empfehlung von kognitiver Verhaltenstherapie und körperlicher Aktivierung bei ME/CFS zu warnen. Denn beide Verfahren haben bei diesem Krankheitsbild in der Tat „keinen vernünftigen Wirknachweis“, selbst wenn sie das bei unspezifischen Müdigkeitszuständen haben mögen. Genau darauf haben wir mit zahlreichen Studien, die wir ihnen vorgelegt haben, versucht hinzuweisen – aber diese Studien wurden ignoriert bzw. als nicht evidenzbasiert abgeschmettert.

    Die Erfahrung von Tausenden, von Zehntausenden Patienten, die berichten, dass ihnen kognitive Verhaltenstherapie in Bezug auf ihre Krankheit nichts genützt habe, die allmählich ansteigende körperliche Aktivierung, die ihre engen Grenzen oft bei weitem überschreitet, hingegen schwer geschadet hat, zählt hier nicht. Es zählen auch all die Studien nicht, die belegen, dass und wie die ohnehin vorhandenen Krankheitsmechanismen auf immunologischer, neurologischer und endokriner Ebene durch körperliches Training erst recht angeheizt werden und dass sich die Effekte körperlicher Belastung bei ME/CFS-Patienten signifikant von denen bei Gesunden unterscheiden. Ein solch enges Verständnis von Evidenz erklärt die Erfahrung von Patienten und die solide Arbeit zahlreicher Wissenschaftler schlicht und einfach für nicht beachtenswürdig.

    In den Leitlinien ist nicht einmal der Hinweis darauf aufgeführt, dass viele Patienten über Schäden durch körperliche Aktivierung berichten. Insofern mag die obige Aussage von Frau Baum ihrer Überzeugung von dem entsprechen, was sie und ihre Kollegen tun ("...Patienten und die Gesellschaft vor Diagnostik und Therapie zu schützen, die keinen vernünftigen Wirknachweis hat.“), sie entspricht aber leider nicht der Realität. Wir würden uns freuen, wenn sie ihrem eigenen Anspruch genüge tun würden, der auch in diesem Satz zum Ausdruck kommt:
    „Wir haben auch keine Probleme damit, unsere Aussagen zu revidieren, wenn neue und solide Studienergebnisse dies geboten erscheinen lassen.“ Das freut uns sehr. Allerdings freut uns weniger, dass sie offensichtlich die von uns vorgelegten Studien und Schriften, die zum größten Teil peer-reviewed in renommierten medizinischen Fachzeitschriften erschienen sind, dennoch offensichtlich als unsolide betrachten. Wir haben unsere diesbezüglichen Argumente bereits ausführlich dargelegt und möchten sie hier nicht wiederholen. Nach allen Erfahrungen im Leitlinienprozess glauben wir nicht, dass wir die Haltung der Leitlinienautoren über das, was solide („evidenzbasiert“) und was nicht solide ist, durch noch so überzeugende Studien beeinflussen können.

    Schön, dass Frau Baum so offen und ehrlich bekennt: „Wir gehen immer vom bio-psycho-sozialen Modell aus.“ Genau das ist das von uns vielfach beklagte Problem. Dieses biopsychosoziale Modell ist eine sehr einseitige, wenn auch leider in Kreisen der Medizin und Psychiatrie verbreitete Sichtweise, die den Tausenden von biomedizinischen Forschungsartikeln eklatant widerspricht. Letztere werden demgemäß von der „biopsychosozialen“ Schule, der sogenannten „Wessely-School“ einschließlich ihrer Anhänger in Deutschland ignoriert – unserer Erfahrung nach zum großen Schaden der ME/CFS-Patienten. Dass die Vorstellungen der biopsychosozialen Schule den Patienten in vielfacher Weise schaden – auf der medizinischen, psychologischen und sozialen Ebene – haben wir uns im Übrigen nicht ausgedacht, sondern wir haben lediglich das wiedergegeben, was von Tausenden, wenn nicht Zehntausenden von ME/CFS-Patienten und ihren Patientenvertretern (unter ihnen auch erfahrene Ärzte und Forscher) weltweit öffentlich kundgetan wird.

