Aktion „Gib ME/CFS (d)ein Gesicht“
anlässlich des internationalen
ME/CFS-Tages am 12. Mai 2010
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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Schavan,
sehr geehrter Herr Bundesminister Rösler,
mit circa 300.000 Betroffenen allein in Deutschland zählt Myalgische
Enzephalomyelitis/ Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) keineswegs zu
den seltenen Erkrankungen. Dennoch ist die Versorgungssituation für
diese oft schwer behinderten oder gar pflegebedürftigen Menschen
hierzulande katastrophal.
Von Ärzten und Sozialbehörden im Stich gelassen, sind
ME/CFS-Patienten in den meisten Fällen auf finanzielle
Unterstützung, Versorgung und Pflege ihrer Verwandten und Freunde
angewiesen. Vielfach ans Haus oder sogar an das Bett gebunden,
verschwinden sie stillschweigend aus unserer Gesellschaft.
Im Gegensatz zu anderen schweren Erkrankungen stellt der Staat
keinerlei Forschungsgelder für diese noch unzureichend erforschte
Krankheit zur Verfügung
– wirksame Therapien oder gar die Aussicht auf
Heilung sind in weiter Ferne.
Zum diesjährigen Internationalen CFS-Tag am 12. Mai wird das
Bündnis ME/CFS deshalb vor dem Deutschen Ärztetag in Dresden
eine zentrale Protestveranstaltung durchführen, um auf die große Not
und fehlende Versorgung aufmerksam zu machen. Unter dem Motto „Gib
ME/CFS (d)ein Gesicht!“ werden deshalb neben Betroffenen auch
Angehörige und Freunde stellvertretend für diejenigen demonstrieren,
die zu krank sind, um selbst für ihre Belange einzutreten.
Unser Ziel ist es, mit Ärzten, Politik und Öffentlichkeit in Dialog
zu treten. Mit unserer Initiative wird es erstmals in Deutschland
eine öffentliche Aktion zu ME/CFS geben. Dazu haben sich Vertreter
von Patientenorganisationen aus ganz Deutschland zum Bündnis
ME/CFS zusammengefunden. Wir engagieren uns für die Forderung
nach einer umfassenden, flächendeckenden und an internationalen
Standards orientierten medizinischen Versorgung aller Betroffenen.
Auch Presse und Medienvertreter sind eingeladen, über die Aktion zu
berichten.
Nach mehr als zwanzig Jahren Kampf gegen die Ignoranz von Politik
und Medizinsystem und für die Anerkennung unserer Krankheit werden
wir den jetzigen Zustand nicht länger akzeptieren.
Viele Ärzte verfügen bis heute nicht über ausreichende Kenntnisse im
Umgang mit dem Chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS. Einige
zweifeln sogar noch immer an der Existenz dieser Krankheit. Dabei
ist das Krankheitsbild schon vor über 40 Jahren von der WHO als
Erkrankung des zentralen Nervensystems unter G 93.3 klassifiziert
worden.
Die in Deutschland oftmals zitierten AWMF-Leitlinien und viele
andere Publikationen verstoßen mit der Einordnung als psychiatrische
Erkrankung (F 48.xx) daher gegen die Klassifizierungsrichtlinien
der WHO. Viele Publikationen empfehlen falsche Behandlungsansätze,
die
–
wissenschaftlich nachgewiesen
– im besten Falle wirkungslos
sind und den Patienten oft sogar erheblich und dauerhaft schaden.
Der aktuelle Forschungsstand belegt heute eindeutig, dass es sich
bei ME/CFS um eine chronische körperliche Erkrankung handelt. Mehr
als 4.000 Fachpublikationen belegen mit messbaren Laborparametern
ein nicht enden wollendes Infektionsgeschehen bzw. ein durch Viren
„umprogrammiertes“ Immunsystem mit schwerwiegenden Folgen für die
komplexen neurologischen, immunologischen und endokrinen
Steuerungssysteme des Körpers.
