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    Artikel des Monats Dezember 11 Teil 2

    "Voices from the Shadows"

    Filmvorführung in London

    Es war die zweite Filmvorführung des beeindruckenden Films über fünf junge Menschen mit schwerem ME/CFS in Europa. Invest in ME hat sie ebenso wie die vorangegangene in Norwich am 7. Dezember 2011 auf dem Hintergrund der beeindruckenden Kulisse der Londoner British Library organisiert.

    Mit den Spendengeldern für diese Website und der Absicht, dort die Produzenten des Films zu treffen, um ihnen eine deutsche Übersetzung des Films anzubieten, bin ich nach London geflogen.

    Blauer Himmel über London: die tief stehende Wintersonne schafft es auch mittags um 12 Uhr kaum, den Hof vor dem Eingang zur British Library zu bescheinen.

    Blaue Stunde nachmittags um halbfünf Ortszeit: das Konferenzzentrum mit Eingang hinter dem Weihnachtsbaum

    Im Vorfeld hatten die Organisatoren von Invest in ME über 160 Personen in einflussreichen Positionen in Politik und Gesundheitswesen angeschrieben und eingeladen, sich den Film (kostenlos) anzusehen. Darunter waren Ministerien, Parlamentarier, Ärzte, medizinische Berater, Menschenrechtsorganisationen, die großen medizinischen Fachzeitschriften BMJ und The Lancet, Universitäten, Fernsehsender, Journalisten, einen Botschafter, Bürgermeister, Patientenverbände und viele mehr. 

    Die British Library ist nur wenige hundert Meter von den zentralen U-Bahn-, Fernverkehrs- und Busstationen Euston Station und King's Cross entfernt - ein Leichtes, sie von Nah oder Fern zu erreichen. Um eine Vorführung an einem so zentralen Ort zu ermöglichen, hat Invest in ME viele tausend britische Pfund für die Miete eines Saales im Konferenzzentrum der British Library ausgegeben. Man hätte annehmen können, dass zumindest in London einige der zahlreich eingeladenen Gäste kommen würden. Aber keiner kam. Der Chief Medical Officer hat es abgelehnt, sich die Filmvorführung anzusehen oder einen Vertreter zu schicken.

    Beeindruckende Eingangshalle: Besucher, ganze Schulklassen in Schuluniform lauschen erstaunlich diszipliniert den Erklärungen bei den Führungen durch die vielen Lesesäle, Hallen und Abteilungen der British Library.

    Ein vierstöckiges, gläsernes "Bücherregal" mit Hunderten ledergebundener, goldbeschrifteter alter Bücher steht im Zentrum der Eingangshalle. Rundherum Besucher und an ihren Laptops arbeitende Studenten.

    Auch war die Resonanz bei ME/CFS-Patienten trotz der wochenlangen Bekanntgabe per Internet und Faltblättern, trotz intensiver Werbung bei Patientengruppen recht gering. Was bei Patienten noch mit ihrem schlechten Gesundheitszustand zu erklären ist, kann man bei all den anderen geladenen Gästen nur mit einem beschämenden Desinteresse an einem so wichtigen Thema "erklären": es ist skandalös, dass keiner der Geladenen kam, obwohl das Thema ME/CFS in Großbritannien sehr viel stärker in der Öffentlichkeit diskutiert wird als hier in Deutschland.

    Blick vom zweiten Stockwerk des gläsernen "Bücherregals" in die sonnendurchflutete Eingangshalle. In die Lesesäle kommt man leider nur mit einem Bibliotheksausweis oder einer Führung hinein.  Eine beeindruckende Kulisse!

    Diese metallene Sitzbank mit Fußfessel wird wohl auch ohne das in London obligatorische Sicherheitspersonal mit Metalldetektoren am Eingang jedes wichtigen Gebäudes nicht herausgeschleppt werden...

