Rezension: “Voices from the Shadows”,
British Library London
von Matthew Smith
8.
Dezember 2011, Original
hier
Gestern habe ich mir endlich den Film
Voices from the Shadows
ansehen können, einen Dokumentarfilm über schwere Myalgische
Enzephalomyelitis (ME), der von den gleichen Leuten produziert und
gestaltet wurde, die auch das Buch Lost Voices herausgegeben
haben (Rezension
hier),
in dem die Geschichten von einer Reihe von Menschen mit ME (meist
schwerer ME) geschildert werden. Dieser Film konzentrierte sich,
auch wenn er einige Bilder enthielt, die in Lost Voices
erschienen, auf fünf Personen, die alle bis auf eine der ME-Gemeinde
gut bekannt sind: Lynn Gilderdale, Naomi Whittingham, Lind Crowhurst
und Sophia Mirza sowie ein junges Mädchen, auf das man sich nur als
„B“ bezog, das mit acht Jahren erkrankte und jetzt im Alter von 15
Jahren immer noch schwer betroffen ist.
Diese Vorführung [in der Londoner
British Library] war die letzte von vieren, die anderen drei hatten
in Norwich, beim Mill Valley Filmfestival und bei der IACFS/ME-Konferenz
im September stattgefunden. Das Mutter-und-Sohn-Team, das hinter dem
Film steckt, bemüht sich gerade um eine Verbreitungsmöglichkeit über
eine US-Firma, bevor sie eine Verbreitung über DVD oder das Internet
in Betracht ziehen.
(Weitere Rezensionen:
CFS Patient Advocate,
Jenny K Rowbory’s dad,
It’s Only ME …,
Thoughts About ME.)
In dem Film geht es grundsätzlich
um die Misshandlung von ME-Patienten – Kindern wie Erwachsenen – im
Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens; er ist weder eine
biographische Darstellung einer der Betroffenen noch geht es
wirklich darum, was es bedeutet, an ME zu leiden. Obwohl ein
Video-Appell von Giles Meehan für das vorgeschlagene
ME-Forschungszentrum in Norwich vor dem eigentlichen Film gezeigt
wurde, hat der Film selbst nicht über Fragen der Forschung berichtet
oder die mangelnde Finanzierung von Forschung oder die Frage, welche
Art von Virus ME verursacht oder wie es gekommen ist, dass ME als
psychosoziale statt als körperliche Krankheit angesehen wird.
Der Schwerpunkt lag entschieden
auf der Misshandlung, dem mangelnden Zugang zu angemessener
Behandlung, den verheerenden Auswirkungen von körperlicher
Aktivierung (Graded Exercise Therapie), den (nicht immer
erfolgreichen) Bemühungen von Angehörigen, ihre erkrankten
Familienmitglieder von Fachleuten fernzuhalten, die ihnen ansonsten
diese körperliche Aktivierung aufgezwungen und sie anderweitig grob
behandelt haben. Die Geschichte von Sophia Mirzas ME wurde eng in
Verbindung mit ihrer Zwangseinweisung in die Psychiatrie und dem
darauf folgenden Rückfall und ihrem Tod geschildert, und so war der
Tod durch ME an ihre Geschichte geknüpft. Im Unterschied dazu wurde
Lynn Gilderdales Tod nicht geschildert, was kein Nachteil war, denn
diese Geschichte ist in beinahe jedem Medieninterview mit ihrer
Mutter immer wieder berichtet worden.
