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    Kommentar des Monats August 2010

     

    Gut- oder Missachter?

     

    Das folgende Gedächtnisprotokoll eines ME/CFS-Patienten über einen Termin bei dem bekanntesten Gutachter für "CFS"-Patienten Deutschlands wurde mir zugesandt, mit der Erlaubnis des Patienten, dieses hier wiederzugeben. Es erscheint mir ebenso skandalös wie exemplarisch für das zu sein, was ME/CFS-Patienten in Deutschland leider noch immer allzu oft geschieht, wenn sie zum Arzt gehen oder einen Gutachter aufsuchen müssen. Sowohl der Name des Arztes als auch der Name des Patienten sind mir bekannt.

    Es geht hier nicht um eine undifferenzierte Ärzte- oder Gutachterschelte. Mit Sicherheit bemüht sich die große Mehrheit um das Wohl der Patienten, und wenn etwas schief läuft, dann liegt das möglicherweise oft daran, dass sie unzureichend oder gar falsch informiert sind. Im Falle von ME/CFS kommt das jedoch sehr häufig vor, mit dem Ergebnis, dass Arzt-Patient-Begegnungen für die Betroffenen traumatisch sind und verheerende Folgen für ihre Zukunft haben. Mir sind Fälle bekannt, bei denen schwer kranke Patienten seit Jahren keinerlei Sozialleistung erhalten, weil sie von Gutachtern in einer Weise fehldiagnostiziert werden, wie das hier dokumentiert ist. Das stürzt nicht nur sie, sondern oft ganze Familien ins Elend.

    Man sollte annehmen, dass auch für ME/CFS-Patienten die Menschenrechte gelten, aber wenn man, wie ich und viele andere Patientenvertreter, ständig mit Berichten wie diesem hier konfrontiert wird, so kann man daran zweifeln.

    Regina Clos

     

     

    Dr. W. H.:

    Guten Morgen.

    ME/CFS-Patient:

    Guten Morgen.

    Dr. W. H.:

    Was führt Sie zu mir?

    ME/CFS-Patient:

    Die Empfehlung meines Hausarztes Dr. G.

    Dr. W. H.:

    Ah ja, …. gut … erzählen Sie mal.

    ME/CFS-Patient:

    Ich bin chronisch müde, meine Muskeln brennen wie Feuer und ich bin ständig erschöpft, auch wenn ich nichts mache. Alles fing an 1990 als ich eine Grippe bekam deren Symptome bis heute andauerten. Die Besuche von Fachärzten, Kliniken und Heilpraktikern brachten keine Besserung.

    Dr. W. H.:

    Ok, was haben Sie denn da …?

    ME/CFS-Patient:

    Das sind Atteste der verschiedenen Fachärzte und Kliniken.

    Dr. W. H.:

    Aha, (er liest oberflächlich einige der Atteste) hmmm, darf ich mir einige davon kopieren?

    ME/CFS-Patient:

    Ja bitte!

    Dr. W. H.:

    Also … hatten Sie denn schwere Kindheitserlebnisse an welche Sie sich erinnern?

    ME/CFS-Patient:

    Nein, ich hatte eine sehr schöne, unbeschwerte Kindheit und Jugend.

    Dr. W. H.:

    Und später, etwa beruflich?

    ME/CFS-Patient:

    Nein, nichts Auffälliges! Ich habe sehr viel Freude an meinem Beruf – gehabt, leider kann ich diesen nun nur noch 1-2 Stunden täglich ausüben, an manchen Tagen aber gar nicht.

    Dr. W. H.:

    Wie sieht es aus mit Rauchen? Alkohol?

    ME/CFS-Patient:

    Keines von beiden.

    Dr. W. H.:

    Machen Sie Sport?

    ME/CFS-Patient:

    Ja, habe ich gemacht, Schwimmen, Bergsteigen, Jogging, mittlerweile bringen mich aber 10 Kniebeugen zur totalen Erschöpfung.

    Dr. W. H.:

    Sie sollten aber trotzdem regelmäßig Sport betreiben. Und zwar konsequent, jeden Tag zur selben Zeit! Anfangs eine halbe Stunde, später mehr.

    ME/CFS-Patient:

    Das haben mir bereits andere Ärzte gesagt, ich habe es auch mühsam probiert, danach aber den ganzen Tag ausruhen müssen. Mein Zustand verschlimmerte sich durch Sport erheblich.

