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    Artikel des Monats August 2010 Teil 4

    Dichtung und Wahrheit in Gutachten

    Bericht von M. S. über die Begutachtung durch einen Psychiater

    Nachdem ich über 1 Jahr krankgeschrieben war und in nächster Zeit mein Krankengeld ausgelaufen wäre, stellte ich einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Da mich jeder weitere Arzttermin sehr anstrengte und meinen Zustand verschlechterte, gab ich an, dass der Gutachter zu mir nach Hause kommen sollte.

    Der Termin wurde für nachmittags um 14:30 Uhr angesetzt, was schon sehr schlecht war, da ich morgens am aufnahmefähigsten bin, mich besser konzentrieren kann und mehr Kraft habe. 

    Einige Tage vor diesem Termin wurde mir eine Art Fragebogen zugeschickt, welchen ich bis zum Termin ausfüllen sollte. Auf diesem Bogen wurden Aussagesätze aufgeführt, hinter denen man das ankreuzen sollte, was für einen selber zutrifft (1=überhaupt nicht, 2=ein bisschen, 3=ziemlich stark, 4=sehr stark). Dort standen Aussagen, wie z.B. „Ich denke daran, mit dem Leben Schluss zu machen“, „Dem anderen Geschlecht gegenüber bin ich scheu und unsicher“, „Ich denke an das Sterben und den Tod“, „Ich fühle mich wertlos“ usw. Ich habe bei diesen Aussagen überall die Nummer 1 angekreuzt, da sie auf mich nicht zutreffen.

    Nachdem der Gutachter, ein Psychiater, mit meiner Mutter und mir am Wohnzimmertisch Platz genommen hatte, fragte er mich, was mir fehle. Auf meine Antwort, ich habe CFS sagte er: „CFS gibt es nicht. Das ist eine Erfindung von Menschen mit schweren Depressionen, die ihre Depression nicht wahrhaben möchten“. Daraufhin versuchte ich ihm zu erklären, das CFS eine reale physische Erkrankung sei, aber ich stieß auf taube Ohren.

    Zuerst wurden mir einige Fragen zu meinem Lebenslauf, Vorerkrankungen usw. gestellt. Dann wurde gefragt,  wie das bei mir mit dem Autofahren aussehe. Ich erwiderte, dass ich so gut wie überhaupt nicht mehr fahren könne, da ich zu müde und körperlich zu erschöpft sei, was sich auch auf meine Konzentration auswirke. Ich erklärte, dass, wenn ich einen guten Tag und einen Termin bei meinem Hausarzt habe (höchstens 5 Minuten Autoweg), ich dort selber hinfahren könne, aber dies sei nicht immer so. Daraufhin wurde ich gefragt, ob ich schon einmal einen Autounfall hatte, was ich bejahte, und erklärte, dass ich 1 Woche nachdem ich meine Führerscheinprüfung bestanden hatte, einen Autounfall hatte (damals war ich 18 Jahre alt). Daraufhin wurde mir unterstellt, dass ich kein Auto mehr fahre, weil ich Angst vor einem Unfall habe, da ich immer an den Unfall von damals denken muss. Das ich jahrelang täglich mit dem Auto zur Arbeit fuhr, interessierte den Gutachter nicht.

    Meine Mutter wurde gefragt, ob ich eine gute Schülerin war, was sie bejahte. Kurze Zeit später, nach ca. 20 Minuten, wurde meine Mutter vom Gutachter aus dem Zimmer gebeten, mit dem Argument, er wolle ein paar körperliche Untersuchungen durchführen. Als meine Mutter draußen war, checkte er meinen Blutdruck und meinen Puls. Nachdem dies geschehen war, sollte ich eine kurze Strecke in gerader Linie laufen, mich auf Fersen und Zehen stellen, was ich schaffte, und einmal in die Knie gehen, wovon ich allerdings nicht mehr hochkam, mich festhalten musste und dabei fast in den Fernseher fiel. Dann legte er richtig los mit Demütigungen, Beleidigungen und Unterstellungen.

    Er kam auf meine schulischen Leistungen zurück und fragte mich, welchen Notendurchschnitt ich hatte, was ich mit 2 beantwortete. Daraufhin fragte er, ob ich auch Einser geschrieben habe, was ich auch bejahte und hinzufügend noch sagte, dass ich aber auch eine 5 geschrieben habe. Als Gegenantwort kam, dass ich immer die Beste sein wollte, alles korrekt erledigen wolle und da das Wohnzimmer, in dem wir saßen, so sauber und aufgeräumt ist, gehöre ich zu den Menschen, die sich selber unter Druck setzen und das würde mich krank machen. Ich versuchte meinem Gegenüber zu erklären, dass ich aufgrund meiner Erkrankung nicht mehr in der Lage sei, einen Haushalt zu bewältigen und dass dies das Wohnzimmer meiner Eltern sei, welches meine Mutter sauber hält und aufräumt, aber auch davon wollte der Gutachter nichts hören.

    Dann wurde ich gefragt, ob ich in der Zeit meiner Krankheit ab- oder zugenommen habe, woraufhin ich sagte, dass ich in dieser Zeit 4 Kilo zugenommen habe. Daraufhin musterte  der Gutachter mich und sagte „Sie sind aber trotzdem nicht dick.“, woraufhin ich nickte und sofort an den Kopf geworfen bekam, dass ich meinen Körper nicht akzeptieren würde, was der Grund wäre, dass ich nun krank bin.

    Als nächstes war der Bogen dran, den ich ausfüllen sollte. Ich gab ihn dem Gutachter, der sofort anfing lauthals zu Lachen und sagte „Die Antworten sind komplett gelogen.“ Ich wies ihn darauf hin, dass das ganz sicher nicht stimme und dass ich nicht gelogen habe, aber das interessierte ihn nicht. Er verlangte von mir eine Rechtfertigung, weshalb ich nicht vorhabe mich umzubringen.

    Dann kam die Frage, weshalb ich nicht zu ihm in die Praxis gekommen sei bzw. weshalb er einen Hausbesuch machen sollte. Ich erklärte ihm, dass ein Arzttermin für mich extrem anstrengend sei (Hin- und Rückweg, lange Wartezeit, Gespräch) und ich nachmittags prinzipiell nicht mehr aus dem Haus könne. Nachdem ich mit meiner Erklärung fertig war, wurde mir gesagt, dass ich nicht in Arztpraxen gehen könne, weil ich Angst vor Ärzten habe und mich das psychisch fertig machen würde und nicht, wie ich behaupten würde, ein körperliches Problem sei.

    Es kamen noch Fragen, welches meine Lieblingsserie im Fernsehen sei und ob ich im Internet mit Männern oder mit Frauen schreiben würde.

    Während des Gesprächs sagte der Gutachter plötzlich zu mir, dass er ein paar „Tränchen“ sehen würde, was nicht stimmte. Während des Gesprächs hatte ich nicht einmal feuchte Augen oder dergleichen. Ich sagte ihm, dass das nicht stimmen würde, woraufhin zwei, drei Beleidigungen von ihm kamen und danach sofort der Satz „Jetzt kommen aber ein paar Tränchen.“, was wieder nicht stimmte. Ich hatte den Eindruck, dass mein Gegenüber es sehr schade fand, dass ich nicht weinen musste.

    Leider war ich die ganze Zeit, in der meine Mutter nicht anwesend war, so damit beschäftigt mich zu verteidigen, das ich nicht daran dachte, meine Mutter wieder hereinzubitten und somit einen Zeugen für diese ganze Unterhaltung zu haben. Dieser Gutachtertermin war von einem unabhängigen Gutachten meilenweit entfernt. Der Gutachter kam schon mit einer Diagnose zur Tür herein, nach dem Motto „Ich bastele mir einen Patienten, passend zur vorher feststehenden Diagnose.“ Darüber hinaus war ein Gespräch nicht möglich, da mein Gegenüber nicht in der Lage war, mich aussprechen zu lassen und mir nach drei, vier Sätzen immer wieder ins Wort fiel. Außerdem hatte ich zeitweise den Eindruck, er machte sich über mich lustig.