    Links im Bild Richard und Pia Simpson sowie Kathleen McCall hinter dem Stand mit Infomaterial und Eintrittskarten - sie heißen die etwa achtzig Besucher willkommen. Sie sind die Hauptorganisatoren von Invest in ME und dieser Veranstaltung, selbst Eltern von insgesamt vier seit vielen Jahren an ME/CFS erkrankten Kindern (mittlerweile erwachsen, aber teils auf die Pflege ihrer Eltern angewiesen).

    Wir haben ihnen ungeheuer viel zu verdanken, denn mit den seit 2004 jährlich im Mai stattfindenden internationalen Konferenzen in Westminster haben sie auch die Situation in anderen europäischen Ländern positiv beeinflusst. Ohne sie gäbe es auch die European ME Alliance nicht, und viele Informationen, die Sie auf dieser Website finden, gäbe es in dieser Form auch nicht. Sie arbeiten extrem viel und bleiben immer bescheiden im Hintergrund. Die nächste Konferenz am 1. Juni 2012 ist bereits in Planung.

    Vor und nach der Filmvorführung gab es bei Tee, Kaffee und Mince Pies viele Gelegenheiten für Gespräche und Kontakte - ein äußerst wichtiges Element unserer internationalen Einbindung.

    Vor dem eigentlichen Film wurde eine Videoaufzeichnung mit einem Vertreter der Patienteninitiative Let's do it for ME über das ebenfalls von Invest in ME initiierten und vorangetriebenen Forschungs- und Behandlungszentrums in Norwich gezeigt. Norwich war auch Ort der ersten Filmvorführung von Voices from the Shadows in Großbritannien. Dieses Video können Sie hier ansehen.

    Es wäre Platz für 250 Zuschauer gewesen, ein Jammer, dass so viele Plätze leer geblieben waren. In der mittleren Reihe sitzen (im orangefarbenen Pullover, mit Hand am Kinn) die Produzentin des Films, Natalie Boulton, rechts neben ihr sitzt ihr Sohn, Mitproduzent (weiß-graues Hemd, Bart und Brille). Leider sind sie auf mein Angebot der (natürlich kostenlosen) Übersetzung des Filmes ins Deutsche nicht eingegangen, aber evtl. kommen sie darauf noch zurück.

    Auf dem Podium v.l.n.r.: Declan Caroll, irischer Patientenvertreter, Dr. Nigel Speight, Kinderarzt (im Ruhestand) und Councillor Roger Robinson vom Camden Council. Prof. Malcom Hooper war leider durch Krankheit verhindert.

    Dr. Nigel Speight (rechtes Bild, Mitte) über die Geschichte der ME: “This is crazy, wthe last 40 years have been wasted.” (“Das ist verrückt, die letzten 40 Jahre sind einfach ungenutzt verstrichen.”) Man hätte in diesen 40 Jahren seit der Aufnahme der Krankheit im ICD-Code der WHO im Jahr 1969 sie längst erforschen und für eine Behandlung sorgen können, sagte er. Dr. Nigel Speight setzt sich seit vielen Jahren insbesondere für ME/CFS-kranke Kinder und ihre Eltern ein, wenn sie von Jugendämtern und Ärzten bedroht werden, das Sorgerecht entzogen zu bekommen. Er bot sofort an, auch bei entsprechenden Fällen in Deutschland zu helfen!

    Anwesend waren auch Criona Wilson, Mutter der verstorbenen ME-Patientin Sophia Mirza, und Kay Gilderdale, deren Tochter Lynn Gilderdale sich nach 17 Jahren unvorstellbaren Leidens an ME das Leben genommen hat. Beide "Fälle" werden in dem Film dargestellt. Die Mütter beschreiben die skandalöse Misshandlung durch Medizinsystem und vor allem Psychiater. Beide Töchter wurden in psychiatrischen Einrichtungen so misshandelt, dass sich ihr Zustand massiv verschlechterte und ihr Tod letztlich dadurch ausgelöst wurde.

     

    © Fotos: Regina Clos

    links Criona Wilson, rechts Kay Gilderdale, deren Töchter beide durch schweres ME/CFS umkamen. Criona Wilson unterhält in Erinnerung an ihre Tochter die Website Sophia and ME. Kay Gilderdale hat ein erschütterndes Buch über das Leiden ihrer Tochter verfasst - "One last Goodbye".