    Dr. W. H.:

    Beschäftigen Sie andere Dinge? Träume? Probleme? Sorgen?

    ME/CFS-Patient:

    Früher normale lösbare Alltagsprobleme, nichts Gravierendes, hin und wieder Träume. Heute dagegen werden bereits Dinge wie Duschen, Einkaufen, Spaziergänge zur Hürde.

    Dr. W. H.:

    Ah, welche Träume?

    ME/CFS-Patient:

    Ich kann mich selten daran erinnern, höchstens an kürzlich erfolgte Träume.

    Dr. W. H.:

    Ja, zum Beispiel?

    ME/CFS-Patient:

    Ich stand vor der Abschlussprüfung und dachte ich komm nicht durch.

    Dr. W. H.:

    Aha, da haben wir es! Das belastet Ihren gesamten Körper weil Sie ständig unter Anspannung stehen!

    ME/CFS-Patient:

    Nein, das war erst vor einer Woche und überhaupt der erste Traum zu diesem Thema es gab auch viele schöne Träume.

    Dr. W. H.:

    Das macht nichts, wenn Sie unter Anspannung sind bekommen Sie Schmerzen in den Muskeln …

    ME/CFS-Patient:

    ? (Schweigen)

    Dr. W. H.:

    Bitte stehen Sie mal auf und ziehen Sie die Schuhe aus, ich will Sie kurz untersuchen

    ME/CFS-Patient:

    Gut.

    Dr. W. H.:

    Bitte stehen Sie auf einem Bein und nehmen Sie die Hand … usw. Jetzt in meine Richtung gehen .. ja gut … und wieder zurück usw. usw. (Abklopfen mit Gummihammer usw.)

    ME/CFS-Patient:

    ???

    Dr. W. H.:

    Ok, Ich werde Ihnen jetzt ein neues Medikament aufschreiben, es hellt Ihre Stimmung auf und entspannt.

    ME/CFS-Patient:

    Ich bin aber nicht traurig und auch nicht deprimiert, ich habe trotz Allem meinen Humor bis heute erhalten.

    Dr. W. H.:

    Keine Sorge, dieses Medikament macht nicht abhängig, es ist das modernste heute verfügbare Mittel gegen solche Beschwerden … und Sie sollten in eine REHA damit Sie dort regelmäßig Sport und Bewegung haben, dort stehen Sie früh auf und Sie müssen sich Bewegen, dafür sorgen dann die Gruppenleiter … Zu Hause macht man es meistens eh nicht …

    ME/CFS-Patient:

    Doch ich habe immer regelmäßig Sport betrieben, aber gut, ich will darüber nachdenken … (Dr. W. H. schreibt eine Überweisung zur REHA)

    Dr. W. H.:

    Zuvor nehmen Sie aber erst einmal die komplette Packung des Medikaments welches ich Ihnen aufschreibe, es heißt Ariclaim und ist sehr wirkungsvoll, … bitte nicht zwischendurch die Einnahme aufhören!

    ME/CFS-Patient:

    Hat das Medikament Nebenwirkungen?

    Dr. W. H.:

    Nein, nichts, was Ihren Zustand verschlimmern würde.

    ME/CFS-Patient:

    Ok, ich besorge das Medikament.

    Dr. W. H.:

    Gut, dann Auf Wiedersehen!

    ME/CFS-Patient:

    Auf Wiedersehen.

     

    In der Apotheke fragte man mich, ob ich weiß, wie das Medikament einzunehmen ist. Ich sagte, dass Herr Dr. W. H. nichts darüber sagte. Die Apothekerin wundert sich und schüttelt den Kopf.

    Ich habe die halbe Packung laut Anleitung aufgebraucht, aber statt einer Aufhellung exakt das Gegenteil verspürt, nämlich starke Depressionen welche ich nie zuvor hatte. Ich habe die Einnahme abgebrochen. Mit Herrn Dr. W. H. will ich nichts mehr zu tun haben!

    Ich habe ihn lediglich angerufen und ihm die Reaktion mitgeteilt, er meinte, dass er das nicht verstehen könne, das Medikament sei doch so gut. Es ist das Beste bis jetzt, meinte er und er hätte noch nichts Nachteiliges gehört.