    Als der Gutachter aus dem Haus ging, sagte er mir zum Abschied, dass, wenn ich eine Psychotherapie machen würde, ich diese unbedingt bei ihm machen sollte, da er der einzige Therapeut wäre, der mir helfen könne.

    Das Gutachten, welches er geschrieben hatte, strotzte vor falschen Aussagen und es wurden Sätze angegeben, die ich so nie gesagt habe. Meine Blutuntersuchungen beispielsweise, die eine Virenbelastung nachweisen, wurden als „“homöopathische Befunde“ tituliert. Das einzige „homöopathische“ daran war die Empfängeradresse, da das Ergebnis aus dem Blutlabor an meinen Heilpraktiker geschickt wurde.

    Die Diagnose des Gutachters lautet „schwere Konversionsneurose“.

    (Der Name der Patientin - M. S. - ist mir bekannt. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Hervorhebungen R.C.)

     

    Wie es nach diesem Gutachtenstermin weiterging...

    Die Patientin hat sofort nach dem Besuch des Gutachters eine Beschwerde bei der Rentenstelle eingereicht und wenig später auch noch bei der Ärztekammer.

    Sie musste der Rentenstelle monatelang hinterherlaufen, um eine Kopie des Gutachtens zu bekommen, das der Psychiater aufgrund der oben dargestellten Begutachtung erstellt hatte. Dieses kam dann schließlich, gleich zusammen mit einem Antrag für eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen Klinik.

    Kein Wunder, denn der Gutachter war der Meinung, dass die Patientin nach drei Monaten Reha wieder gesund sei und arbeiten gehen könne. Seine Diagnose lautete ja schwere Konversionsneurose, und an dieser Konversionsneurose solle in der Reha gearbeitet werden, und sie solle dort lernen, mit Menschen wieder real und nicht nur über das Internet zu kommunizieren. Er hatte sich in dem Gutachten darüber mokiert, dass ihm die Patientin gesagt hatte, er solle sich erst einmal über CFS informieren, bevor er darüber spreche und über eine davon betroffene Patientin ein Gutachten erstelle.

    Die Patientin hat einige Zeit nach der Begutachtung erneut einen schweren Rückfall und wurde wieder bettlägerig - dessen ungeachtet war sie laut Bescheid der Rentenstelle in der Lage, 3-6 Stunden täglich arbeiten zu gehen. Selbstverständlich hat die Patientin dagegen Widerspruch eingelegt, und zwar auch gegenüber dem Präsidenten der Rentenstelle - mit dem Erfolg, dass die Reha gestrichen und sie als komplett arbeitsunfähig anerkannt wurde.

    Die Ärztekammer, bei der sie Beschwerde gegen diesen Gutachter eingereicht hatte, teilte ihr nach einer Weile mit, sie müsse zunächst rechtlich gegen das Gutachten vorgehen und nachweisen, dass der Gutachter ein Fehlverhalten an den Tag gelegt hätte und dass die Ärztekammer nichts tun könne.


    Ein halbes Jahr später - vorher hat sie es kräftemäßig nicht geschafft - hat die Patientin an den Präsidenten der Landesärztekammer geschrieben - mit gewissem Erfolg: Man teilte ihr mit, dass sich der Gutachter hinsichtlich seines Verhaltens ihr gegenüber bei der Rechtsabteilung der Landesärztekammer Stellung beziehen muss. Darüber berichtete die Ärztekammer dann in einem weiteren Schreiben, der Gutachter hätte ihren Vorwurf des ärztlichen und menschlichen Fehlverhaltens zurückgewiesen. Die Ärztekammer könne kein Fehlverhalten erkennen, und aus der Tatsache, dass beide unterschiedliche Aussagen gemacht hätten, schließe man, dass es ein „Verständigungsproblem“ zwischen Gutachter und Begutachteter gegeben hätte. Und dass die Ärztekammer eine „diesbezügliche Bewertung“ nicht vornehmen könne, da sie ja bei dem Gutachtenstermin nicht anwesend gewesen sei...

     

    Kommentar

     

    von Regina Clos

    Diese „Begutachtung“ widerspricht in allen Aspekten auf so eklatante Weise dem hippokratischen Eid, nach dem ein Arzt dem Patienten nicht schaden soll, dass sich ein Kommentar eigentlich erübrigt. Aus meiner Sicht zeugt das Verhalten dieses Gutachters von Menschenverachtung und Sadismus und ist in keinster Weise geleitet von dem Wunsch, einem kranken Menschen zu helfen.

    Man könnte diese Erfahrung als extremen Einzelfall abtun, aber das ist sie leider nicht. Immer wieder erreichen mich Berichte dieser Art, und die Betroffenen sind nach einer solchen Begutachtung“ zutiefst verletzt, verstört und verängstigt, sie sind regelrecht traumatisiert.

    Um zu erkennen, dass es sich hier nicht um einen extremen Einzelfall, sondern um ein grundsätzliches Problem handelt, ist es durchaus sinnvoll, sich einmal in die Hintergründe der Erststellung von Gutachten bei ME/CFS zu vertiefen.

    Wieso ein Psychiater für eine neuro-immunologische Erkrankung?

    Da ist zunächst einmal die Frage, wieso ME/CFS Patienten eigentlich von vorne herein von Psychiatern begutachtet werden, obwohl sie an doch an einer neuro-immunologischen Multisystemerkrankung leiden? Diese Psychiater haben in der Regel von Immunologie, von Infektologie und von innerer Medizin wenig bis gar keine Ahnung und sind schon gar nicht auf dem neuesten Stand der Wissenschaft im Hinblick auf die Erforschung der biologischen Ursachen des ME/CFS.

    Der im Artikel August 2 erwähnte Brief des Bundesversicherungsamtes bringt uns hier auf die richtige Spur. Dort werden die Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung von Menschen mit psychischen Störungen, Dezember 2006 erwähnt, auf die man sich bei der Begutachtung von ME/CFS-Patienten in Rentenverfahren stützt.

    Aus diesen Leitlinien ergibt sich ganz klar eine Einordnung des „CFS“ unter psychiatrischen Erkrankungen, und zwar aufgrund der angeblichen Ähnlichkeit der Symptomatik. Von daher ist es logisch, dass als Gutachter Psychiater benannt werden und nicht etwa Internisten, Immunologen, Infektionsspezialisten oder andere für uns eigentlich zuständige Fachärzte. Dort liest man auf S. 48:

    Auch beim Chronic Fatigue-Syndrom“, dessen klinisches Bild sich in vielen Bereichen mit dem der ”Multiple Chemical Sensitivity” überschneidet, wird in der Fachliteratur auf die Ähnlichkeit mit dem unter ”Neurasthenie” operationalisierten Krankheitsbild (ICD-10: F48.0) verwiesen.

    Insgesamt betrachtet erscheint eine psychische Ätiologie sowohl bei CFS als auch bei MCS/IEI in vielen Fällen wahrscheinlich. Die bisherigen klinischen Erfahrungen in universitären Fachambulanzen und stationären Fachabteilungen lassen zumindest eine hohe psychische Komorbidität bei dieser Störungsgruppe als gesichert erscheinen.“

    „Die unter den Begriffen „Chronic Fatigue-Syndrom“ (CFS) bzw. ”Multiple Chemical Sensitivity” (MCS) zusammengefassten Beschwerdebilder haben wegen der problematischen Vermengung von symptomatischer Ebene, Syndrom-Ebene und nosologischer Zuordnung bislang keinen Eingang in die international gängigen Diagnoseklassifikationssysteme gefunden.“

    Diese Aussage ist schlicht falsch. Die WHO haben ME/CFS bereits seit 1969 als neurologische Erkrankung klassifiziert, und in den ICD-10 ist das Krankheitsbild ebenfalls unter neurologischen Erkrankungen unter der Kategorie G93.3 eingeordnet.