    Es liegt uns fern, eine „strenge Trennung in psychisch versus somatisch“ zu propagieren, so wie Frau Baum es uns in ihrem Schreiben unterstellt – und wie es auch Wessely und seine Anhänger uns immer wieder unterschieben wollen, um uns für unzurechnungsfähig zu erklären. Ganz im Gegenteil haben wir immer wieder darauf hingewiesen, welche verheerenden Folgen es gerade auch auf der psychischen und sozialen Ebene hat, die somatischen Aspekte des ME/CFS zu verkennen und falsche therapeutische Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Wir haben jedes Jahr zahlreiche Selbstmorde zu beklagen haben, weil Menschen mit ME/CFS ihr durch keine ärztlich-therapeutische Maßnahme gelindertes Leiden und vor allem die Verständnislosigkeit von Ärzten und sozialem Umfeld, die soziale Diskriminierung und finanzielle Verarmung nicht mehr ertragen haben, die sie über Jahre und Jahrzehnte zu erleiden hatten, ohne dass es einen Funken Hoffnung gegeben hätte oder gibt, dass sich daran etwas ändern würde. Von den Toten, die wir aufgrund falscher und/oder fehlender Behandlung zu beklagen haben und dem Leid, das dadurch auch bei Angehörigen erzeugt wird, sprechen wir hier gar nicht.

    Wir können Frau Baum deshalb nur zustimmen, wenn sie schreibt: „Eine strenge Trennung in psychisch versus somatisch ist medizinisch falsch und wird unseren Patienten nicht gerecht.“ Wir haben nicht nur im Leitlinienprozesse immer wieder versucht, genau darauf hinzuweisen – auf diese enge Verknüpfung. Denn diese biopsychosoziale Schule berücksichtigt eben diese beiden Aspekte gerade nicht, sondern ignoriert den somatischen – und damit logischerweise auch die Wechselwirkung zwischen beiden Elementen. Das ist ja das Problem. Wenn man einen Aspekt von zweien verleugnet, kann man auch keine Wechselwirkung wahrnehmen.

    Im nächsten Satz widerspricht sie der Schlussfolgerung, die die Anhänger der biopsychosozialen Schule jedoch immer wieder ziehen und mit der sie belegen wollen, dass wir an einer somatoformen (also dem Grunde nach psychischen) Erkrankung leiden: „Die Wirksamkeit einer Verhaltenstherapie beweist somit auch keineswegs, dass eine rein psychische Erkrankung vorliegt.“ Mit dieser Schlussfolgerung hat sie in der Tat recht. Auch das ist etwas, das aus den von uns vorgelegten Studien und anderen Schriften hervorgeht. Kognitive Verhaltenstherapie kann durchaus bei der Krankheitsbewältigung helfen, hat aber noch in keinem einzigen Fall ME/CFS geheilt. Dies geht u.a. aus der Studie des belgischen Gesundheitsministeriums hervor, die die Ergebnisse der entsprechenden therapeutischen Interventionen nach Jahren ihres Einsatzes bei „CFS“ im belgischen Gesundheitssystem überprüft haben.

    Außerdem ist es nicht die Methode der kognitiven Verhaltenstherapie oder anderer psychologischer Verfahren an sich, die wir ablehnen, ganz im Gegenteil, sondern es ist ihr unreflektierter Gebrauch und die von Frau Baum so richtig beschriebene unzulässige Schlussfolgerung. Und es ist die aufgrund der biopsychosozialen Schule verbreitete Annahme, dass auch ME/CFS (und nicht nur sicherlich tatsächlich vorkommende psychogene Erschöpfungszustände) auf falschen Krankheitsüberzeugungen beruhe, die durch kognitive Verhaltenstherapie ausgemerzt werden müssten, damit der Weg für eine „erfolgreiche“ körperliche Aktivierung zur Bekämpfung der (durch falsche Krankheitsüberzeugungen hervorgerufenen) Dekonditionierung frei sei.