    Diese Aussage machte er, obwohl im Beipackzettel über die Möglichkeiten von Depressionen bis Aufkommen von Suizidgedanken und mehr hingewiesen wird. Herr Dr. W. H. kann den Beipackzettel selbst wohl kaum durchgelesen haben … oder er leidet selbst an einer Krankheit, welche die Dinge vergessen lässt?

     

    Kommentar und Aufruf: Wehren Sie sich, wenn Ihnen Vergleichbares widerfährt!

    Ist es tatsächlich „Vergesslichkeit“, an der Dr. W. H. zu leiden scheint, oder leidet er womöglich auch an Wahrnehmungsstörungen? 

    Denn wenn man sich den „Dialog“ ansieht, ist augenfällig, dass Dr. W. H. überhaupt nicht zuhört, bzw. gar nicht wahrnimmt, was der Patient sagt. Dr. W. H. hat offenbar eine vorgefasste Meinung und ignoriert sämtliche Aussagen des Patienten, die dieser widersprechen würden. Die mitgebrachten Unterlagen schaut er sich nicht an. Er erhebt also keinerlei Krankengeschichte und dennoch verordnet er am Ende ein verschreibungspflichtiges Psychopharmakon und eine „Reha“, bei der Sport als „Therapie“ durchgeführt wird.

    Er scheint ein vorgefertigtes Muster im Kopf zu haben, das da lautet: Patienten, die erschöpft sind, haben eine Depression, und da muss man ein Antidepressivum und überwachten Sport verordnen, und dann sind die Patienten wieder gesund.

    Es scheint überhaupt nicht wahrzunehmen, dass alles, was der Patient sagt und durch sein Verhalten vermittelt, diesem Muster widerspricht. Es scheint völlig egal zu sein, was dieser sagt. Er interpretiert sein vorgefertigtes Muster „Menschen, die angeben, an CFS zu leiden, haben eine Depression“ geradezu gewaltsam in die Aussagen des Patienten hinein, obwohl es weder in seinem Auftreten noch in seiner Krankengeschichte Anhaltspunkte für eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung gibt. Er erklärt einen vor einer Woche geträumten Traum als Indiz für eine seelische Störung, die die bereits zwei Jahrzehnte andauernde, schwere Erkrankung des Patienten verursache. Eine solche Schlussfolgerung ist allein unter dem Aspekt der zeitlichen Abfolge vollkommen abwegig.

    Wahrnehmungsstörung? Ignoranz? Unfähigkeit oder schlicht eine Unverschämtheit?

    Wenn in einer normalen Alltagsbegegnungen durch das Gegenüber eine solche Schlussfolgerung gezogen wird, würde man sagen, das ist irgendetwas zwischen absurd und unverschämt. Wenn einem so etwas in einem Arzt-Patient-„Dialog“ passiert – bei einem Arzt, bei dem man in verzweifelter Lage Hilfe sucht und der sich selbst als Spezialist für „CFS“ hält und diesbezüglich bundesweit als Gutachter tätig ist –, so ist das im besten Falle eine fahrlässige Fehldiagnose, im schlimmsten Falle grenzt sie an Körperverletzung, und zwar durch „Therapieempfehlungen“ wie Sport, die nachgewiesenermaßen bei ME/CFS die Krankheitsmechanismen anheizen und sowohl den akuten Zustand als auch die Prognose der Patienten dramatisch verschlechtern können.

    (Siehe die zahlreichen Artikel von Maes/Twisk und VanNess, von Martin Pall und anderen Autoren auf dieser Website, z.B. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier. (2011 und 2012 hinzugekommen: hier und hier.) Ein gerade erschienener Überblicksartikel zur sogenannten post-exertional malaise, der Zustandsverschlechterung nach Belastung, findet sich hier, ein früherer dazu hier. Auch das unten wiedergegebene Schaubild macht die Anomalien von ME/CFS-Patienten nach körperlicher Belastung augenfällig, auch ohne dass man versteht, was die einzelnen Werte bedeuten.)

    Man könnte meinen, der Ablauf dieses „Gesprächs“ sei eine Ausnahme – aber nach allem, was ME/CFS-Patienten in Foren und in persönlichen Gesprächen berichten, kommt so etwas sehr häufig vor, vor allem bei medizinischen Gutachtern, die sie aufsuchen müssen im Rahmen von Rentenanträgen, Ansprüchen an eine private Berufsunfähigkeitsversicherung und Anträgen bei Versorgungsämtern.