    (Weitere Auszüge aus den Leitlinien finden Sie unten. Wenn Sie heute einen schlechten Tag haben, lesen Sie die besser nicht. Die Autorin dieser Website übernimmt keine Haftung dafür, wenn Sie von der Lektüre gesundheitlichen oder seelischen Schaden davontragen!)

    Ebenso katastrophal und vom Tenor her identisch sind die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer Fachgesellschaften, der AWMF-Leitlinien, bei denen ME/CFS in der Leitlinie Somatoforme Störung als Neurasthenie (F48.0) beschrieben wird bzw. in der Leitlinie Müdigkeit in gleicher Weise als psychogene Störung abgehandelt wird.

    Dabei werden CFS, MCS und Fibromyalgie laut einer Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung nicht mehr als Somatisierungssyndrome bezeichnet. Näheres dazu finden Sie hier.

    Artikel 1

    Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung

    Die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) wird wie folgt geändert:

    2. Teil B wird wie folgt geändert:…

    d) In Nummer 18.4 werden die Wörter „Die Fibromyalgie und ähnliche Somatisierungs-Syndrome (zum Beispiel CFS/MCS)“ durch die Wörter „Die Fibromyalgie, das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), die Multiple Chemical Sensitivity (MCS) und ähnliche Syndrome“ ersetzt.

    Artikel 2

    Inkrafttreten

    Diese Verordnung tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

    Der Bundesrat hat zugestimmt.

    Berlin, den 1. März 2010

    Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales

    U r s u l a v o n d e r L e y e n

    Damit ist das Dilemma schon da, denn natürlich gehen die Psychiater bei einer Beauftragung durch die Rentenkasse oder andere Stellen davon aus, dass sie ein psychiatrisches Krankheitsbild zu begutachten haben. Deswegen hatte die ME/CFS-Patientin im obigen Fall auch einen Fragebogen zugeschickt bekommen, einem Test zur Erfassung der Schwere einer Depression geschaffen wurde, dem sogenannten TSD. Er hat ihr also nicht einen Fragebogen geschickt, mit dem zu erfassen wäre, ob überhaupt eine Depression oder ein anderes Krankheitsbild vorliegt, sondern er ging von vorneherein davon aus, dass eine Depression da ist und nur noch die Schwere derselben abgefragt werden müsse.

    Hier können Sie sich den Fragebogen ansehen - dass er die für ME/CFS charakteristische Symptomatik in keiner Weise erfasst, ist offensichtlich. Aber im Falle der jungen Patientin hat der Psychiater das nicht einmal gemerkt, als er die ehrliche Beantwortung durch sie sah - und statt zu realisieren, dass er auf dem Holzweg ist mit seinem Test, hat er ihre Antworten einfach als Lüge qualifiziert.

    Falsche Einordnung => falscher Gutachter => falsches Gutachten

    Die Tatsache, dass die Deutsche Rentenversicherung und andere Versicherungsträger aufgrund dieser falschen Einordnung des ME/CFS als psychiatrischer anstatt als neurologischer Erkrankung sofort einen Psychiater als Gutachter beauftragen, hat zur Folge, dass ein solcher Gutachtenstermin eigentlich nur schief gehen kann. Denn es würde die Rolle des Gutachters von vorneherein außer Kraft setzen, wenn er gesagt bekommt, Sie gehen hier von falschen Voraussetzungen aus und das, was Sie für eine Depression halten, ist in Wahrheit eine neuro-immunologische Erkrankung, die möglicherweise durch ein Retrovirus ausgelöst wird.

    Und wenn eine solche Information auch noch von dem Patienten kommt, der ja eigentlich das Objekt in dieser Situation ist, also der/die Abhängige, widerspricht der Gutachtenssituation diametral, denn sie definiert sich ja durch eine Machtgefälle, das in dem Moment herumgedreht würde. Immer wieder kommt es vor, dass die - richtige - Information der Patienten über ihr Krankheitsbild nicht nur nicht aufgenommen wird, sondern noch als Beweis für irgendeine Form der somatoformen Störung“ gewertet wird - so wie es der Teilnehmer eines Internetforums ausdrückt:

    ...even insisting we are sane can be used as evidence of personality disorders. (Sogar das Bestehen darauf, dass man nicht psychisch gestört ist, kann als Beweis für eine Persönlichkeitsstörung benutzt werden.)

    So ist auch der Patient von vorneherein in einer schizophrenen Situation: egal, wie er sich verhält, es führt immer zu einer falschen Begutachtung. Er/sie hat eigentlich keine Chance. Und wenn er/sie psychologisch völlig angemessen auf diese völlig verrückte Situation reagiert, indem er/sie wütend wird, weint oder einfach nur sachliche Informationen gibt, wird dies als Beweis für die psychogene Ursache seiner/ihrer Erkrankung angesehen (Zitat: Internetkrankheit“, angelesen“, dysfunktionale Kognition“). Das ist in der Tat verrückt. Nicht der Patient ist verrückt“, sondern die Lage, in die man ihn bringt.

    Einmal vorausgesetzt, ein Gutachter hätte die Größe, zuzugeben, dass er sich irrt oder die ihn beauftragende Stelle sich irrt – er müsste die Durchführung des Gutachtens ja ablehnen und sich dadurch nicht nur Ärger mit dem Auftraggeber einhandeln, sondern auch noch auf das Geld verzichten, das er mit seinem Gutachten verdient (und das ist eine nicht zu verachtende Summe). Möglicherweise würde er keine Aufträge mehr bekommen, wenn er das drei, vier mal gemacht hat.

    Er könnte natürlich auch ein Gutachten schreiben, in dem drinsteht, die Patientin erfüllt die Kriterien für eine Depression oder andere psychische Erkrankung nicht, wahrscheinlich leidet sie an einer Krankheit, die in das Fachgebiet der inneren Medizin, der Immunologie oder der Infektologie gehört, eine Einschätzung ihres Zustandes kann deshalb von mir nicht vorgenommen werden.

    Das würde erstens voraussetzen, dass er Ahnung hat, zweitens, dass er seine Grenzen anerkennen kann und drittens, dass er auf sein Geld verzichtet (oder zumindest auf einen Teil), und dass er viertens den Ärger seines Auftraggebers auf sich zieht, der die Sache ja dann nicht vom Tisch hat, sondern einen neuen, anderen, passenden Gutachter suchen muss.

    Was die Konsequenz aus all dieser Unbill ist, erleben viele Patienten mit ME/CFS zur Genüge. Natürlich gibt es auch Ausnahmen – ich kenne unter all den vielen Horrorberichten auch zwei oder drei, in denen die Gutachter sehr wachsam, sehr genau in ihrer Erhebung waren und die Patientinnen auch unterstützt haben.

    Immanente Widersprüche oder: legal, illegal, sch... egal.