Erst im Oktober vergangenen Jahres beschrieben Forscher des
Whittemore-Peterson-Institutes in Reno, USA, einen signifikanten
Zusammenhang zwischen ME/CFS und der Infektion mit dem 2006
entdeckten Retrovirus XMRV. Das Virus, nach HIV und HTLV das dritte
bekannte menschliche Retrovirus, ist potentiell von Mensch zu Mensch
übertragbar.
Die sich daraus ergebenden dringenden Konsequenzen im Hinblick auf
die Aufklärung möglicher Übertragungswege und in Bezug auf den
Infektionsschutz sind von der Bundesregierung unseres Wissens
bislang nicht gezogen worden. Kanada hat als Konsequenz aus diesen
Forschungsergebnissen im April 2010 ME/CFS-Patienten von Blutspenden
ausgeschlossen, und in Japan fand man das Virus bei 1,7 Prozent der
gesunden Blutspender. Was unternimmt die Bundesregierung, um die
allgemeine Bevölkerung zu schützen – auch unabhängig von der
Bedeutung des XMRV für ME/CFS-Patienten?
Nicht nur im Hinblick auf diese Forschungsergebnisse wird die
internationale ME/CFS-Forschung in Deutschland kaum zur Kenntnis
genommen und fließt nicht in die ärztlichen Fortbildungen oder
Maßnahmen zur Patientenversorgung ein. Dabei könnte dies auch
hierzulande bereits zu einer Verbesserung der Versorgung der
Patienten führen. Stattdessen gibt es in Deutschland kein einziges
Versorgungszentrum, um eine angemessene medizinische Behandlung zu
gewährleisten. Die Patienten fallen durch alle Netze der
medizinischen Versorgung und sozialen Absicherung.
Wir fordern Sie auf:
·
eine adäquate medizinische Versorgung in
Deutschland anzustoßen
·
Patientenorganisationen in die Planung von
Versorgungseinrichtungen mit einzubeziehen
·
für eine WHO-konforme Einordnung von ME/CFS als
neurologische Krankheit (G 93.3) zu sorgen
Wir brauchen dringend:
·
Forschung zu ME/CFS unter der Voraussetzung
international anerkannter Diagnosekriterien. Bei ungeeigneter
Probandenauswahl (Oxfordkriterien, aktuelle deutsche
ICD-Klassifikation) dürfen keine Forschungsgelder zur Verfügung
gestellt werden.
·
die Schulung von Ärzten und Klinikpersonal, um
ME/CFS zuverlässig diagnostizieren zu können
·
eine Diagnosestellung auf der Basis des
Kanadischen Konsensdokumentes (www.cfs-aktuell.de/Konsensdokument.pdf)
·
die zuverlässige medizinische Abgrenzung des ME/CFS von anderen,
insbesondere psychisch bedingten Erschöpfungszuständen wie
Depressionen oder Burn-Out und der „Verwässerung“ des ME/CFS mit dem
Begriff „Chronische Müdigkeit“
·
die Einrichtung von Abteilungen für besonders
schwer erkrankte ME/CFS-Patienten in Kliniken mit speziell
geschultem medizinischen und pflegerischem Fachpersonal. Die
Abteilungen müssen baulich so beschaffen sein, dass sie auf die
extreme Licht- und Geräuschempfindlichkeit der Betroffenen Rücksicht
nehmen.
·
die Schaffung von mobilen Ärzte- und
Pflegeteams, die schwer- und schwerstkranke Patienten, insbesondere
betroffene Kinder, zu Hause diagnostizieren, therapieren und
pflegerisch betreuen. Dies ist besonders wichtig, da die Anstrengung
eines Transportes und der Aufenthalt in einer nicht auf schwerkranke
ME/CFS-Patienten eingerichteten Klinik die Krankheit bei den
Betroffenen gewöhnlich für lange Zeit oder gar dauerhaft
verschlimmern.
·
besondere Unterstützungsmaßnahmen der
Sozialbehörden, um erkrankte und dauerhaft bettlägerige Kinder zu
betreuen und deren Familien zu entlasten.