    Dr. W. H. setzt Maßstäbe für Gutachter

    Dieser Herr Dr. W. H. hat daran einen ganz wesentlichen Anteil. Als Neurologe und Psychiater und bei der Versicherungsindustrie beliebter Gutachter für „CFS“-Patienten und Verfasser mehrerer „Standard“-Werke und Artikel zur Begutachtung und Behandlung von „CFS“-Patienten setzt er Maßstäbe für andere Ärzte. Er wird von der Deutschen Rentenversicherung immer wieder als Fortbilder für Ärzte zum Thema „Somatoforme Störungen“ herangezogen (zu denen er ME/CFS zählt), und da er als „Spezialist“ gilt, werden andere Ärzte seine Ansichten und sein Vorgehen erst einmal nicht infrage stellen. Er bezeichnet Krankheiten wie ME/CFS, Fibromyalgie, Sick-Building-Syndrom und Multiple Chemikaliensensitivität abfällig als „moderne Leiden“ und „neue Krankheiten“ und hält Fibromyalgie für einen „entbehrlichen Krankheitsbegriff“.

    Deshalb begutachtet er laut einer von ihm verfassten Powerpoint-Präsentation diese „modernen Leiden“ als wahlweise Neurasthenie (F48.0), Somatisierungsstörung (F45.0), somatoforme, autonome Funktionsstörung (F45.3), anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4), hypochondrische Störung (F45.2)oder Depression mit Vitalstörungen. (F-Diagnosen sind in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO, den ICD-10, als psychiatrische Diagnosen klassifiziert, während ME/CFS eindeutig als neurologische Krankheit unter G.93.3 klassifiziert ist. Eine gleichzeitige Klassifikation ein und derselben Krankheit unter zwei verschiedenen Kategorien ist laut Schreiben der WHO nicht gestattet, - aber das kümmert Gutachter wie Herrn Dr. W. H. offenbar wenig.)

    Klarstellung der Einordnung der Krankheiten durch die WHO

    Dr. B. Saraceno von der WHO hat die Klassifikation der WHO in einem Schreiben vom 16. Oktober 2001 klargestellt:

    „Ich möchte die Situation bezüglich der Klassifikation von Neurasthenie, Fatigue Syndrome, Postviralem Fatigue Syndrom und Benigner Myalgischer Enzephalomyelitis klarstellen. Lassen Sie mich klar und deutlich feststellen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre Position in Bezug auf diese Krankheiten seit der Veröffentlichung der 10. Ausgabe der Internationalen Klassifikation der Krankheiten im Jahr 1992 und in der Version in den Folgejahren nicht geändert hat.“

    Das Postvirale Fatigue Syndrom bleibt in der Kategorie der Krankheiten des Nervensystems als G93.3. Die Benigne Myalgische Enzephalomyelitis ist in dieser Kategorie miteingeschlossen.

    „Die Neurasthenie bleibt unter den Kategorien der psychischen und Verhaltensstörungen als F48.0 und das Fatigue Syndrom (man beachte: NICHT DAS CHRONIC FATIGUE SYNDROM) gehört zu dieser Kategorie. Jedoch ist das Postvirale Fatigue Syndrom aus F48.0 explizit ausgeschlossen.“

    Eine weitere Klarstellung

    André l’Hours vom Hauptsitz der WHO lieferte am 23. Januar 2004 eine weitere schriftliche Klarstellung

    „Hiermit wird bestätigt, dass nach den taxonomischen Prinzipien (den Klassifikationsschemata, d.Ü.), die für die Zehnte Revision der Internationalen Statistischen Klassifikation der Krankheiten und darauf bezogener Gesundheitsprobleme (ICD-10) der Weltgesundheitsorganisation maßgeblich sind, es nicht gestattet ist, ein und dieselbe Krankheit unter mehr als einer Rubrik einzuordnen, da dies bedeuten würde, dass die einzelnen Kategorien und Unterkategorien sich nicht mehr gegenseitig ausschließen.“

    André L’Hours stellte klar, dass jedes Land, dass die WHO-Bestimmungen für die Bezeichnungen der Krankheiten akzeptiert, verpflichtet ist, die Klassifikation der ICD zu akzeptieren.