    Der Gutachter dieser Patientin und viele andere Gutachter, die ME/CFS-Patienten eine „Depression“ und/oder eine „somatoforme Störung“ bescheinigen und sie in eine psychosomatische Reha schicken, haben eindeutig gegen die folgenden Forderungen aus den Leitlinien verstoßen, die da lauten:

    „Für die Durchführung einer Rehabilitation durch die gesetzlichen Rentenversicherung müssen folgende Grundvoraussetzungen erfüllt sein:

    • das Störungsbild darf nicht mehr akut behandlungsbedürftig sein;"

    Selbstverständlich hat bei der Patientin akuter Behandlungsbedarf bestanden. Aus der Tatsache, dass viele ME/CFS-Patienten überhaupt nicht behandelt werden, weil sich kaum ein Arzt damit auskennt und die wenigen, die es tun, meist privatärztlich abrechnen und völlig überlaufen sind, kann man nicht ableiten, dass die Krankheit nicht akut behandlungsbedürftig sei. Und erst dann, wenn sie das nicht mehr ist, ist die erste Grundvoraussetzung für die Durchführung einer Rehabilitation erfüllt – vorher nicht. Weisen Sie einen Gutachter also genau auf diesen Widerspruch hin!

    • der Versicherte muss den Sinn der Maßnahme verstehen können und die vorgesehenen Maßnahmen auch unter Berücksichtigung vorhandener Alternativen bejahen; − trotz möglicher Einschränkungen muss ausreichende Belastbarkeit zur Durchführung der Rehaleistungen vorliegen;"

    Die meisten ME/CFS-Patienten, „verstehen den Sinn der Maßnahme“ nicht, denn sie sind in der Regel viel zu krank, um an dem strammen Therapie- und Sportprogramm in einer solchen psychosomatischen Klinik teilzunehmen. Viele von ihnen bejahen die Maßnahme deshalb nicht, sondern sie beugen sich unter dem Druck der Drohung des Entzugs von Sozialleistungen und weil ihnen ansonsten bescheinigt wird, dass sie ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllen. Gehen Sie offensiv und sofort die Frage Ihrer nicht vorhandenen Rehafähigkeit an!

    Eine „ausreichende Belastbarkeit zur Durchführung der Rehaleistung“ liegt bei ME/CFS in der Regel nicht vor. Das ergibt sich allein schon aus dem zentralen Charakteristikum der Erkrankung, der Zustandsverschlechterung nach Belastung. Alle ME/CFS-Patienten, von denen ich bislang über den „Erfolg“ solcher Rehaleistungen berichtet bekommen habe, gaben an, dass es ihnen danach sehr viel schlechter ging, obwohl sie sich während des Aufenthalts bereits geweigert hatten, an allen Sportveranstaltungen etc. teilzunehmen – notgedrungen geweigert, weil sie es vor Schwäche einfach nicht konnten. Häufig sind sie für ihre Unfähigkeit, an den sportlichen und sonstigen Aktivitäten teilzunehmen, auch noch abgestraft worden durch den Vorwurf mangelnder Kooperationsbereitschaft, durch Schuldvorwürfe und durch weitere psychiatrisierende Diagnosen“, die sich dann in den Abschlussberichten wiederfinden.

    • es muss eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne der Rentenversicherung bestehen. Dies bedeutet, dass durch die Rehabilitation entweder eine auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwertbare Leistungsfähigkeit erreicht werden kann und/oder die Gefahr einer Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in zeitlicher und qualitativer Hinsicht abgewendet werden kann.“

    Dito. Aus den Erfahrungen der ME/CFS-Patienten ergibt sich ganz klar, dass es eben keinen Erfolg hatte, an den Reha-Maßnahmen teilzunehmen, d.h. Erfolg im Sinne der Rentenversicherung, also der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt.

    Das, was jeder einzelne ME/CFS-Patient am eigenen Leibe erfährt, nämlich, dass ein Überschreiten der teils äußerst eng gesetzten Grenzen der Belastbarkeit eine massive Verstärkung der Symptomatik hervorruft (das ist ja das zentrale Symptom der Erkrankung, die post-exertional malaise), ergibt sich allein schon aus den Ergebnissen des entsprechenden belgischen Großexperiments:

    Das belgische Großexperiment mit kognitiver Verhaltenstherapie und körperlichem Aufbautraining ein amtlich bestätigter Fehlschlag

    ein Leserbrief von Kathy Hugaerts an das British Medical Journal

    In Belgien hat die Regierung in den letzten fünf Jahren fünf CFS-Referenz-Zentren finanziert, in denen Patienten mit ME/CFS ausschließlich mit CBT/GET behandelt wurden. Dort wurden die Fukuda-Kriterien zur Auswahl der Patienten verwendet. Jedes Jahr wurden 1,5 Millionen Euro an die Zentren verteilt. Das ergibt in fünf Jahren eine Gesamtsumme von 7,5 Millionen Euro. In diesem Zeitraum wurden dort 800 Patienten behandelt.

    Das Belgian Health Care Knowledge Centre (KCE) hat 2009 nach fünf Jahren Laufzeit die Ergebnisse untersucht. Das KCE ist eine halbstaatliche Institution, die Analysen und Studien im Gesundheitsbereich durchführt. Ergebnis:

    • Patienten, die sich besser fühlen: 6 %

    • Patienten, die sich schlechter fühlen: 38 %

    • Patienten, die sich weder besser noch schlechter fühlen: die restlichen 56%

    Das Endziel der Referenz-Zentren und ihrer CBT/GET-Therapie wurde nicht erreicht: Nicht einer der Patienten ist ins Arbeitsleben zurückgekehrt.
    Dies bestätigt, dass CBT/GET wirkungslos und vielleicht sogar schädlich ist. Ein Artikel von Bagnall et al. (2007) zeigte, dass es keine Follow-up-Studie gibt, die die positiven Wirkungen von CBT/GET bestätigen würde. Trotz der überwältigenden Beweise biomedizinischer Studien, dass körperliche Belastung für ME-Patienten schädlich ist und trotz der verheerenden, negativen Ergebnisse des belgischen „Experiments“ wird die belgische Regierung im Jahr 2010 weiterhin 1,2 Millionen Euro in Form von Gutscheinen für Therapie mit körperlicher Aktivierung ausgeben. Die Gutscheine werden von Hausärzten ausgestellt.

    Dem zugrunde liegt natürlich die Idee, dass die Patienten eine Bewegungsphobie hätten und man sie für „selbst schuld“ erklärt. Ich kenne Patienten, die Selbstmord begangen haben, weil ihre Familien und Freunde diesen Theorien Glauben schenkten und den ME-Patienten ständig vorwarfen, sie seien „faule Säcke“.

    Die biopsychologische Schule trägt hier eine schwere Verantwortung. Mit ihren Theorien haben sie zu unnützem Leid beigetragen. Und statt den Patienten beizubringen, wie man mit Stress besser umgeht, haben sie noch tonnenweise Stress auf ihnen abgeladen. Der Fall von Lynn Gilderdale* ist ein trauriges Beispiel dafür, was passiert, wenn keine wirksame biomedizinische Behandlung zur Verfügung gestellt wird.

    Aus: www.bmj.com/cgi/eletters/340/feb11_1/c738#231460

    * Lynne Gilderdale, eine junge Britin, hatte sich im Dezember 2009 im Alter von 31 Jahren nach 17 Jahren schwerem CFS mit einer Überdosis Morphium das Leben genommen. Ihre Mutter Kay Gilderdale wurde zunächst verhaftet und wegen Beihilfe zur Selbsttötung angeklagt, das Verfahren wurde jedoch im Februar 2010 eingestellt. Der Fall wurde in den britischen Medien ausführlich diskutiert. Auch im British Medical Journal erschien ein Leitartikel der Psychiater Santhaus/Hotopf zur Problematik aktiver Sterbehilfe. Auf diesen bezieht sich der oben abgedruckte Leserbrief von Kathy Hugaerts.

    Die „Gefahr einer Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in zeitlicher und qualitativer Hinsicht“ wird bei ME/CFS-Patienten in aller Regel durch die empfohlene psychosomatische Reha mit Aktivierung und Verhaltenstherapie (GET/CBT) also nicht „abgewendet“, sondern sogar noch erhöht, da durch eine solche Überlastung der ME/CFS-Patienten sich die langfristige Prognose der Erkrankung erheblich verschlechtert.