·
die Abkehr von nachweislich schädlichen
Therapien wie körperlichem Aufbautraining.
Entsprechend übereinstimmender Studienergebnisse, die regelmäßig
eine messbare und tage-, wochen- oder sogar monatelang anhaltende
Zustandsverschlechterung bei ME/CFS belegen, werden wir keine
Behandlungsansätze akzeptieren, die auf eine vollkommen
kontraproduktive körperliche Aktivierung der Erkrankten
hinauslaufen. Das Bündnis ME/CFS wird nicht mit Einrichtungen
kooperieren, die solche Behandlungsansätze propagieren oder anwenden
und fordert alle Betroffenen auf, sich solchen Therapien konsequent
zu verweigern.
ME/CFS hat schwerwiegende ökonomische Folgen. In den Vereinigten
Staaten beläuft sich allein der jährliche, durch
Produktivitätsausfälle verursachte Schaden auf 9.1 Milliarden
Dollar, und darin sind medizinische Kosten oder Rentenzahlungen noch
nicht enthalten. Die durchschnittliche von CFS betroffene Familie
verliert im Jahr 20.000 Dollar an Löhnen und Einkommen.
Diese Zahlen sollten Anlass genug sein, auch über die ökonomischen
Folgen für Deutschland nachzudenken. Weitere Kosten entstehen
durch die verbreiteten Fehlbehandlungen mit unnützen oder sogar
schädlichen Medikamenten und Therapien. Nicht nur die Betroffenen
selbst, sondern auch das deutsche Gesundheitssystem nehmen dadurch
erheblichen Schaden.
Unsere Bemühungen, auf die Missstände aufmerksam zu machen, stoßen
seit rund 20 Jahren auf taube Ohren. Die Ansprechpartner in den
verschieden Ministerien und Sozialbehörden zeigten keinerlei
Bereitschaft, Veränderungen in die Wege zu leiten. Jede der
angesprochenen Stellen erklärte eine jeweils andere für zuständig.
Ob bei Krankenkassen, Landesärztekammern, Medizinischen
Diensten oder bei der Deutschen Rentenversicherung
– man verweist auf die
AWMF-Leitlinie Müdigkeit und auf die Leitlinie „Psychosomatische
Medizin
–
somatoforme Störung“, in denen schwer erkrankte Menschen mit ME/CFS
jedoch nur beiläufig vorkommen und zudem noch falsch klassifiziert
werden.
In den Diskussionen über eine Reformierung des Gesundheitswesens
wurde immer betont, dass jeder in Deutschland einen Rechtsanspruch
auf eine medizinische Versorgung hat, die dem aktuellen Stand der
Wissenschaft entspricht. Dieses Recht werde auch in der Zukunft
unangreifbar sein. Aber genau das scheint für ME/CFS-Kranke nicht zu
gelten.
In Kooperation mit ME/CFS-Patientenorganisationen in der
Europäischen Union wird das Bündnis ME/CFS daher auch weiterhin jede
geeignete Möglichkeit wahrnehmen, auf die Situation der Betroffenen
und die jahrelange Untätigkeit der zuständigen Stellen aufmerksam
machen. Wir sind nicht bereit, diesen skandalösen Zustand länger
hinzunehmen.
Das Bündnis ME/CFS fordert Sie als zuständige Vertreterinnen und
Vertreter der Bundesregierung auf, endlich Ihre Verantwortung
wahrzunehmen. Wir appellieren an Sie, das Gespräch mit den
Betroffenen nicht länger zu verweigern.
Wir erwarten Auskunft darüber, welche Maßnahmen die Bundesregierung
angesichts von ME/CFS und XRMV auf kurze und lange Sicht für
notwendig hält.
Ihre Stellungnahme auf unseren Offenen Brief würden wir gerne in
unseren Print- und Onlinemedien veröffentlichen.
Mit freundlichen Grüßen
Nicole Krüger
für das Bündnis ME/CFS
Anlage: Liste Bündnispartner
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