     

    Ein kurzer Kommentar zum Film selbst: Was dieser Film nicht zeigt, sind Fälle von schwer erkrankten ME-Patienten, die KEINE Angehörigen und Freunde haben, die sie pflegen, die sich für sie einsetzen, die sie notfalls vor despotischen Behördenentscheidungen schützen. Es gibt Fälle von schwer erkrankten ME-Patienten, deren Wohnungen verwahrlost sind, weil sie zu Hausarbeiten nicht mehr in der Lage sind, die kaum finanzielle Mittel haben, um sich zu ernähren, die niemanden haben, der für sie einkauft, putzt, wäscht, Behördengänge erledigt und Medikamente besorgt. Invest in ME kennt solche Fälle und versucht, sich um sie zu kümmern. (Und auch in Deutschland gibt es solche Fälle.)

    Insbesondere angesichts der skandalösen Kürzungen von Sozialleistungen für kranke Menschen in Großbritannien, wo man die Verlängerung von Sozialleistungszahlungen von der Beurteilung von einem kommerziellen Unternehmen (ATOS) durchführen lässt, das mit einem vollkommen ungeeigneten, von medizinisch nicht qualifiziertem Personal ausgewerteten Fragebogen selbst Menschen mit Hirntumoren und epileptischen Anfällen für arbeitsfähig erklärt, wird es in Zukunft viele kranke Menschen geben (nicht nur solche mit ME!), die schlicht ihren letzten Lebensunterhalt verlieren und ins finanzielle Nichts stürzen.

    So schlimm das Schicksal aller der in dem Film geschilderten Menschen ist – sie haben bzw. hatten immer noch eine Familie, die sich um sie kümmert/e, die sie liebevoll über Jahre hinweg pflegt/e. Sie konnten mit Hilfe ihrer Familien ihre Stimme aus dem Schatten heraus hörbar machen, sie sind die Voices from the Shadows, die vernehmbar sind, aber es gibt ungezählte Fälle, von denen wir nichts mehr hören, und das sind die wirklichen Lost Voices, die wirklich verlorenen Stimmen.

    Was können wir tun, um ihnen wieder eine Stimme zu geben? Das liegt in unserer Verantwortung, in der Verantwortung von Gesunden und auch von ME-Kranken, die noch in der Lage sind, ihre Stimme zu erheben. Tun wir etwas! Tun Sie etwas: arbeiten Sie mit beim http://www.buendnis-mecfs.de/ und spenden Sie für unsere kurz vor der Gründung stehende Lost Voices Stiftung! Damit Fälle wie die in diesem Film geschilderten auch in Deutschland irgendwann der Vergangenheit angehören, eine Vergangenheit, auf die man irgendwann mit Scham zurückblicken wird, weil die "Behandlung" von Menschen mit ME/CFS mittelalterlich und skandalös ist.

    Übrigens: Auch in Deutschland ist ein Film im Entstehen begriffen, der die Lage von ME/CFS-Patienten und die katastrophale "Behandlung" dieser Menschen in unserem Gesundheits- und Sozialwesen thematisiert. Es wird aber sicher noch mindestens ein Jahr dauern, bis die Dreh- und Produktionsarbeiten abgeschlossen sind.

     

    Rezension: “Voices from the Shadows”, British Library London

    von Matthew Smith

     , Original hier

    Gestern habe ich mir endlich den Film Voices from the Shadows ansehen können, einen Dokumentarfilm über schwere Myalgische Enzephalomyelitis (ME), der von den gleichen Leuten produziert und gestaltet wurde, die auch das Buch Lost Voices herausgegeben haben (Rezension hier), in dem die Geschichten von einer Reihe von Menschen mit ME (meist schwerer ME) geschildert werden. Dieser Film konzentrierte sich, auch wenn er einige Bilder enthielt, die in Lost Voices erschienen, auf fünf Personen, die alle bis auf eine der ME-Gemeinde gut bekannt sind: Lynn Gilderdale, Naomi Whittingham, Lind Crowhurst und Sophia Mirza sowie ein junges Mädchen, auf das man sich nur als „B“ bezog, das mit acht Jahren erkrankte und jetzt im Alter von 15 Jahren immer noch schwer betroffen ist.