    Das ergibt sich nicht nur aus dem belgischen Großexperiment, sondern auch aus den zahlreichen Studien und Artikeln von Michael Maes, Frank Twisk und VanNess und Kollegen:

    In Fallberichten haben wir aufgezeigt, dass Patienten, die an diesen CFS-Zentren mit CBT/GET “behandelt” wurden, in der Tat an Störungen der IO&NS-Pfade litten, einschließlich intrazellulärer Inflammation, einer erhöhten Translokation gram-negativer Enterobakterien (Leaky-Gut-Syndrom), autoimmunen Reaktionen und Schädigungen durch IO&NS. Angesichts der Tatsache, dass diese Befunde für ME/CFS-Patienten exemplarisch sind und dass Graded-Exercise-Therapie sogar schädlich sein kann, bedeutet dies, dass viele Patienten von den belgischen CFS-Zentren misshandelt werden. Ungeachtet dessen fahren die Regierung und die CFS-Zentren nicht nur fort mit dieser unethischen und unmoralischen Politik, sondern sie verstärken auch noch den Einsatz von CBT/GET bei ME/CFS-Patienten, die in diesen Zentren behandelt werden.

    Aus: Maes M, Twisk FNM. Chronic fatigue syndrome: la bête noire of the Belgian health care system. Neuro Endocrinol Lett. 2009 Aug 26;30(3):300-311. 

    *************

    Weitere Artikel zur Schädlichkeit von zuviel körperlicher Belastung und den zugrundeliegenden pathologischen Mechanismen finden Sie auf dieser Website, z.B. hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier. Ein gerade erschienener Überblicksartikel zur sogenannten post-exertional malaise, der Zustandsverschlechterung nach Belastung, findet sich hier, ein früherer dazu hier.

    Und lesen Sie auch die Kommentare des Monats, insbesondere die von Juli 2007 und Januar 2008. Sie sind - leider - nach wie vor topaktuell!

    Soweit zum sachlichen Versagen der Leitlinien bzw. der Gutachter, die sich nach ihnen richten, wenn es um die Begutachtung von Patienten mit ME/CFS geht.

    Aus der Literaturliste der Leitlinien geht hervor, dass nicht einer der 5000 medizinischen Fachartikel berücksichtigt wurde, in denen die für ME/CFS charakteristischen biologischen Anomalien beschrieben werden. Wie ist das vereinbar mit dem Anspruch, dass die Leitlinien sich immer am Stand der Wissenschaft orientieren sollen?

    Die Leitlinien können einen Beitrag zur Sicherung der Qualität der sozialmedizinischen Beurteilung von psychischen Störungen nach einheitlichen Kriterien leisten. Sie müssen regelmäßig dem jeweils aktuellen Erkenntnisstand angepasst werden.“ (Leitlinien S. 7)

    Das geschieht ganz offensichtlich nicht. Sonst wäre ME/CFS längst aus den Leitlinien für die Beurteilung psychischer Störungen herausgenommen worden.

    Medizinethik - im Falle von ME/CFS ein Fremdwort?

    Schaut man sich das Versagen von Leitlinien und Gutachtern von der menschlichen Seite an, so ist der Schaden ihres Vorgehens kaum zu ermessen. Häufig verursachen sie erst eine psychische Störung, denn viele ME/CFS-Patienten sind durch Begegnungen wie die oben geschilderte regelrecht traumatisiert. Sie werden in einer Lage extremer Hilflosigkeit, Abhängigkeit und Ohnmacht von den Menschen und Institutionen, von denen sie Hilfe erwarten, in einer Weise missachtet und misshandelt, dass sich sowohl ihre gesundheitliche wie ihre finanzielle und soziale Lage erheblich verschlechtert.

    Es wird also gerade nicht beachtet, was in den Leitlinien angemahnt wird:

    "Für den Probanden stellt die Begutachtung mit der Notwendigkeit, sich einem fremden Menschen erneut zu öffnen, eine große Hürde dar. In der Begutachtungssituation muss jede zusätzliche Schädigung z. B. in Form einer Traumatisierung vermieden werden. Daher sind Wünsche, Ziele und Lebenspläne des Probanden zu respektieren und keinesfalls wertend zu kommentieren. Eine unterschiedliche Auffassung zwischen Gutachter und Probanden in diesen Feldern darf sich nicht im Ergebnis der sozialmedizinischen Begutachtung niederschlagen." (S.17 ebda.)

    Wer profitiert von der falschen Einordnung von ME/CFS-Patienten?

    Man könnte natürlich annehmen, dass die Autoren der Leitlinien und alle daran beteiligten Ärzte und Fachleute sich einfach nur mal geirrt haben. Irren ist menschlich. Aber da sie mit ihrer Unbelehrbarkeit auch im internationalen Vergleich nicht alleine sind, kann man sich durchaus die Frage stellen, ob mehr als fehlende Information oder einfach ein Irrtum zugrunde liegt.

    Deshalb ist die Frage erlaubt, wer von einer solchen schädlichen Begutachtung einen Nutzen hat? Führt sie abgesehen von der Verstärkung des individuellen Leids nicht auch zu noch größeren ökonomischen Schäden, als sie durch die Krankheit als solche bereits verursacht werden? Wenn man die Menschen noch kränker macht und ihre Prognose noch schlechter wird durch diese falsche Begutachtung und Behandlung warum wendet man sich davon nicht ab und erfolgversprechenderen Behandlungsansätzen zu, die es ja durchaus gibt?

    Vielleicht ist das hier einer der Gründe:

    Für „die Versorgung von somato-psychischen, wie auch psycho-somatischen Störungsbildern“ gibt es eine „kontinuierliche(n) Zunahme psychosomatischer Behandlungsplätze [derzeit nahezu 14.000 in Deutschland]“. (Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung von Menschen mit psychischen Störungen S. 6), und wie viele Plätze gibt es für die Behandlung von ME/CFS, Multipler Chemikaliensensitivität, Fibromyalgie und anderen Multisystemerkrankungen? Die Antwort dürfte sich irgendwo im Bereich zwischen Null und hochgeschätzt 20 bewegen.

    D.h., es ist auch eine ökonomische Frage – mit der „Versorgung somato-psychischer wie auch psycho-somatischer Störungsbilder“ lässt sich jetzt schon gut Geld verdienen, während der Aufbau entsprechender Behandlungsplätze für Multisystemerkrankungen bzw. neuro-immunologische Erkrankungen zunächst einmal Geld kosten würde.

    Hinzu kommt, dass viele Versicherungsverträge Klauseln enthalten, die eine Leistung im Falle von Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen ausschließen diese Versicherungen haben also ein direktes ökonomisches Interesse daran, ME/CFS-Patienten als psychisch krank zu deklarieren. Dann müssen sie nicht zahlen.

    Und auch die Rentenversicherungen und Arbeitsämter sind fein raus, wenn sie ME/CFS-Patienten als Simulanten behandeln, denen man im Falle der „Verweigerung“ aufgezwungener Reha-Maßnahmen oder 1-€-Jobs mal eben ganz locker den Lebensunterhalt entziehen kann. Die psychiatrische „Diagnose“ spart also Geld, wenn sie gleichgesetzt wird mit Simulantentum. Der Patient ist mit seiner Behinderung - dem ME/CFS - „schuldig“ im Sinne des Simulantentums, solange bis er das Gegenteil beweisen kann. Und dazu bräuchte er eben informierte Gutachter. Solche wie der hier geschilderte haben aus Sicht der schwerkranken Patienten eher die Rolle eines Richters Gnadenlos in einem Gerichtsverfahren, in dem es keine Beweisführung, keine Logik, keine Gesetze und kein Recht zur Verteidigung gibt.