Da ich über drei der fünf
Betroffenen bereits an anderen Stellen etwas gelesen hatte, wusste
ich weitgehend, was auf mich zukam, so dass der Film für mich nicht
so schockierend war, wie er das möglicherweise für andere war,
insbesondere für diejenigen, die mit dem Thema noch wenig oder gar
nicht vertraut sind. Ausnahme war einmal der Abschnitt über Naomi,
deren Geschichte teilweise bereits in dem Buch Lost Voices
berichtet wurde, aber die Geschichte über ihre Behandlung im
Krankenhaus ist dort nicht beschrieben; es gab in diesem Film eine
Videosequenz über ihren Versuch, Graded Exercise zu machen, wobei
ihr die Krankenschwester an einer Stelle sagte, dass es genauso
einfach wäre, zu dem Stuhl am anderen Ende des Tisches zu laufen,
als den Rückzug zu dem Stuhl anzutreten, von dem sie gerade
aufgestanden war – ich wollte dauernd sagen: „Mach’s nicht, Naomi!“
–, und die andere Ausnahme war die Tonaufnahme von Sophia Mirzas
Versuch zu verhindern, dass sie zwangsweise in die Psychiatrie
gebracht wurde, nachdem die Polizei und die Sozialarbeiter in 2003
die Tür zu ihrer Wohnung eingeschlagen hatten, um sie abzuholen. Man
hörte sie, wie sie die Leute versuchte davon zu überzeugen, dass sie
in der Tat in den zurückliegenden sechs Monaten einen Fortschritt
gemacht hatte (da ihre Mutter bedroht worden war, dass sie
zwangseingewiesen würde, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten
eine Besserung vorzuweisen hätte). Man hörte sie, wie sie dringend
darum bat, stattdessen in eine ME-Klinik gebracht zu werden,
woraufhin man ihr sagte, dass sie bereits zwei Gelegenheiten gehabt
hätte, in eine solche Klinik zu gehen.
Der Film
beschrieb die verheerenden Folgen, die Graded Exercise [d.h.
ansteigendes körperliches Training] auf mehrere der Patienten gehabt
hatte sowie den negativen Einfluss der Psychiater; in einem
Interview sagte Kay Gilderdale, dass jeglicher Einfluss, den die
Psychiater gehabt hätten, destruktiv gewesen sei und Lynn beinahe
umgebracht hätte. Naomi und ihre Mutter wurden beide ausführlich
interviewt (Naomi war die einzige Patientin, die interviewt werden
konnte), und sie berichteten beide über die schreckliche Behandlung,
die sie während ihres Krankenhausaufenthaltes erfuhr und über die
Feindseligkeit, die ihr seitens der Krankenschwestern
entgegenschlug, die ihre Arbeit auf der Station erledigten und dabei
die anderen Kinder mit einem Lächeln begrüßten, während ihr Gesicht
zu einer Maske erstarrte, wenn sie zu ihr kamen. Sie beschrieb dann
zu den entsprechenden Filmaufnahmen ihr jetziges Leben, das sie
meist damit verbringt, auf einem Stuhl zu sitzen und zum Fenster
hinauszusehen, was sie manchmal genießt, aber was sie manchmal auch
traurig macht, weil es sie an das erinnert, was sie versäumt. Oder
sie liegt im Bett in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer. Dieser
Abschnitt des Filmes ist wirklich sehenswert und wichtig, weil hier
jemand in der Lage ist, eine zusammenhängende, schlüssige
Beschreibung davon abzugeben, was es bedeutet, über lange Zeit an
schwerer ME zu leiden. Dieser Abschnitt ist sehr beeindruckend.
Linda Crowhurst war zu krank, um interviewt zu
werden, aber einige der Filmaufnahmen zeigten sie dabei, wie sie
schilderte, sie leide unerträglich, sie müsse dringend zur Toilette,
könne aber nicht berührt (und deshalb nicht dorthin bewegt) werden,
da ihr das so starke Schmerzen bereiten würde. Greg Crowhurst, ihr
Ehemann, beschrieb die extremen Schwierigkeiten, jemanden zu finden,
der zumindest soweit von ihrer Krankheit überzeugt war, dass er sie
behandeln würde; ein Psychologe hatte ihr gesagt, sie habe einfach
nur „Angst zu stehen“.
Professor Malcom Hooper betonte, dass ME eine
körperliche Erkrankung sei, die sehr viele Gemeinsamkeiten mit
Multipler Sklerose habe und dass es keine psychiatrische Erkrankung
sei; Dr. Nigel Speight, ein Kinderarzt, der sich seit vielen Jahren
um Kinder mit ME kümmert, bemerkte, dass Ärzte Kinder mit ME
manchmal zurückschicken zu ihren Hausärzten oder Graded Exercise
Therapie verordnen und zunehmend feindselig gegenüber den Kindern
werden, wenn die Behandlung den gegenteiligen Effekt hat, den sie
sich gewünscht haben.