    In der Tat wäre es wichtig, den von ME/CFS betroffenen Patienten auch eine psychologische Begleitung anzubieten – die jedoch auf dem Wissen des Therapeuten über die organische Natur des Krankheitsbildes beruhen muss und als sekundäre Maßnahme neben der als primär zu betrachtenden medizinischen Behandlung eingesetzt werden kann. Es wäre wünschenswert, wenn man den ME/CFS-Patienten über eine biomedizinische Behandlung ihrer Erkrankung hinaus auch Hilfen anbieten könnte, mit den sozialen und psychischen Folgen ihrer schweren Erkrankung fertig zu werden. Deshalb liegt es uns fern, psychologische Verfahren als zusätzliches therapeutisches Angebot zu verteufeln – etwas, das uns fälschlicherweise immer wieder unterstellt wird. Auch hier sind es nicht wir, die etwas vermischen. Denn nahezu alle ME/CFS-Patienten haben irgendein psychotherapeutisches Verfahren durchlaufen – was jedoch zu ihrem großen Leidwesen keine große Auswirkung auf ihre körperliche Krankheit hatte.

    Wenn psychotherapeutische Verfahren jedoch, so wie das derzeit nicht nur im deutschen Medizinsystem der Fall ist, als „Abfalleimer“ für alles dienen, was der Haus- oder auch Facharzt nicht diagnostizieren kann oder will und nicht behandeln kann oder will, wenn das an sich hilfreiche und einst fortschrittliche Element der Psychosomatik nurmehr zum individuellen und institutionellen Abwehrmechanismus verkommt, der die Unzulänglichkeiten des Medizinsystems verdeckt und abstützt, dann haben wir in der Tat etwas dagegen. Denn damit verkehrt sich der humane Ansatz der Psychosomatik in sein Gegenteil. Er wird zum Instrument, schwerkranken Menschen eine ärztliche Behandlung bzw. Begleitung und die entsprechende soziale Absicherung zu verweigern und sie obendrein noch als „unverdiente Kranke der Gesellschaft und unseres Gesundheitswesens“ zu diskriminieren.(2)

    Nach all den Versuchen, unsere Argumentation für falsch, krankheitsbedingt verwirrt und wissenschaftlich unsolide zu erklären, versucht Frau Baum es nun auch noch auf diese Weise, uns das Recht abzusprechen, die Interessen von ME/CFS-Patienten zu vertreten: „Sie sind durch die von Ihnen vertretene Selbsthilfegruppe legitimiert, aber nicht durch die Patientenschaft insgesamt.“ Auch hier können wir ihr nur zustimmen: selbstverständlich haben wir niemals den Anspruch erhoben, für die von Müdigkeit betroffene „Patientenschaft insgesamt“ zu sprechen. Ganz im Gegenteil: Wir haben uns immer bemüht, darauf hinzuweisen, dass wir „nur“ für den Teil der in den Leitlinien unter dem groben Raster „Müdigkeit“ erfassten Patientenschaft sprechen, die unter dem eigenständigen Krankheitsbild ME/CFS leidet – und die u.E. eigentlich gar nicht zu dieser Patientenschaft der „Müden“ gehört.

    Wenn man eine sehr weit gefasste Definition des „CFS“ verwendet – beispielsweise die empirische Definition der CDC von Reeves et al. – dann erhält man eine Prävalenzrate von 2,5% der Bevölkerung. Vielleicht haben wir immer noch nicht genügend herausgestellt, dass wir niemals den Anspruch erhoben haben, für diese 2,5% zu sprechen. Uns ging es immer um diejenigen, die vielleicht ein Zehntel oder etwas mehr dieser 2,5%-Gruppe ausmachen, nämlich jenen 0,24% bis 0,42% der Bevölkerung, die entsprechend der beiden großen epidemiologischen Studien in den USA und Großbritannien auf der Basis der Fukuda-Kriterien am klassischen ME/CFS leiden – und aufgrund derer wir hier in Deutschland von etwa 300.000 Betroffenen ausgehen.

    Wir haben niemals bestritten, dass der überwiegenden Mehrzahl der nach dem biopsychosozialen Modell selektierten „Müden“ möglicherweise durch kognitive Verhaltenstherapie und körperliche Aktivierung geholfen werden kann. Wir haben lediglich auf die zahlreichen Studien hingewiesen, die belegen, dass der von uns vertretenen Patientengruppe, nämlich der schätzungsweise 0,24%-0,42% der Bevölkerung, die am klassischen ME/CFS leidet, in der Regel geschadet, aber nicht geholfen wird.