    Ärzte aus dem Bereich der sogenannten Umweltmedizin, die seit Jahrzehnten für ein Umdenken in der Medizin kämpfen, das sich an der Behebung der Ursachen von Multisystemerkrankungen orientiert, können hier noch viele weitere Gründe hinzufügen. So bitter es ist: oft geht es hier nicht um Logik oder Wissenschaft oder gar das Wohl der Patienten es geht um Geld und Macht, um die Verteidigung eingefahrener Vorgehensweisen, um die Verteidigung von Positionen.

    Fazit: Wehren Sie sich!

    Weisen Sie die Rentenversicherung und den Gutachter bereits vor der Begutachtung darauf hin, dass ein Psychiater der falsche Fachmann zur Begutachtung Ihrer Erkrankung ist! Wenn Sie erst mal ein fehlerhaftes Gutachten "an der Backe" haben, hat das jede Menge negative Auswirkungen auf Rentenanträge etc.

    Machen Sie sich einen Ausdruck dieser Ärztebroschüre mit einem Überblick zum Krankheitsbild ME/CFS und geben Sie sie allen Beteiligten.

    Weisen Sie bereits in der Gutachtenssituation auf die oben dargelegten Widersprüche hin und gehen Sie nie allein zu einem Gutachter!!! Nehmen Sie immer eine Begleitperson mit das ist Ihr gutes Recht. (Zu dieser Frage siehe auch Artikel des Monats 10 Teil 5)

    Wenn ein Gutachten erstellt wurde, machen Sie von Ihrem Recht Gebrauch, eine Kopie davon zu erhalten. Es kann sein, dass man Ihnen das verweigert, weil das im Falle psychiatrischer Gutachten erlaubt ist, die Akteneinsicht zu verwehren. Lassen Sie sich das nicht gefallen mit o.g. Begründungen der Falscheinordnung des ME/CFS als psychiatrischer Erkrankung!

    Nehmen Sie sich einen Rechtsanwalt. Lassen Sie sich helfen, und wenn Sie kein Geld für einen Anwalt haben, dann schreiben Sie mit Hilfe von Freunden und Verwandten, die Sie unterstützen, Beschwerdebriefe! Auch die Patienten, die obigen Bericht geschrieben hat, hat mit Beschwerdeschreiben an die Leiter der jeweiligen Institutionen letztlich erreicht, dass die Reha vom Tisch war und die Rente genehmigt wurde! Lassen Sie sich auch durch Briefe von "einfachen Angestellten" der Behörden/Versicherungen nicht abwimmeln! Richten Sie Ihre begründeten Beschwerden an die Vorgesetzten!

    Beschweren Sie sich bei der Bundesärztekammer, bei der Bundespsychotherapeutenkammer, wenden Sie sich an diverse Menschenrechtsbeauftragte. Es gibt auch Menschenrechtsbeauftragte bei den Landesärztekammern oder Ihrer jeweiligen Landesregierung. Geben Sie bei einer Suchmaschine das Stichwort "Menschenrechtsbeauftragter der Landesärztekammer" ein, und schon bekommen Sie zahlreiche Links mit den entsprechenden Adressen.

    Bringen Sie sich irgendwie, durch irgendwelche Aktionen aus der Lage der Ohnmacht heraus, in die man sie drängt! Der schlimmste Stress, den ein Mensch haben kann, ist das Gefühl von Ohnmacht. Deshalb, tun Sie etwas, und wenn Sie, wie die oben zitierte Patientin, ein halbes Jahr brauchen, bis Sie die Kraft haben, einen Brief zu schreiben!

    Sich zu wehren kann besser als jede Psychotherapie sein! Und schreiben Sie Ihre Geschichte auf. Schicken Sie sie an info(at)cfs-aktuell.de oder an den www.fatigatio.de! Nur gemeinsam sind wir stark.

    Literatur:

     

    Aus: Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung von Menschen mit psychischen Störungen, Dezember 2006

    Diese Aussagen enthalten zahlreiche eklatante Fehler - sind also äußerst kritisch zu beurteilen und nicht als Empfehlung anzusehen!!!! R.C.

    3.6.7 Spezielle Syndrome: "Chronic Fatigue-Syndrom" (CFS) bzw. "Multiple Chemical Sensitivity-Syndrom" (MCS)/ "Idiopathic Environmental Intolerances" (IEI)

    Die unter den Begriffen „Chronic Fatigue-Syndrom“ (CFS) bzw. ”Multiple Chemical Sensitivi­ty” (MCS) zusammengefassten Beschwerdebilder haben wegen der problematischen Ver­mengung von symptomatischer Ebene, Syndrom-Ebene und nosologischer Zuordnung bis­lang keinen Eingang in die international gängigen Diagnoseklassifikationssysteme gefunden. Der Begriff “Multiple Chemical Sensitivity” ist mittlerweile durch den Begriff der “Idiopathic Environmental Intolerances” (IEI) ersetzt worden. Bei Betroffenen mit einem unspezifischenumweltbezogenen Überempfindlichkeitssyndrom (= IEI) kommt es häufig zur Chronifizierung, die sich nicht mit einem ausschließlich toxikologisch-allergologischen Ansatz erklären lässt. 

    Auch die 10. Revision der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen ”Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheits­probleme” (ICD-10) geht bei CFS bzw. MCS/IEI wegen der fehlenden wissenschaftlichen Evidenz nicht von eigenständigen Krankheitsentitäten aus, zumal toxikologisch und immuno­logisch keine die Symptomatik erklärenden Befunde ermittelt werden können.

    In der anerkannten Fachliteratur herrscht hingegen Einigkeit darüber, dass MCS-/IEI-Betroffene gleichzeitig über deutlich erhöhte psychische Beeinträchtigungen wie Ängstlich­keit, Depressivität oder diffuse, unterschiedlich ausgeprägte Körpersensationen berichten. Die Frage, ob die Häufung aktueller psychischer Störungen für eine ”biogene” oder ”psycho­gene” Ätiologie der MCS/IEI spricht, ist aus wissenschaftlicher Sicht noch nicht geklärt. Von einer neuronalen Chemie-Hypothese ausgehend werden u. a. eine biologische Konditi­onierung bei der Exposition gegenüber Gerüchen und Atemwegsirritantien sowie immunolo­gisch-allergische Mechanismen diskutiert. Die zugrunde liegende Überempfindlichkeit könnte durch verschiedene Ursachen wie psychosozialen Stress hervorgerufen werden.

    Psychogene Erklärungsansätze rücken die manifeste psychische Störung der Betroffenen als Angsterkrankung, klinisch relevante Depression oder als somatoforme Störung in den Vordergrund. Verschiedene Autoren beobachten auch, dass unter MCS/IEI klinische Fehldi­agnosen subsumiert werden, das heißt, dass es sich zum Teil um Frühformen psychischer Erkrankungen handelt. Weiterhin wird ein ”belief system” als kulturgebundenes Erklärungs­modell diskutiert, mit dessen Hilfe unspezifische Körperbeschwerden interpretiert werden und das von Medien, Heilpraktikern, Ärzten und verschiedenen Institutionen etabliert und unterstützt wird.

    Auch beim ”Chronic Fatigue-Syndrom”, dessen klinisches Bild sich in vielen Bereichen mit dem der ”Multiple Chemical Sensitivity” überschneidet, wird in der Fachliteratur auf die Ähn­lichkeit mit dem unter ”Neurasthenie” operationalisierten Krankheitsbild (ICD-10: F48.0) ver­wiesen.

    Insgesamt betrachtet erscheint eine psychische Ätiologie sowohl bei CFS als auch bei MCS/IEI in vielen Fällen wahrscheinlich. Die bisherigen klinischen Erfahrungen in universitä­ren Fachambulanzen und stationären Fachabteilungen lassen zumindest eine hohe psychi­sche Komorbidität bei dieser Störungsgruppe als gesichert erscheinen.