    Das englische Original dieses Textes finden Sie z.B. hier oder hier.

     

    ME/CFS oder Depression? Eigentlich leicht zu unterscheiden...

    Dieser Gutachter – den man angesichts seiner Missachtung der ihm anbefohlenen hilfsbedürftigen Menschen eher als Missachter bezeichnen sollte – hat nicht einmal das kleine Einmaleins der Unterscheidung von Depressionen von anderen Erkrankungen gelernt. Im Falle des ME/CFS ist eine solche Unterscheidung schon durch zwei sehr einfache Fragen zu klären, die da lauten:

    • „Geht es Ihnen nach dem Genuss von Alkohol besser oder schlechter?“

    • „Geht es Ihnen nach körperlicher Belastung, also etwa einem Spaziergang, besser oder schlechter?“

    Menschen mit einer Depression werden mit hoher Wahrscheinlichkeit bei beiden Fragen sagen, es ginge ihnen dann besser, während Menschen mit ME/CFS bei beiden sagen werden, dass es ihnen dadurch massiv schlechter geht.

    Eine weitere einfache Unterscheidungsmöglichkeit, die Prof. Leonard Jason immer wieder empfiehlt, ist den Patienten zu fragen, was er denn tun würde, wenn er morgen wieder gesund wäre? Menschen mit einer Depression wissen darauf nichts zu antworten, während ME/CFS-Patienten mit einer ganzen Liste an Aktivitäten aufwarten können, die sie sofort tun würden, wenn sie nur könnten.

    Und sie sind in ihrer gesamten Krankengeschichte immer wieder über ihre Belastungsgrenze hinausgegangen und tun das auch jetzt häufig noch, eben weil sie jede noch so kleine vorhandene Energiemenge nutzen, um aktiv zu sein. Sie wollen etwas tun, aber sie können es nicht.

    Selbst diese einfachen Fragen hat der Herr Obergutachter nicht gestellt, geschweige denn, dass er vor der Verordnung so invasiver und im Falle von ME/CFS potentiell schädlicher „Therapie“-Empfehlungen wie Psychopharmaka und Sport einmal im Labor hätte untersuchen lassen, wie etwa der Serotoninspiegel ist, wie die zahlreichen anderen biologischen Parameter aussehen, mit denen man auf der Ebene von Laborergebnissen bereits unterscheiden kann, ob man einen Menschen mit ME/CFS (und vielleicht sekundärer depressiver Verstimmung) oder einen Menschen mit primärer, majorer Depression vor sich hat. (Charles Lapp hat vor Jahren bereits einen schönen Artikel zur Unterscheidung von ME/CFS und Depression geschrieben - Sie finden ihn hier.)

    Eine Ausnahme oder ein exemplarischer Fall? 

    Ein Vorgehen, wie es anhand dieses Protokolls sichtbar wird, empfiehlt Dr. W. H. auch in seinen Schriften, die zahlreiche Gutachter als Vorlage für ihre Arbeit nutzen. Es ist also zu befürchten, dass dies dadurch eine weitverbreitete Praxis geworden ist – eine Praxis, die nichts weiter als ein Verbrechen an oft schwer kranken, verzweifelten Patienten ist. Denn die Konsequenzen einer solchen Falschbegutachtung gehen weit über körperliche Schäden hinaus – oft werden die Menschen von den Rentenbehörden gezwungen, sich in eine psychosomatische Klinik zu begeben, und wenn sie dort bei Frühsport und strammem „Therapie“-Programm nicht mithalten können, werden sie als Therapieverweigerer klassifiziert – mit der Folge, dass Arbeitsamt bzw. Rentenversicherung mit dem Entzug der mageren Sozialleistungen drohen.