    Diese Vorführung [in der Londoner British Library] war die letzte von vieren, die anderen drei hatten in Norwich, beim Mill Valley Filmfestival und bei der IACFS/ME-Konferenz im September stattgefunden. Das Mutter-und-Sohn-Team, das hinter dem Film steckt, bemüht sich gerade um eine Verbreitungsmöglichkeit über eine US-Firma, bevor sie eine Verbreitung über DVD oder das Internet in Betracht ziehen. (Weitere Rezensionen: CFS Patient Advocate, Jenny K Rowbory’s dad, It’s Only ME …, Thoughts About ME.)

    In dem Film geht es grundsätzlich um die Misshandlung von ME-Patienten – Kindern wie Erwachsenen – im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens; er ist weder eine biographische Darstellung einer der Betroffenen noch geht es wirklich darum, was es bedeutet, an ME zu leiden. Obwohl ein Video-Appell von Giles Meehan für das vorgeschlagene ME-Forschungszentrum in Norwich vor dem eigentlichen Film gezeigt wurde, hat der Film selbst nicht über Fragen der Forschung berichtet oder die mangelnde Finanzierung von Forschung oder die Frage, welche Art von Virus ME verursacht oder wie es gekommen ist, dass ME als psychosoziale statt als körperliche Krankheit angesehen wird.

    Der Schwerpunkt lag entschieden auf der Misshandlung, dem mangelnden Zugang zu angemessener Behandlung, den verheerenden Auswirkungen von körperlicher Aktivierung (Graded Exercise Therapie), den (nicht immer erfolgreichen) Bemühungen von Angehörigen, ihre erkrankten Familienmitglieder von Fachleuten fernzuhalten, die ihnen ansonsten diese körperliche Aktivierung aufgezwungen und sie anderweitig grob behandelt haben. Die Geschichte von Sophia Mirzas ME wurde eng in Verbindung mit ihrer Zwangseinweisung in die Psychiatrie und dem darauf folgenden Rückfall und ihrem Tod geschildert, und so war der Tod durch ME an ihre Geschichte geknüpft. Im Unterschied dazu wurde Lynn Gilderdales Tod nicht geschildert, was kein Nachteil war, denn diese Geschichte ist in beinahe jedem Medieninterview mit ihrer Mutter immer wieder berichtet worden.

    Da ich über drei der fünf Betroffenen bereits an anderen Stellen etwas gelesen hatte, wusste ich weitgehend, was auf mich zukam, so dass der Film für mich nicht so schockierend war, wie er das möglicherweise für andere war, insbesondere für diejenigen, die mit dem Thema noch wenig oder gar nicht vertraut sind. Ausnahme war einmal der Abschnitt über Naomi, deren Geschichte teilweise bereits in dem Buch Lost Voices berichtet wurde, aber die Geschichte über ihre Behandlung im Krankenhaus ist dort nicht beschrieben; es gab in diesem Film eine Videosequenz über ihren Versuch, Graded Exercise zu machen, wobei ihr die Krankenschwester an einer Stelle sagte, dass es genauso einfach wäre, zu dem Stuhl am anderen Ende des Tisches zu laufen, als den Rückzug zu dem Stuhl anzutreten, von dem sie gerade aufgestanden war – ich wollte dauernd sagen: „Mach’s nicht, Naomi!“ –, und die andere Ausnahme war die Tonaufnahme von Sophia Mirzas Versuch zu verhindern, dass sie zwangsweise in die Psychiatrie gebracht wurde, nachdem die Polizei und die Sozialarbeiter in 2003 die Tür zu ihrer Wohnung eingeschlagen hatten, um sie abzuholen. Man hörte sie, wie sie die Leute versuchte davon zu überzeugen, dass sie in der Tat in den zurückliegenden sechs Monaten einen Fortschritt gemacht hatte (da ihre Mutter bedroht worden war, dass sie zwangseingewiesen würde, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten eine Besserung vorzuweisen hätte). Man hörte sie, wie sie dringend darum bat, stattdessen in eine ME-Klinik gebracht zu werden, woraufhin man ihr sagte, dass sie bereits zwei Gelegenheiten gehabt hätte, in eine solche Klinik zu gehen.