    Im Rahmen der Sachaufklärung ist die komplexe Problematik der Betroffenen auf unter­schiedlichen Ebenen zu berücksichtigen. Dies gilt - in Anlehnung an die von der WHO he­rausgegebene ICF - sowohl für den somatischen Bereich als auch für die psychischen und sozialen Beeinträchtigungen. 

    In der qualifizierten fachärztlichen Begutachtung sind die körperlichen Befunde und die tech­nisch-apparativen Zusatzbefunde in sorgfältiger Form zu erheben und zu bewerten. Darüber hinaus ist auch die psychische und soziale Situation in die Gesamtbeurteilung des einzelnen Versicherten einzubeziehen.

    Für die Beurteilung des qualitativen und quantitativen Leistungsvermögens spielt dabei we­niger die unmittelbare diagnostische oder ätiologische Zuordnung der Symptomatik eine Rol­le, als vielmehr das Ausmaß der individuellen Fähigkeits- und Funktionsstörungen in Hinblick auf das Leistungsbild im Erwerbsleben.

    Die Prognoseabschätzung darüber, ob eventuell bestehende Leistungseinbußen der Versi­cherten als irreversibel bzw. chronisch anzusehen sind, kann daher nur im Einzelfall und nicht allein auf der Grundlage einer umstrittenen diagnostischen Kategorie vorgenommen werden.

    Die Forderung nach einer Vermeidung von (hypothetischen) Trigger-Substanzen im Berufs­leben (Nocebo) als mögliche neurotoxische Einwirkung und eine daraus abgeleitete Frühbe­rentung ist wissenschaftlich - wie oben ausgeführt - nicht begründbar.

    Hinsichtlich der medizinischen Rehabilitation in psychosomatisch - psychotherapeutischen Facheinrichtungen ist anzumerken, dass die differenzielle Zuweisung von Versicherten zu diesen Maßnahmen auf der Grundlage eines ganzheitlichen Krankheitsverständnisses er­folgt und die hier angebotene Behandlung der Symptomatik dem gegenwärtig anerkannten Wissensstand entspricht. Unter verhaltensanalytischen Aspekten kommt insbesondere der Überwindung von Verstärkungs- und Vermeidungsreaktionen eine Bedeutung zu, wenn die Betroffenen lernen sollen, soziale Fertigkeiten zu trainieren und die Änderung dysfunktionaler Kognitionen und ”belief systems” einzuüben.

    Nach Ausschöpfung aller rehabilitativen Optionen wird sich bei CFS-  bzw. MCS- / IEI-Betroffenen eine Frühberentung im Einzelfall möglicherweise nicht vermeiden lassen. Dies kann aus sozialmedizinischer Sicht allerdings nur auf der Grundlage einer umfassenden Ge­samtbeurteilung der qualitativen und quantitativen Leistungsfähigkeit erfolgen, in die die ver­schiedenen Gesichtspunkte einschließlich der tatsächlich ermittelbaren Fähigkeitsstörungen Eingang finden müssen.

    Textfeld: Untergruppe 
Kriterien (vereinfacht) 
Somatisierungsstörung (F45.0) 
Mindestens sechs über die Organsysteme wechselnde somatoforme Symptome aus ei­ner Liste von 14; eingeschlossen sind nicht unter das Paniksyndrom fallende Angststö­rungen 
Undifferenzierte somatoforme Störung (F45.1) 
Weniger als sechs wechselnde Symptome 
Hypochondrische Störung (F45.2) 
Überzeugtheit von körperlicher Krankheit, Nichtakzeptanz entlastender medizinischer Rückversicherung 
Somatoforme autonome Funktionsstö­rung (F45.3) 
Symptome der vegetativen Stimulation und Klagen unspezifischer Beschwerden, die von den Betroffenen auf eine somatische Erkran­kung eines vegetativ innervierten Or­gan(system)s zurückgeführt werden 
Anhaltende somatoforme Schmerzstö­rung (F45.4) 
Überwiegend chronische Schmerzen ohne hinreichende organische Begründbarkeit 
Sonstige somatoforme Störungen (F45.8) 
Stressbedingte, nicht durch das vegetative Nervensystem vermittelte Störungen 
Nicht näher bezeichnete somatoforme Störungen (F45.9) 
Heterogene stressbedingte Beschwerdebilder (Restkategorie) 
Somatoforme Störungen F45 nach ICD-10

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    Die Krankheitsbilder können in Störungen, die durch multiple körperliche Symptome gekenn­zeichnet sind, Störungen, bei denen eine eng umschriebene körperliche Symptomatik im Vordergrund steht sowie Störungen mit primär dominierenden psychischen Merkmalen un­terteilt werden.

    Zu den erstgenannten Krankheitsbildern zählen die Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0) sowie die undifferenzierte somatoforme Störung (ICD-10: F45.1). Letztere stellt definitions­gemäß eine milder ausgeprägte Form der Somatisierungsstörung dar.

    Davon sind Störungen zu unterscheiden, bei denen eine eng umschriebene Symptomatik im Vordergrund steht, hier spielt die anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) die wichtigste Rolle bei der Begutachtung. Diese Störung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die vorherrschende Beschwerde als andauernder, schwerer und quälender Schmerz darstellt, der durch einen pathophysiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Dieser Schmerz tritt in Verbindung mit emotionalen Konflik­ten oder psychosozialen Problemen auf.

    Darüber hinaus werden zu den somatoformen Störungen Krankheitsbilder gerechnet, bei denen primär psychische Merkmale dominieren. Hierzu gehört die hypochondrische Störung, ICD-10: F45.2. Charakterisiert ist sie durch eine ausgeprägte lang dauernde und nur schwer korrigierbare Krankheitsbefürchtung.

    Die somatoformen Störungen sind mit einer erheblichen psychischen Komorbidität verbun­den: Beschrieben wurden in 60 bis 70% aller Fälle auch depressive Störungen, in 20 bis 40% der Fälle Angststörungen, in 15 bis 20% der Fälle Störungen mit Substanzmissbrauch oder -abhängigkeit sowie Persönlichkeitsstörungen in 30 bis 60% der Fälle. Diese Störungen treten allerdings meist nicht gleichzeitig mit der somatoformen Störung auf, es können Mona­te bis Jahre zwischen dem jeweiligen Erstauftreten des einen oder anderen Störungsbildes vergehen.

    Bei Patienten mit somatoformen Störungsbildern besteht eine ebenso große Wahrschein­lichkeit, eine (zusätzliche) körperliche Erkrankung zu entwickeln, wie bei jeder anderen Per­son der entsprechenden Altersgruppe. Weitere körperliche Untersuchungen sind insbeson­dere zu erwägen, wenn sich die Klagen über somatische Beschwerden verändern oder neue körperliche Beschwerden geschildert werden. 

    Die Diagnose der somatoformen Störung wird zunehmend häufiger gestellt, nicht selten lei­der auch im Sinne der Ausschlussdiagnostik. Dagegen sind in der ICD-10 die Merkmale der Störung eindeutig durch positive Kriterien festgelegt. So muss die Störung hier u. a. mehr als zwei Jahre mit mindestens sechs Krankheitssymptomen bestehen; das Beschwerdebild darf nicht nur während einer psychotischen, affektiven oder Panikstörung auftreten.

    Die ICD-10-Kriterien der somatoformen Störungen weisen keine depressiven Symptome oder Angstsymptome auf, insofern ist differenzialdiagnostisch meist kein erhebliches Prob­lem gegeben. Depressive Störungen sind durch charakteristische Symptome gekennzeich­net. Falls diese Symptome bei einer somatoformen Störung ebenfalls vorliegen, muss die zusätzliche Diagnose einer depressiven Störung in Betracht gezogen werden.