    Das gleiche gilt, wenn sie eine solche „Reha-Maßnahme“ oder „Wiedereingliederungsmaßnahme“ des Arbeitsamtes aufgrund ihres erbärmlichen Gesundheitszustands überhaupt gar nicht erst antreten können. Selbstverständlich wird die Unfähigkeit, an dergleichen teilzunehmen, als mangelnde Kooperationsbereitschaft gewertet und mit noch weiteren psychiatrischen „Diagnosen“ geahndet. Und dass es hier nicht um Diagnosen im Sinne der Einleitung einer hilfreichen Therapie geht, sondern um regelrechte Verurteilungen oder gar Bestrafungen, die die Betroffenen weiter stigmatisieren und ins soziale und finanzielle Aus stellen, ergibt sich von selbst. Dem Patienten wird letztlich bescheinigt, dass er selbst schuld sei an seinem Zustand, sich im sekundären Krankheitsgewinn aale und durch Entzug der Sozialleistungen zum erwünschten Verhalten zu zwingen sei.

    Beispiele dafür, was Patienten sich von Ärzten und Psychologen immer wieder anhören müssen, selbst wenn sie schwere organische Begleiterkrankungen haben, können Sie in diesem Blog nachlesen: http://leben-mit-cfs.blogspot.com/

    Klicken Sie dort die Alltäglichen Zitate an. Sie finden hier nur einige der Aussagen, die sich die Patientin über Jahre immer wieder anhören musste. Man fragt sich, wie stark ein Mensch sein muss, um so etwas ohne psychischen Schaden zu überstehen. Und lesen Sie auch Meine Geschichte - dann wird Ihnen klar, welchen extremen körperlichen Leidensdruck Menschen mit ME/CFS haben - und dass sie sich nichts sehnlicher wünschen würden, als dass ihr Elend mit ein bisschen Sport und Verhaltenstherapie zu verscheuchen sei. Leider bringt dieser Voodoo-Zauber bei ME/CFS nichts!

    Und wenn Sie entsprechende Patientenforen aufsuchen und die zahlreichen, erschütternden Berichte kranker Menschen über ihre Erfahrungen im Medizinbetrieb lesen, dann können Sie den Glauben an die Menschheit verlieren.

    Was passiert hier mit schwer kranken, hilflosen und abhängigen Menschen?

    Bei dem hier zitierten Patienten handelt es sich um einen gebildeten Menschen im mittleren Alter, der als erfolgreicher Selbständiger und alleinerziehender Vater bereits einiges im Leben zustande gebracht und durchgemacht hat und der sich aufgrund dessen auch abzugrenzen und zu wehren weiß, wenn man ihn auf diese Weise misshandelt. Aber was ist mit Patienten, die dem Arzt vertrauen, die abhängig sind von seinem Urteil, die sich nicht in dieser Weise wehren können? Sind sind solchen Misshandlungen weitgehend hilflos ausgeliefert und müssen nur allzu oft noch die Erfahrung machen, dass man ihnen nicht glaubt, wenn sie solches berichten und dass Angehörige und Freunde eher dem Arzt glauben, als dem Patienten.

    Dieser Mann, der uns das Gedächtnisprotokoll zur Verfügung gestellt hat, ist immerhin noch „freiwillig“ zu Dr. W. H. gegangen, aufgrund einer Empfehlung seines Hausarztes, der es mit Sicherheit „gut“ mit ihm gemeint hatte. Aber wie viele Patienten werden von Rentenbehörden, Krankenkassen und Arbeitsämtern gezwungen, zu diesem oder ähnlichen Gutachtern zu gehen, und zwar unter der Drohung, ihnen jeglichen Lebensunterhalt zu entziehen? Diese Menschen werden einfach nur zu Opfern von unfähigen, vorurteilsbeladenen, nicht informierten Ärzten, denen das Schicksal ihrer Patienten völlig egal zu sein scheint.

    Wenn Ihnen so etwas widerfährt – stecken Sie es nicht ein!

    Trauen Sie Ihrer eigenen Wahrnehmung, trauen Sie dem, was Ihnen Ihr Körper mitteilt – die Natur hat es über Jahrmillionen der Evolution schon so eingerichtet, dass der Mensch genau fühlt, was für ihn gut ist und was ihm schadet. Und wenn Sie fühlen, dass Ihnen „Sport“ schadet und Sie Medikamente noch kränker machen als zuvor, dann hören Sie auf Ihr Gefühl – und nicht auf das Urteil oder die Empfehlung eines Arztes, der Ihnen offensichtlich nicht zuhört!