    Der Film beschrieb die verheerenden Folgen, die Graded Exercise [d.h. ansteigendes körperliches Training] auf mehrere der Patienten gehabt hatte sowie den negativen Einfluss der Psychiater; in einem Interview sagte Kay Gilderdale, dass jeglicher Einfluss, den die Psychiater gehabt hätten, destruktiv gewesen sei und Lynn beinahe umgebracht hätte. Naomi und ihre Mutter wurden beide ausführlich interviewt (Naomi war die einzige Patientin, die interviewt werden konnte), und sie berichteten beide über die schreckliche Behandlung, die sie während ihres Krankenhausaufenthaltes erfuhr und über die Feindseligkeit, die ihr seitens der Krankenschwestern entgegenschlug, die ihre Arbeit auf der Station erledigten und dabei die anderen Kinder mit einem Lächeln begrüßten, während ihr Gesicht zu einer Maske erstarrte, wenn sie zu ihr kamen. Sie beschrieb dann zu den entsprechenden Filmaufnahmen ihr jetziges Leben, das sie meist damit verbringt, auf einem Stuhl zu sitzen und zum Fenster hinauszusehen, was sie manchmal genießt, aber was sie manchmal auch traurig macht, weil es sie an das erinnert, was sie versäumt. Oder sie liegt im Bett in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer. Dieser Abschnitt des Filmes ist wirklich sehenswert und wichtig, weil hier jemand in der Lage ist, eine zusammenhängende, schlüssige Beschreibung davon abzugeben, was es bedeutet, über lange Zeit an schwerer ME zu leiden. Dieser Abschnitt ist sehr beeindruckend.

    Linda Crowhurst war zu krank, um interviewt zu werden, aber einige der Filmaufnahmen zeigten sie dabei, wie sie schilderte, sie leide unerträglich, sie müsse dringend zur Toilette, könne aber nicht berührt (und deshalb nicht dorthin bewegt) werden, da ihr das so starke Schmerzen bereiten würde. Greg Crowhurst, ihr Ehemann, beschrieb die extremen Schwierigkeiten, jemanden zu finden, der zumindest soweit von ihrer Krankheit überzeugt war, dass er sie behandeln würde; ein Psychologe hatte ihr gesagt, sie habe einfach nur „Angst zu stehen“.

    Professor Malcom Hooper betonte, dass ME eine körperliche Erkrankung sei, die sehr viele Gemeinsamkeiten mit Multipler Sklerose habe und dass es keine psychiatrische Erkrankung sei; Dr. Nigel Speight, ein Kinderarzt, der sich seit vielen Jahren um Kinder mit ME kümmert, bemerkte, dass Ärzte Kinder mit ME manchmal zurückschicken zu ihren Hausärzten oder Graded Exercise Therapie verordnen und zunehmend feindselig gegenüber den Kindern werden, wenn die Behandlung den gegenteiligen Effekt hat, den sie sich gewünscht haben.