    Psychopathologie

    Somatoforme Störungen sind durch vielfältige psychopathologische Symptome charakteri­siert. Während Bewusstsein und Orientierung erhalten sind, findet sich vor allem im inhaltli­chen Denken häufig eine pathologische Einengung auf unterschiedlichste körperliche Be­schwerden. Das Denken ist von erheblicher Besorgtheit geprägt. Durch den hohen subjekti­ven Leidensdruck und die negative Selbstbewertung kann auch die affektive Schwingungs­fähigkeit beeinträchtigt sein. Von diagnostischem Wert ist neben der Klagsamkeit insbeson­dere auch eine gehemmte Expressivität. Es besteht ein erhebliches Misstrauen gegenüber ärztlichen Versicherungen hinsichtlich der Beschwerden. Die kognitive und intellektuelle Leistungsfähigkeit ist in aller Regel nicht beeinträchtigt. Besteht neben der somatoformen Störung eine depressive Störung, finden sich entsprechende psychopathologische Befunde; gleiches gilt für eine zusätzlich bestehende Angstsymptomatik. Wenn Störungen mit Sub­stanzmissbrauch oder –abhängigkeit zusätzlich vorliegen, finden sich die durch diese Stö­rung verursachten psychopathologischen Veränderungen.

    Gesundheitliche Integrität

    Aufgrund des häufig ausgeprägten Schonverhaltens sind insbesondere Beeinträchtigungen in der Teilnahme an den Aktivitäten des täglichen Lebens anzutreffen. Es kann zu einem zunehmenden sozialen Rückzug mit Isolation kommen, vor allem wenn dieser durch ein ent­sprechendes Umfeld begünstigt wird. Die Partizipation am beruflichen Alltag, aber auch im familiären Bereich und an Freizeitaktivitäten ist eingeschränkt.

    Verlauf und Prognose

    Somatisierungsstörungen werden häufig lange Zeit rein organmedizinisch-symptomatisch behandelt, es kommt nicht selten zur Chronifizierung der Symptomatik, insbesondere wenn vielfältige diagnostische Maßnahmen durchgeführt werden. Die Diagnose einer somatofor­men Störung wird häufig erst dann gestellt, wenn bereits mehrere Jahre entsprechende Symptome bestehen.

    Die Prognose muss – insbesondere für die somatoforme Schmerzstörung – generell als um so ungünstiger beurteilt werden, je stärker chronifiziert sich das Krankheitsverhalten darstellt. Wenn auch die Wirksamkeitsbelege der verschiedenen Formen der Psychotherapie (isoliert und kombiniert eingesetzt) noch lückenhaft sind, sind die therapeutischen Möglichkeiten erst dann als ausgeschöpft anzusehen, wenn ambulante oder stationäre psychotherapeutische Behandlungsversuche durchgeführt wurden. Nach jahrelanger Fixierung auf eine somatische Erkrankung, medizinisch nicht indizierter Diagnostik zur Rückversicherung des Patienten mit daraus möglicherweise resultierender iatrogener Schädigung sowie in Folge krankheitsbe­dingter Faktoren ist im Einzelfall zu prüfen, ob bei den Patienten die Aufnahme einer Psycho­therapie noch Erfolg versprechend sein kann.

    Bei eingeschränktem Psychogeneseverständnis besteht häufig keine Motivation für die not­wendigen psychotherapeutischen Interventionen; die Betroffenen sind in aller Regel davon überzeugt, organisch krank zu sein. Günstig ist es - falls eine medizinische Rehabilitation überhaupt akzeptiert wird - eine Maßnahme zu wählen, in der sowohl körperliche als auch psychosomatische Aspekte gleichberechtigt berücksichtigt werden können.

    Sozialmedizinische Beurteilung

    Die sozialmedizinische Beurteilung der somatoformen Störungen, insbesondere der somato­formen Schmerzstörung stellt angesichts der Komplexität der Problematik hohe Anforderun­gen an den Gutachter.

    Da körperliche Störungen, die eine Leistungsminderung rechtfertigen, häufig nicht bestehen, muss sich der Gutachter an den vorhandenen psychopathologischen Auffälligkeiten bei dem Probanden orientieren. Wichtig ist eine ausführliche Befragung des Probanden zu den Ta­gesaktivitäten. Erfragt werden müssen auch Symptome des sozialen Rückzugs.

    Bei weitgehender Einschränkung der Fähigkeit zur Teilnahme an den Aktivitäten des tägli­chen Lebens (im Sinne einer "vita minima") beispielsweise in den Bereichen Mobilität, Selbstversorgung, Kommunikation, Antrieb, Konzentrationsfähigkeit, Interesse oder Auf­merksamkeit ist von einer Minderung des qualitativen und quantitativen Leistungsvermögens auszugehen.

    Es lässt sich nicht vorhersehen, wie eine Berentung die vorhandene Symptomatik beein­flusst. Grundsätzlich ist nicht zu erwarten, dass die Berentung die vorhandene Symptomatik mindert oder zum Verschwinden bringt; es ist aber auch - empirischen Untersuchungen zu­folge - nicht zu befürchten, dass die Berentung die Symptomatik weiter chronifiziert und fi­xiert.

    3.6.6 Neurasthenie (ICD-10: F48.0)

    Die Symptomatik der Neurasthenie ist durch Klagen über vermehrte Müdigkeit nach geisti­gen Anstrengungen charakterisiert. Geklagt wird auch über das Gefühl körperlicher Schwä­che und Erschöpfung nach nur geringen Anstrengungen, begleitet von muskulären oder an­deren Schmerzen und der Unfähigkeit, zu entspannen.

    Das Erscheinungsbild dieser Störung zeigt beträchtliche kulturelle Unterschiede.

    In vielen Ländern wird die Neurasthenie nicht mehr allgemein als diagnostische Kategorie neurotischer Erkrankungen akzeptiert. Sie sollte nur diagnostiziert werden, wenn die Be­schreibung der Symptomatik der Neurasthenie mehr entspricht als jedem anderen neuroti­schen Syndrom.

    Für eine eindeutige Diagnose nach ICD-10 wird gefordert: 

    1                    entweder anhaltende oder quälende Klagen über gesteigerte Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung oder über körperliche Schwäche und Erschöpfung nach ge­ringsten Anstrengungen

    2                    mindestens zwei der folgenden Empfindungen: Muskelschmerzen und -beschwerden; Schwindelgefühle, Spannungskopfschmerzen; Schlafstörungen, Un­fähigkeit zu entspannen; Reizbarkeit und Dyspepsie.

    3                    beim Vorhandensein von Angst- oder Depressionssymptomen sind diese nicht anhal­tend und schwer genug, um die Kriterien für eine der spezifischeren Störungen dieser Klassifikation zu erfüllen.

    Wichtig ist es, die Symptomatik gegenüber einer beginnenden organischen psychischen Stö­rung (demenzielles Syndrom) abzugrenzen. Hier können sowohl entsprechende testpsycho­logische als auch technisch-apparative Untersuchungsmethoden hilfreich sein.

    Der Begriff der Neurasthenie, der laut ICD-10-Terminologie mit dem "Erschöpfungs­syndrom" gleichzusetzen ist, wird nach wie vor häufig benutzt, um funktionelle Beschwerde­bilder zu beschreiben. Dies ist nicht sinnvoll. Der Begriff der Neurasthenie sollte nur verwen­det werden, wenn das Störungsbild eindeutig die Kriterien für diese Diagnose erfüllt.

    Eine Minderung der Leistungsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht wird in aller Regel nicht beste­hen. Qualitative Leistungseinschränkungen können durch bestehende Konzentrationsstö­rungen verursacht sein.