    Verstecken Sie sich nicht mit ihrer Verletztheit und Scham, dass Ihnen so etwas passiert ist! Wehren Sie sich bereits in der Situation, wenn Sie können. Schreiben Sie nach einem solchen Termin ein Gedächtnisprotokoll – das reinigt nicht nur die Seele, sondern kann in späteren Widerspruchsverfahren sehr nützlich sein. Und denken Sie immer daran: Auch ein Arzt hat sich an die Regeln des menschlichen Umgangs zu halten, gerade weil er mit Menschen zu tun hat, die sich in einer Situation von Hilflosigkeit und Abhängigkeit befinden.

    Fragen Sie den Arzt ganz freundlich und ohne Vorwurf, was er denn als letztes an biomedizinischer Forschung über ME/CFS gelesen hat, ob er informiert ist über charakteristische Zytokinprofile bei ME/CFS, über die pathologischen Mechanismen in der Energieproduktion (Stichwort: mitochondriale Dysfunktion), über Nitrostress und oxidative Schäden, über die Schädlichkeit von „Sport“, über die zahlreichen Viren und bakteriellen Infektionen, die man bei ME/CFS-Patienten findet. Fragen Sie ihn, ob er schon mal was vom dritten humanen Retrovirus, dem XMRV, gehört habe und ob er wisse, dass man dieses ansteckende Retrovirus bei der überwiegenden Mehrheit der ME/CFS-Patienten gefunden hat? Ob er wüsste, was ein Retrovirus anrichtet? Und auf welcher Basis er meinen würde, dass Antidepressiva und Sport diese Anomalien beseitigen könnten?

    Machen Sie sich einen Ausdruck dieser Ärztebroschüre mit einem Überblick zum Krankheitsbild ME/CFS und geben Sie sie allen Beteiligten.

    Empfehlen Sie ihm, sich den hervorragenden zusammenfassenden Vortrag über ME/CFS von Professor Anthony Komaroff anzusehen. Dort finden Sie u.a. dieses Schaubild von Alan Light, das mehr als alle Worte zeigt, wie unterschiedlich Gesunde und ME/CFS-Patienten auf körperliche Belastung reagieren:

    Siehe auch: http://www.jpain.org/article/PIIS1526590009005744/abstract?rss=yes

    Sagen Sie ihm: „Sie müssen mir das erklären, wie Sie darauf kommen, dass all meine organischen Symptome Ausdruck einer Depression sein können und Ihre Therapieempfehlungen helfen sollen - Sie sind schließlich der Fachmann, und ich bin nur ein Patient. Erklären Sie mir, wie durch Antidepressiva und Sport diese Anomalien hier weggehen sollen. Welche Studie beweist das?“

    Sagen Sie ihm: „Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Sie mit so einer komplexen Krankheit, wie ich sie habe, nichts anfangen können. Das geht den meisten Ihrer Kollegen nicht anders. Und ich bin mir auch vollkommen darüber im Klaren, dass es schwer ist, mir zu helfen, und dass man ME/CFS nicht heilen kann. Aber ich möchte dafür nicht die Schuld in die Schuhe geschoben bekommen, und ich möchte trotzdem auf menschenwürdige Art und Weise behandelt werden und hoffe darauf, von Ihnen in meiner verzweifelten Lage Unterstützung zu erfahren.“

    Vielleicht bieten Sie dem Arzt oder Gutachter mit einem Verhalten, wie es Frank Neuendorff empfiehlt, noch einen Ausweg aus der absurden Situation, die schon dadurch entsteht, dass Sie wahrscheinlich Sie viel besser informiert sind, als der Mensch auf der anderen Seite des Schreibtisches. Vertreten Sie Ihre Interessen mit freundlicher Bestimmtheit – denn dieser urteilt über Sie und entscheidet über Ihre Zukunft, über Ihre finanzielle Absicherung, über Ihr Ansehen, über Ihre Möglichkeit, in Zukunft eine angemessene Behandlung zu finden! Dieser Mensch hat große Macht, und Sie müssen ihn zur Not sanft zwingen, mit dieser Macht verantwortungsvoll umzugehen!

    Vielleicht können Sie das Blatt noch wenden und eine Verständigung herstellen. Aggressiv werden und allzuviel argumentieren nutzt irgendwann nichts mehr. Wenn Sie jemanden vor sich haben, der nicht zuhören will und so offensichtlich eine vorgefasste Meinung hat wie Dr. W. H., dann ist jeder Versuch Ihrerseits wahrscheinlich vergebens. Um mit den Worten Frank Neuendorffs zu sprechen: Reiten Sie kein totes Pferd – dann steigen Sie besser ab.