    Um ihre Kompetenz und die Richtigkeit der therapeutischen Empfehlungen für die „Müden“ herauszustellen, schreibt Frau Baum: „Letztere [‚die Patientenschaft insgesamt’] sehen wir in unselektierter Weise in unseren Hausarztpraxen. Dort wurde auch die Ursprungsversion der Leitlinie erfolgreich getestet und erhielt sehr positive Rückmeldungen von Ärzten und Patienten.“ Das glauben wir ihr sofort – es beweist aber leider gar nichts in Bezug auf ME/CFS-Patienten und ist mit Sicherheit auch nicht evidenzbasiert. Denn was heißt „sehr positive Rückmeldungen von Ärzten“ und „erfolgreich“ in diesem Zusammenhang? Es ist aufgrund der o.g. Zahlenverhältnisse, nach denen schätzungsweise nur einer von zehn „chronisch Müden“ tatsächlich an ME/CFS leidet, durchaus möglich, dass die Ärzte in den Hausarztpraxen mit den in den Leitlinien vorgeschlagenen Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie und der körperlichen Aktivierung diese bei neun von zehn „chronisch Müden“ „erfolgreich getestet“ haben. Und der/die eine von zehn, bei dem/der die Verfahren nicht erfolgreich waren, wird mit Sicherheit nicht wieder in der Hausarztpraxis auftauchen, in der ihm/ihr nicht geholfen wurde. Auch das kann man aus der Sicht des Hausarztes als Erfolg betrachten. Er wird nicht länger von „therapieresistenten“ Patienten belästigt, die im übrigen von der biopsychosozialen Schule als die „unverdienten Kranken unserer Gesellschaft“ bezeichnet werden.

    Im Übrigen zielte unser Engagement im Leitlinienprozess genau darauf ab, dass Hausärzte die „Patientschaft der Müden“, die sie zunächst in „unselektierter Weise“ in ihren Praxen sehen, insofern „selektieren“ lernen, dass sie z.B. die darin enthaltene Gruppe der ME/CFS-Patienten unterscheiden können und angemessenen Behandlungsansätzen zuführen können – die eben anders aussehen, als bei dem „Rest“ der zunächst „unselektierten Patientenschaft“.

    Und zum Schluss noch eine vergleichsweise unbedeutende Anmerkung: Als Einwand gegen unsere Bitte, uns als Patientenvertreter und nicht als Selbsthilfegruppe zu bezeichnen, schreibt Frau Baum:
    „Patientenvertreter können nach unserer Auffassung durch parlamentarische Organe oder auch Körperschaften des öffentlichen Rechts benannt werden, nicht aber durch Interessensvertretungen wie Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder immer nur einen kleinen und nicht repräsentativen Teil der Betroffenen umfassen.“
    Dieses formale Argument widerlegt in keiner Weise, dass wir tatsächlich die Interessen der von ME/CFS betroffenen Patienten vertreten. Und dass wir eine ganze Menge dieser Patienten hinter uns haben, und zwar nicht nur in Deutschland, dürfte Frau Baum nicht zuletzt an der regen Beteiligung der Betroffenen an unserer Aktion, Herrn Gerlach einen Offenen Brief zuzusenden, gesehen haben.

    Wenn Frau Baum schreibt: „Wir verzichten aber bewusst darauf, zu Ihren Argumenten erneut und detailliert Stellung zu nehmen.“ dann bedauern wir das in der Tat. Denn das spiegelt – genauso wie ihre gesamte Email – das Problem wider, auf das wir immer wieder hinweisen: Die Mehrheit der Ärzte hört uns einfach nicht zu. Sie hält sich für überlegen, alles wissend und den Patienten für inkompetent und krankheitsbedingt unzurechnungsfähig.