Die Geschichte von „B“, die 15 Jahre alt ist
und deren Familie immer noch Angst vor einer Intervention durch die
sozialen Dienste hat, wurde von einer Sprecherin erzählt, die nicht
mit ihr verwandt ist; die Geschichte wurde von in einander
übergehenden Fotos von ihrem leeren Zimmer illustriert, das sich im
Laufe der Zeit und je nach Tageszeit veränderte. Sie wurde aus ihrer
Familie herausgerissen und in eine geschlossene psychiatrische
Abteilung gebracht, nachdem ihre Familie sich den Versuchen, sie zu
Graded Exercise zu zwingen, widersetzt hatte; sie wurde schließlich
bettlägerig (was sie zu der Zeit, als der Film gedreht wurde, noch
immer war) und sie verlor zeitweise die Fähigkeit zu sprechen. Der
Familie gelang es, sie mit Hilfe der Patientenorganisation für
Kinder, dem
Young ME Sufferers’ Trust,
aus den Klauen
des Sozialsystems zu befreien. Der
Young ME Sufferers’ Trust
hatte Zugang zu Fachleuten, die beweisen konnten, dass ihr ME eine
körperliche Erkrankung war und dass man ihr nicht helfen konnte,
wenn man ihr ansteigendes körperliches Training aufzwang.
Um es
zusammenzufassen: dies ist ein äußerst beeindruckender
Dokumentarfilm über das drängendste Problem der Situation ME-kranker
Menschen. In meiner
Rezension zu Kay Gilderdales Buch
vom April
[2011] habe ich geschrieben:
Was dieses Buch nicht ist – es
ist keine Untersuchung darüber, wie weitverbreitet diese Art von
Misshandlung ist oder war, unter der Lynn zu leiden hatte; ein
solches Buch wäre dringend nötig, und Lynns Geschichte würde diese
Misshandlung auf äußerst eindrucksvolle Weise belegen. Es hat
seitdem zahllose Berichte von Menschen mit ME, auch schwerer ME,
gegeben, die aufgrund des Unglaubens von Ärzten zu leiden haben,
Ärzten, die beharrlich behaupten, dass ihre Krankheit „bestärkt“
würde oder das Ergebnis von Missbrauch sei, und das hat dazu
geführt, dass Kinder aus ihren Familien herausgerissen oder mit
einer solchen Maßnahme bedroht wurden.
Obwohl in diesem Dokumentarfilm
keine Namen genannt werden in dem Sinne, wer für diese Misshandlung
verantwortlich ist (wie das beispielsweise in einer Panorama-Dokumentation
von 1999 geschah) und obwohl er nicht die Rolle von Leuten wie Simon
Wessely, Peter White und anderen erwähnt oder gar, aus welchen
Teilen des Landes die ME-Patienten kamen, zeigt er, dass diese
Misshandlung weitverbreitet ist und immer noch fortgesetzt wurde,
lange nachdem es ganz offensichtlich hätte sein sollen, dass die
Behandlungsansätze, die sie verfolgten, nicht wirkten, und lange,
nachdem die Skandale aus den 1990er Jahren aufgedeckt worden waren.
Man sollte hoffen, dass dieser Film von viel mehr Menschen in
Großbritannien gesehen werden könnte und dass er Krankenschwestern
und Ärzten und anderem medizinischen Personal zugänglich gemacht
werden würde, insbesondere auch Studenten und Berufsanfängern, da
sie noch am offensten gegenüber neuen Informationen sind (es gibt
eine Menge junger Ärzte, die noch nie etwas von ME gehört haben.)
Ich glaube,
dass dieser Film viel eher von britischen Zuschauern gesehen werden
sollte als von amerikanischen: die beschriebenen Fälle sind alle von
Leuten aus Großbritannien, die in Großbritannien lebten und in
britischen Krankenhäusern behandelt wurden. Es kann sein, dass in
den USA genau das gleiche passiert, aber der Dokumentarfilm zeigt
das nicht (und erwähnt auch nichts von der Geschichte des „Chronic
Fatigue Syndrome“ in den Vereinigten Staaten), und wir brauchen
keine Amerikaner, die selbstgerecht mit dem Finger auf uns zeigen,
als ob das nur typisch wäre für das britische Gesundheitswesen oder
dafür „wie die Briten mit Kranken umgehen“, während ein hoher
Prozentsatz der Amerikaner sich schlicht und ergreifend keinerlei
Gesundheitsversorgung leisten kann, ein Zustand, der sich
wahrscheinlich auch in nächster Zukunft nicht ändern wird.