    Die Geschichte von „B“, die 15 Jahre alt ist und deren Familie immer noch Angst vor einer Intervention durch die sozialen Dienste hat, wurde von einer Sprecherin erzählt, die nicht mit ihr verwandt ist; die Geschichte wurde von in einander übergehenden Fotos von ihrem leeren Zimmer illustriert, das sich im Laufe der Zeit und je nach Tageszeit veränderte. Sie wurde aus ihrer Familie herausgerissen und in eine geschlossene psychiatrische Abteilung gebracht, nachdem ihre Familie sich den Versuchen, sie zu Graded Exercise zu zwingen, widersetzt hatte; sie wurde schließlich bettlägerig (was sie zu der Zeit, als der Film gedreht wurde, noch immer war) und sie verlor zeitweise die Fähigkeit zu sprechen. Der Familie gelang es, sie mit Hilfe der Patientenorganisation für Kinder, dem Young ME Sufferers’ Trust, aus den Klauen des Sozialsystems zu befreien. Der Young ME Sufferers’ Trust hatte Zugang zu Fachleuten, die beweisen konnten, dass ihr ME eine körperliche Erkrankung war und dass man ihr nicht helfen konnte, wenn man ihr ansteigendes körperliches Training aufzwang.

    Um es zusammenzufassen: dies ist ein äußerst beeindruckender Dokumentarfilm über das drängendste Problem der Situation ME-kranker Menschen. In meiner  Rezension zu Kay Gilderdales Buch vom April [2011] habe ich geschrieben:

    Was dieses Buch nicht ist – es ist keine Untersuchung darüber, wie weitverbreitet diese Art von Misshandlung ist oder war, unter der Lynn zu leiden hatte; ein solches Buch wäre dringend nötig, und Lynns Geschichte würde diese Misshandlung auf äußerst eindrucksvolle Weise belegen. Es hat seitdem zahllose Berichte von Menschen mit ME, auch schwerer ME, gegeben, die aufgrund des Unglaubens von Ärzten zu leiden haben, Ärzten, die beharrlich behaupten, dass ihre Krankheit „bestärkt“ würde oder das Ergebnis von Missbrauch sei, und das hat dazu geführt, dass Kinder aus ihren Familien herausgerissen oder mit einer solchen Maßnahme bedroht wurden.

    Obwohl in diesem Dokumentarfilm keine Namen genannt werden in dem Sinne, wer für diese Misshandlung verantwortlich ist (wie das beispielsweise in einer Panorama-Dokumentation von 1999 geschah) und obwohl er nicht die Rolle von Leuten wie Simon Wessely, Peter White und anderen erwähnt oder gar, aus welchen Teilen des Landes die ME-Patienten kamen, zeigt er, dass diese Misshandlung weitverbreitet ist und immer noch fortgesetzt wurde, lange nachdem es ganz offensichtlich hätte sein sollen, dass die Behandlungsansätze, die sie verfolgten, nicht wirkten, und lange, nachdem die Skandale aus den 1990er Jahren aufgedeckt worden waren. Man sollte hoffen, dass dieser Film von viel mehr Menschen in Großbritannien gesehen werden könnte und dass er Krankenschwestern und Ärzten und anderem medizinischen Personal zugänglich gemacht werden würde, insbesondere auch Studenten und Berufsanfängern, da sie noch am offensten gegenüber neuen Informationen sind (es gibt eine Menge junger Ärzte, die noch nie etwas von ME gehört haben.)

    Ich glaube, dass dieser Film viel eher von britischen Zuschauern gesehen werden sollte als von amerikanischen: die beschriebenen Fälle sind alle von Leuten aus Großbritannien, die in Großbritannien lebten und in britischen Krankenhäusern behandelt wurden. Es kann sein, dass in den USA genau das gleiche passiert, aber der Dokumentarfilm zeigt das nicht (und erwähnt auch nichts von der Geschichte des „Chronic Fatigue Syndrome“ in den Vereinigten Staaten), und wir brauchen keine Amerikaner, die selbstgerecht mit dem Finger auf uns zeigen, als ob das nur typisch wäre für das britische Gesundheitswesen oder dafür „wie die Briten mit Kranken umgehen“, während ein hoher Prozentsatz der Amerikaner sich schlicht und ergreifend keinerlei Gesundheitsversorgung leisten kann, ein Zustand, der sich wahrscheinlich auch in nächster Zukunft nicht ändern wird.