    Immer wieder hören wir von Ärzten und Psychologen, die genau das tun, nämlich ihren Patienten zuzuhören, dass es eigentlich ganz einfach sei, das Krankheitsbild ME/CFS anhand der authentischen und charakteristischen Schilderungen der Betroffenen zu erkennen – und von unspezifischen „Reeves’schen“ Müdigkeits-Zuständen zu unterscheiden. Man braucht dazu nicht einmal evidenzbasierte Biomarker, so sagen uns die Kliniker, sondern lediglich etwas klinische Erfahrung und die Bereitschaft, dem Patienten zuzuhören und seinen Schilderungen Glauben zu schenken. Die Kenntnis der Kanadischen bzw. Internationalen Konsenskriterien kann dann zur Validierung des diagnostischen Verdachts eingesetzt werden.
    Diese Ärzte und Psychologen sind jedoch nach unserer leidvollen Erfahrung eher die Ausnahme. Ein Ausweg daraus wäre, wenn man uns nicht ständig, wie Frau Baum das bereits im ersten Satz ihrer Email tut, implizit für unzurechnungsfähig und inkompetent erklärt, indem sie schreibt, dass wir „eventuell auch durch Ihre Erkrankung bedingt Dinge miteinander vermischen“.

    Wir können uns übrigens nicht daran erinnern, im Leitlinienprozess in irgendeine Art des therapeutischen Verhältnisses zu Frau Baum oder den anderen Leitlinienautoren eingetreten zu sein, die sie in die Rolle einer diagnostizierenden Ärztin mir oder uns gegenüber gebracht hätte und sie legitimieren würde, eine solche „Diagnose“ abzugeben. Auch in dieser Hinsicht vermuten wir, dass das Problem der Vermischung – nämlich der Rollen – hier eher auf Seiten der Leitlinienautoren zu finden ist. Wir gingen bislang davon aus, dass wir im Leitlinienprozess andere Rollen haben, und zwar als Berater, Frau Baum und Kollegen für die Seite der Ärzte und wir für die Seite der Patienten.

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    (1) Martin J Walker: Skewed: Psychiatric Hegemony and the Manufacture of Mental Illness in Multiple Chemical Sensitivity, Gulf War Syndrome, Myalgic Encephalomyelitis and Chronic Fatigue Syndrome (Paperback - Aug 2003)
    (2) "Those who cannot be fitted into a scheme of objective bodily illness yet refuse to be placed into and accept the stigma of mental illness remain the undeserving sick of our society and our health service" ("ME. What do we know - real physical illness or all in the mind?" Lecture given in October 1999 by Michael Sharpe, hosted by the University of Strathclyde (transcript)). Siehe http://www.meactionuk.org.uk/Quotable_Quotes_Updated.pdf

     

     

    Fatigatio steigt aus der Protestaktion gegen neue DEGAM-Leitlinien Müdigkeit aus

    Mit einer überraschenden Email an die anderen Bündnis ME/CFS-Mitglieder und einer weiteren überraschenden Email an Frau Baum von der DEGAM hat sich der Fatigatio ohne vorherige Diskussion oder Ankündigung eines solchen Schrittes von der Protestaktion (Offener Brief und Distanzierungsschreiben an die DEGAM) distanziert.

    Noch eine Woche zuvor hatte der Fatigatio mit dem Abdruck des Offenen Briefes in seinem Mitgliedermagazin ME/CFS-Forum Nr. 30 seine Mitglieder ausdrücklich dazu aufgefordert, sich an dieser Protestaktion durch Absenden des Offenen Briefes zu beteiligen. Umso unerwarteter kam für die übrigen Bündnismitglieder diese Distanzierung, zumal sie mitten im letzten Abstimmungsschritt unseres gemeinsamen abschließenden Distanzierungsschreibens gegenüber den "neuen" Leitlinien Müdigkeit erfolgte.

    Zur Erinnerung: der Fatigatio ist bislang Mitglied des Bündnis ME/CFS gewesen und stand in der Auflistung der Bündnispartner immer an oberster Stelle.