Im Anschluss
an die Filmvorführung gab es eine Podiumsdiskussion, an der Dr.
Nigel Speight, Declan Carroll vom Irish ME Trust und ein
Ratsmitglied einer Lokalregierung für die Labour-Partei [Roger
Robinson] teilnahmen (es war kein leitender Politiker zu bekommen).
Das Ratsmitglied sprach lange über Fragen von Behinderung im
Allgemeinen, und ich erinnere mich, dass er sagte, die
Lokalregierung würde nichts für ME-Patienten tun, aber er forderte,
dass „blödsinnige Gesetzgebungen“ wie der Disability Discrimination
Act [hier]
abgeschafft würden und durch Gesetze mit mehr Substanz ersetzt
würden.
Was Dr.
Speight betrifft, so erinnere ich mich am deutlichsten an seine
Antwort auf eine meiner Fragen, nämlich, warum Ärzte und
Sozialarbeiter so bösartig zu Patienten mit schwerem ME seien. Er
antwortet, dass sich der Berufsstand in den vergangenen 30 Jahren
beträchtlich verändert habe und dass er sehr viel offener gegenüber
den Meinungen von Patienten sei als früher; in der Vergangenheit
seien Ärzte patriachalisch und davon überzeugt gewesen seien, sie
wüssten es am besten und sie manchmal geneigt waren, Patienten über
ihren Gesundheitszustand zu belügen. Er erwähnte auch, dass
Sozialarbeiter häufig mit sehr feindseligen Familien aus
Sozialwohnungen zu tun hätten, von denen manche ihren Hund auf sie
loslassen und dass sie dann, wenn sie mit einer ruhigen und
freundlichen Mittelklassefamilie mit einer bettlägerigen Tochter zu
tun hätten, ein Gefühl von Macht bekämen, das sie nicht erreichen
würden, wenn sie mit ihrem üblichen „Klientel“ zu tun hätten, und
sie dieses Machtgefühl dann ungehemmt ausleben würden.
Momentan gibt
es keine weitere Gelegenheit, diesen Film anzusehen; die Leute aus
der ME-Gemeinde, die nicht in der Lage waren, zu einer der beiden
Vorführungen zu kommen, fordern die Herausgabe einer DVD, aber die
Produzenten sagen, dass sie „auf Nachricht von einem internationalen
Vertriebsunternehmen warten“.
Ich sollte
jedoch hinzufügen, dass Menschen mit ME nicht das beste Publikum für
diesen Film sind und dass er Kindern mit ME (ganz zu schweigen von
Kindern mit schwerer ME) nicht gezeigt werden sollte, wie es
die Produzenten bereits angeraten haben, denn dieser Film wird sie
in Verzweiflung stürzen. Ich sollte auch noch hinzufügen, dass
Freunde von den Menschen, deren Geschichten in dem Film berichtet
werden, wahrscheinlich nichts erfahren werden, was ihnen ihre
Freunde nicht schon erzählt hätten. Insbesondere angesichts der
haarsträubenden Berichterstattung über die Anschuldigungen über
„Todesdrohungen“ im vergangenen Sommer [Informationen dazu
hier und
hier] sollten die Medienvertreter diesen Film für ihre eigene
Weiterbildung ansehen. Der Film zeigt sattsam auf, wer die
wirklichen Opfer in dieser Angelegenheit sind und die, anders als
diejenigen, die sie beschuldigen, nicht den Luxus haben, in der Lage
zu sein, in die angebliche Sicherheit des Irak oder Afghanistans zu
flüchten. Sie sollten in der Lage sein, sich dort sicher zu fühlen,
wo sie sind: in ihrem Zuhause, in ihren Betten und wenn nötig auch
in ihrem örtlichen Krankenhaus. Im Licht der jüngsten Ereignisse
anderswo auf dieser Welt ist es das Kennzeichen eines despotischen
Regimes geworden, dass Menschen in Krankenhäusern nicht sicher sind
– und das ist in der Tat der Fall für einige unserer kränksten und
verletzlichsten Menschen. Das ist einem zivilisierten und
fortschrittlichen Land wie dem unseren nicht würdig.
Übersetzung: Regina Clos, Anm. d. Ü. in Eckklammern |