    Im Anschluss an die Filmvorführung gab es eine Podiumsdiskussion, an der Dr. Nigel Speight, Declan Carroll vom Irish ME Trust und ein Ratsmitglied einer Lokalregierung für die Labour-Partei [Roger Robinson] teilnahmen (es war kein leitender Politiker zu bekommen). Das Ratsmitglied sprach lange über Fragen von Behinderung im Allgemeinen, und ich erinnere mich, dass er sagte, die Lokalregierung würde nichts für ME-Patienten tun, aber er forderte, dass „blödsinnige Gesetzgebungen“ wie der Disability Discrimination Act [hier] abgeschafft würden und durch Gesetze mit mehr Substanz ersetzt würden.

    Was Dr. Speight betrifft, so erinnere ich mich am deutlichsten an seine Antwort auf eine meiner Fragen, nämlich, warum Ärzte und Sozialarbeiter so bösartig zu Patienten mit schwerem ME seien. Er antwortet, dass sich der Berufsstand in den vergangenen 30 Jahren beträchtlich verändert habe und dass er sehr viel offener gegenüber den Meinungen von Patienten sei als früher; in der Vergangenheit seien Ärzte patriachalisch und davon überzeugt gewesen seien, sie wüssten es am besten und sie manchmal geneigt waren, Patienten über ihren Gesundheitszustand zu belügen. Er erwähnte auch, dass Sozialarbeiter häufig mit sehr feindseligen Familien aus Sozialwohnungen zu tun hätten, von denen manche ihren Hund auf sie loslassen und dass sie dann, wenn sie mit einer ruhigen und freundlichen Mittelklassefamilie mit einer bettlägerigen Tochter zu tun hätten, ein Gefühl von Macht bekämen, das sie nicht erreichen würden, wenn sie mit ihrem üblichen „Klientel“ zu tun hätten, und sie dieses Machtgefühl dann ungehemmt ausleben würden.

    Momentan gibt es keine weitere Gelegenheit, diesen Film anzusehen; die Leute aus der ME-Gemeinde, die nicht in der Lage waren, zu einer der beiden Vorführungen zu kommen, fordern die Herausgabe einer DVD, aber die Produzenten sagen, dass sie „auf Nachricht von einem internationalen Vertriebsunternehmen warten“.

    Ich sollte jedoch hinzufügen, dass Menschen mit ME nicht das beste Publikum für diesen Film sind und dass er Kindern mit ME (ganz zu schweigen von Kindern mit schwerer ME) nicht gezeigt werden sollte, wie es die Produzenten bereits angeraten haben, denn dieser Film wird sie in Verzweiflung stürzen. Ich sollte auch noch hinzufügen, dass Freunde von den Menschen, deren Geschichten in dem Film berichtet werden, wahrscheinlich nichts erfahren werden, was ihnen ihre Freunde nicht schon erzählt hätten. Insbesondere angesichts der haarsträubenden Berichterstattung über die Anschuldigungen über „Todesdrohungen“ im vergangenen Sommer [Informationen dazu hier und hier] sollten die Medienvertreter diesen Film für ihre eigene Weiterbildung ansehen. Der Film zeigt sattsam auf, wer die wirklichen Opfer in dieser Angelegenheit sind und die, anders als diejenigen, die sie beschuldigen, nicht den Luxus haben, in der Lage zu sein, in die angebliche Sicherheit des Irak oder Afghanistans zu flüchten. Sie sollten in der Lage sein, sich dort sicher zu fühlen, wo sie sind: in ihrem Zuhause, in ihren Betten und wenn nötig auch in ihrem örtlichen Krankenhaus. Im Licht der jüngsten Ereignisse anderswo auf dieser Welt ist es das Kennzeichen eines despotischen Regimes geworden, dass Menschen in Krankenhäusern nicht sicher sind – und das ist in der Tat der Fall für einige unserer kränksten und verletzlichsten Menschen. Das ist einem zivilisierten und fortschrittlichen Land wie dem unseren nicht würdig.

    Übersetzung: Regina Clos, Anm. d. Ü. in Eckklammern

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