    Grundsätzlich hat jede Organisation in diesem Bündnis ME/CFS das Recht, einen eigenen Weg oder einen eigenen Stil zu wählen, um  mit seiner Arbeit die Situation der ME/CFS-Patienten in Deutschland zu verändern. Der Bundesverband hatte sich bereits nach der ersten Stellungnahme an die DEGAM nach der Konsenskonferenz entschlossen, bei dieser Auseinandersetzung mit den Autoren der Leitlinien Müdigkeit nicht mehr aktiv mitzuwirken, da sich der Vorstand wenig Erfolg von weiteren Diskussionen versprach. Die anderen Bündnispartner entschieden sich, die Auseinandersetzung alleine fortzusetzen.

    Die erste gemeinsame Distanzierung (noch mit Fatigatio)  wurde durch eine Anpassung der Leitlinie hinfällig und musste daher vom Bündnis an wenigen Stellen neu geschrieben werden. Dabei wurden auch die neuesten Erkenntnisse (z.B. die Veröffentlichung des Internationalen Konsensdokuments Myalgische Enzephalomyelitis) mit aufgenommen. Diese neu verfasste Distanzierung (an der vier Bündnispartner gearbeitet haben, da andere nicht mitwirken konnten) ist dann an alle Bündnispartner mit der Bitte um Rückmeldung wegen eventueller Änderungswünsche oder Zustimmung verteilt wurden. Daraufhin hat sich der Vorstand des Bundesverbandes Fatigatio entschieden, diese Distanzierung nicht mittragen zu wollen und uns gebeten, den Namen des Fatigatio nicht mehr mit anzugeben.

    Gleichzeitig hat Fatigatio ein Schriftstück an die DEGAM verfasst, in der sich der Bundesverband geäußert hat, dass er sich von der Protestaktion distanziert und eine eigene Stellungnahme nachreichen würde. Über diesen Brief haben wir nur durch eine Rückmeldung der DEGAM erfahren. Er lautet:

    Am 28.08.2011 17:56, schrieb Fatigatio e.V. Geschäftsstelle:

    Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Baum,

    der Fatigatio e.V. hat sich in einem heute gefassten Vorstandsbeschluss von der Protestaktion des Bündnisses ME/CFS, wie sie in den letzten Schreiben an die Autoren der Leitlinie Müdigkeit kommuniziert wurde, distanziert und wird separat zum neuen Entwurf der Leitlinien Stellung beziehen. ..

    Vielen Dank für Ihre Antwort und Ihre Bemühungen!

    Mit freundlichen Grüßen 

    Marlies Zurhorst Vorsitzende Fatigatio e.V.

    Bundesverband Chronisches Erschöpfungssyndrom CFS/ME

    Albrechtstr. 15

    D – 10117 Berlin

    Wir hatten nach Erhalt  des Vorstandsbeschlusses des Fatigatio (und ohne Wissen über dieses Schriftstück) noch einmal eine Mail verfasst, in der wir auf die katastrophale Außenwirkung aufmerksam gemacht haben, die es haben würde, wenn der Fatigatio sich nun plötzlich DEGAM-öffentlich gegen die anderen Bündnismitglieder wendet. Wir merkten weiter an, dass unser gesamter Protest und alle damit verbundene Arbeit zunichte und in den Augen der DEGAM lächerlich gemacht wird. Wir baten deshalb darum, sich gemeinsam um einen Konsens zu bemühen, mit dem auch Fatigatio einverstanden gewesen wäre und  um Mitteilung, an welchen Stellen unsere abschließende Distanzierung von der LL Müdigkeit nicht den Wünschen des Fatigatio entsprach. Auf diese Bitte erhielten wir jedoch keine Antwort.

    Daraufhin haben wir alle Bündnispartner einschließlich Fatigatio gebeten, bis zu einem bestimmten Termin eine Rückmeldung zu geben, wenn jemand nicht mit der Distanzierung ** einverstanden ist. Diese Frist ist ohne eine solche Rückmeldung verstrichen.