    Wenn Sie an jemanden wie Dr. W. H. geraten, der so eindeutig kommunikationsunfähig ist, dann kann man nur noch gehen und versuchen, sich jemanden anderes zu suchen, einen Gutachter für befangen zu erklären oder sich bei der Ärztekammer, beim Menschenrechtsbeauftragten Ihrer Ärztekammer, bei den Krankenkassen und Rentenversicherungen zu beschweren. Lassen Sie sich das nicht gefallen. Wenden Sie sich an die Medien, wenden Sie sich an Patientenorganisationen, machen Sie das Unrecht öffentlich.

    Wenn Sie eine Rechtsschutzversicherung haben, suchen Sie sich einen Anwalt, der sich mit der Problematik von ME/CFS-Patienten auskennt und der Ihnen bei einer Falschbegutachtung beisteht. Suchen Sie sich Helfer, denn wahrscheinlich sind Sie selbst zu schwach, um diese Kämpfe alleine durchzustehen!

    Der Fatigatio e.V. hat sich bereits in einem Schreiben Ende 2008 über diesen Herrn Dr. W. H. bei der Deutschen Rentenversicherung und beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales beschwert, als dieser mal wieder eine seiner Fortbildungen zur Begutachtung somatoformer Störungen hielt, zu denen er fälschlicherweise auch ME/CFS zählt.

    Das Anliegen des Fatigatio e.V., die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ME/CFS als einer biomedizinischen Erkrankung zu berücksichtigen und die veraltete und falsche Gleichsetzung mit psychischen Erkrankungen aufzugeben, wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur Prüfung an das Bundesversicherungsamt weitergeleitet.

    Dieses bestätigte in einem Antwortschreiben an den Fatigatio jedoch nur, dass es sich weiterhin nach den alten falschen Einordnungen als psychiatrische/somatoforme Störungen richtet und eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Klinik mit körperlicher Aktivierung und Verhaltenstherapie für die am meisten erfolgversprechende Therapie hielte. Und dass sie selbstverständlich immer den neuesten Stand der Wissenschaften berücksichtigen und in ihre Fortbildungen und Leistungsbescheide mit einfließen lassen würden. Und dass die ihnen vorliegenden Ausführungen plausibel und widerspruchsfrei seien.

    Offensichtlich besteht bei dieser Behörde noch dringender Aufklärungsbedarf über den tatsächlichen Stand der Wissenschaft! Aus den Literaturlisten in Veröffentlichungen der entsprechenden Fachleute wird ersichtlich, dass sie die biomedizinische Forschung zu ME/CFS komplett ignorieren, d.h. etwa 5000 Veröffentlichungen in medizinischen Fachzeitschriften, die eindeutig die biologischen Anomalien bei ME/CFS beschreiben, die sich von somatoformen Störungen und Depressionen in der Regel stark unterscheiden.

    Diese Beschwerde war also in etwa so wirkungsvoll, als hätte man einen Ochsen ins Horn gepetzt. So kommen wir nicht weiter, wir müssen uns andere Formen des Protests überlegen!

    Nur wenn wir als Patienten das Unrecht anprangern, was uns geschieht, wird sich etwas ändern. Mit guter Information alleine tut sich nichts – denn diese gibt es zu Hauf, aber sie wird nicht beachtet. Die Herren und Damen Ärzte weigern sich viel zu oft, sich auf dem Stand der Wissenschaft zu halten und die vorhandenen Informationen wahrzunehmen – und welche Mittel haben wir sonst, sie dazu zu zwingen, uns zumindest nicht mehr zu misshandeln??? Nur das Anprangern des Skandals kann uns helfen – das ist meine Meinung nach fast fünf Jahren Arbeit an cfs-aktuell und fast 10 Jahren Arbeit im Rahmen der Patientenorganisationen.

    Wenn wir nicht aufstehen und laut werden – auch wenn unsere Stimmen schwach sind – wird sich nichts ändern. Deshalb: wehren Sie sich! Sie sind nicht allein!

    Regina Clos

    PS. Und verlieren Sie trotz allem niemals Ihren Humor!