    Wir bitten alle vor einer verbalen Auseinandersetzung um die oben geschilderten Ereignisse darum, daran zu denken, dass jede Organisation innerhalb des Bündnis ME/CFS autark entscheiden kann, wie sie vorgehen will. In diesem Fall wäre es sicher besser gewesen, wenn vorab abgesprochen worden wäre, welche Form der Auseinandersetzung von allen Beteiligten getragen wird. Fatigatio hatte bereits Bedenken, überhaupt an der Konsenskonferenz mit der DEGAM zur Revision der Leitlinien teilzunehmen, also von vorneherein in eine Diskussion mit den Leitlinienautoren einzusteigen. Die anderen Bündnismitglieder hielten jedoch den Versuch der Mitwirkung bei einem für ME/CFS-Patienten so entscheidenden Dokument für wichtig, so dass der Fatigatio dann doch mit an der Konsenskonferenz im November 2010 teilnahm.

    Es ist sowohl für das Bündnis ME/CFS als auch für Fatigatio und mit Sicherheit für die ME/CFS-Patienten in Deutschland jetzt schädigend gewesen, dass nachträglich eine solche Rückmeldung bzw. Distanzierung des Fatigatio an die DEGAM erfolgt ist. In seiner Email an das Bündnis hat der Fatigatio-Vorstand zudem angekündigt, sich mit einem eigenen Distanzierungsschreiben an die DEGAM zu wenden. Diese Email lautete (Auszug):

    „Auf Vorstandsbeschluss von heute distanziert sich der Fatigatio e.V. von der Bündnis-Protestaktion gegen die DEGAM LL Müdigkeit und möchte somit in den ab heute publizierten oder an Dritte versendeten Schreiben diesbezüglich nicht mehr aufgeführt werden. Der Stil, der in den bisherigen Schreiben des Bündnis an die DEGAM gepflegt wird, ist nicht der Stil des Fatigatio, da zu aggressiv und wenig dazu geeignet, in einen konstruktiven Dialog mit der Ärzteschaft zu bleiben. Der Fatigatio zieht es deshalb vor, seine – durchaus vorhandene – Ablehnung des neuen LL – Entwurfs der DEGAM in einem eigenen Schreiben an diese zu kommunizieren.

    Prinzipiell möchte der Fatigatio e.V. aber nach wie vor mit dem Bündnis zusammenarbeiten, was aber je nach Thema und Aktion entschieden wird.“

    Ob und in welchem Maße eine Kooperation mit dem Bundesverband künftig erfolgen kann, muss sehr genau abgesprochen werden, damit sich so eine Situation nicht wiederholt.

    Es war das erste Mal, dass wir bei der aus Sicht des Bündnis sachlichen Auseinandersetzung mit der DEGAM nicht gleich beim ersten Widerstand des Ärzteverbandes klein beigegeben haben. Das Bündnis wir diesen Weg weiter fortsetzen. Der Bundesverband ist herzlich dazu eingeladen, diesen Weg weiterhin mit zu gestalten. Dabei darf sich aber eine solche Situation vor allem im Interesse der ME/CFS-Patienten nicht wiederholen. Wir bedauern es sehr, dass es zu einer für alle Beteiligten so unbefriedigenden Situation gekommen ist, hoffen aber, in Zukunft eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Vorstand des Bundesverbandes erreichen zu können  – und zwar im Interesse all jener ME/CFS-Patienten, die zu schwach sind, sich selbst für ihre Interessen einzusetzen.

    Anders als vom Bundesverband Fatigatio beurteilt, haben wir von ärztlicher und psychologischer Seite durchaus positive Rückmeldung zu dieser Aktion erhalten. Man sprach dabei von Wachrütteln, bemerkbar machen und klare Stellung beziehen von Seiten des Bündnis ME/CFS.

    Vielleicht möchte der ein oder andere von Euch eine Rückmeldung geben, wieweit das Bündnis ME/CFS aus Eurer Sicht gehen sollte. Seid Ihr der Meinung, dass wir mit unserem Antwortschreiben * und der Distanzierung ** zu weit gegangen sind?

    Bündnis ME/CFS (alle Mitglieder außer Fatigatio)

    * siehe http://www.cfs-aktuell.de/Stellungnahme_Buendnis_an_DEGAM.pdf

    ** siehe http://www.cfs-aktuell.de/september11_3.htm#Bündnis_ME/CFS_distanziert_sich_von_der_„LL_Müdigkeit“_