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Artikel des Monats August 2010
Teil 4
Dichtung und
Wahrheit in Gutachten
Bericht von M. S. über die Begutachtung durch einen Psychiater
Nachdem ich über 1 Jahr krankgeschrieben war
und in nächster Zeit mein Krankengeld ausgelaufen wäre, stellte ich
einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Da mich jeder weitere
Arzttermin sehr anstrengte und meinen Zustand verschlechterte, gab
ich an, dass der Gutachter zu mir nach Hause kommen sollte.
Der Termin wurde für nachmittags um 14:30 Uhr
angesetzt, was schon sehr schlecht war, da ich morgens am
aufnahmefähigsten bin, mich besser konzentrieren kann und mehr Kraft
habe.
Einige Tage vor diesem Termin wurde mir eine
Art Fragebogen zugeschickt, welchen ich bis zum Termin ausfüllen
sollte. Auf diesem Bogen wurden Aussagesätze aufgeführt, hinter
denen man das ankreuzen sollte, was für einen selber zutrifft
(1=überhaupt nicht, 2=ein bisschen, 3=ziemlich stark, 4=sehr stark).
Dort standen Aussagen, wie z.B. „Ich denke daran, mit dem Leben
Schluss zu machen“, „Dem anderen Geschlecht gegenüber bin ich scheu
und unsicher“, „Ich denke an das Sterben und den Tod“, „Ich fühle
mich wertlos“ usw. Ich habe bei diesen Aussagen überall die Nummer 1
angekreuzt, da sie auf mich nicht zutreffen.
Nachdem der Gutachter, ein Psychiater, mit
meiner Mutter und mir am Wohnzimmertisch Platz genommen hatte,
fragte er mich, was mir fehle. Auf meine Antwort, ich habe CFS sagte
er: „CFS gibt es nicht. Das ist eine Erfindung von Menschen mit
schweren Depressionen, die ihre Depression nicht wahrhaben möchten“.
Daraufhin versuchte ich ihm zu erklären, das CFS eine reale
physische Erkrankung sei, aber ich stieß auf taube Ohren.
Zuerst wurden mir einige Fragen zu meinem
Lebenslauf, Vorerkrankungen usw. gestellt. Dann wurde gefragt, wie
das bei mir mit dem Autofahren aussehe. Ich erwiderte, dass ich so
gut wie überhaupt nicht mehr fahren könne, da ich zu müde und
körperlich zu erschöpft sei, was sich auch auf meine Konzentration
auswirke. Ich erklärte, dass, wenn ich einen guten Tag und einen
Termin bei meinem Hausarzt habe (höchstens 5 Minuten Autoweg), ich
dort selber hinfahren könne, aber dies sei nicht immer so. Daraufhin
wurde ich gefragt, ob ich schon einmal einen Autounfall hatte, was
ich bejahte, und erklärte, dass ich 1 Woche nachdem ich meine
Führerscheinprüfung bestanden hatte, einen Autounfall hatte (damals
war ich 18 Jahre alt). Daraufhin wurde mir unterstellt, dass ich
kein Auto mehr fahre, weil ich Angst vor einem Unfall habe, da ich
immer an den Unfall von damals denken muss. Das ich jahrelang
täglich mit dem Auto zur Arbeit fuhr, interessierte den Gutachter
nicht.
Meine Mutter wurde gefragt, ob ich eine gute
Schülerin war, was sie bejahte. Kurze Zeit später, nach ca. 20
Minuten, wurde meine Mutter vom Gutachter aus dem Zimmer gebeten,
mit dem Argument, er wolle ein paar körperliche Untersuchungen
durchführen. Als meine Mutter draußen war, checkte er meinen
Blutdruck und meinen Puls. Nachdem dies geschehen war, sollte ich
eine kurze Strecke in gerader Linie laufen, mich auf Fersen und
Zehen stellen, was ich schaffte, und einmal in die Knie gehen, wovon
ich allerdings nicht mehr hochkam, mich festhalten musste und dabei
fast in den Fernseher fiel. Dann legte er richtig los mit
Demütigungen, Beleidigungen und Unterstellungen.
Er kam auf meine schulischen Leistungen zurück
und fragte mich, welchen Notendurchschnitt ich hatte, was ich mit 2
beantwortete. Daraufhin fragte er, ob ich auch Einser geschrieben
habe, was ich auch bejahte und hinzufügend noch sagte, dass ich aber
auch eine 5 geschrieben habe. Als Gegenantwort kam, dass ich immer
die Beste sein wollte, alles korrekt erledigen wolle und da das
Wohnzimmer, in dem wir saßen, so sauber und aufgeräumt ist, gehöre
ich zu den Menschen, die sich selber unter Druck setzen und das
würde mich krank machen. Ich versuchte meinem Gegenüber zu erklären,
dass ich aufgrund meiner Erkrankung nicht mehr in der Lage sei,
einen Haushalt zu bewältigen und dass dies das Wohnzimmer meiner
Eltern sei, welches meine Mutter sauber hält und aufräumt, aber auch
davon wollte der Gutachter nichts hören.
Dann wurde ich gefragt, ob ich in der Zeit
meiner Krankheit ab- oder zugenommen habe, woraufhin ich sagte, dass
ich in dieser Zeit 4 Kilo zugenommen habe. Daraufhin musterte der
Gutachter mich und sagte „Sie sind aber trotzdem nicht dick.“,
woraufhin ich nickte und sofort an den Kopf geworfen bekam, dass ich
meinen Körper nicht akzeptieren würde, was der Grund wäre, dass ich
nun krank bin.
Als nächstes war der Bogen dran, den ich
ausfüllen sollte. Ich gab ihn dem Gutachter, der sofort anfing
lauthals zu Lachen und sagte „Die Antworten sind komplett gelogen.“
Ich wies ihn darauf hin, dass das ganz sicher nicht stimme und dass
ich nicht gelogen habe, aber das interessierte ihn nicht. Er
verlangte von mir eine Rechtfertigung, weshalb ich nicht vorhabe
mich umzubringen.
Dann kam die Frage, weshalb ich nicht zu ihm in
die Praxis gekommen sei bzw. weshalb er einen Hausbesuch machen
sollte. Ich erklärte ihm, dass ein Arzttermin für mich extrem
anstrengend sei (Hin- und Rückweg, lange Wartezeit, Gespräch) und
ich nachmittags prinzipiell nicht mehr aus dem Haus könne. Nachdem
ich mit meiner Erklärung fertig war, wurde mir gesagt, dass ich
nicht in Arztpraxen gehen könne, weil ich Angst vor Ärzten habe und
mich das psychisch fertig machen würde und nicht, wie ich behaupten
würde, ein körperliches Problem sei.
Es kamen noch Fragen, welches meine
Lieblingsserie im Fernsehen sei und ob ich im Internet mit Männern
oder mit Frauen schreiben würde.
Während des Gesprächs sagte der Gutachter
plötzlich zu mir, dass er ein paar „Tränchen“ sehen würde, was nicht
stimmte. Während des Gesprächs hatte ich nicht einmal feuchte Augen
oder dergleichen. Ich sagte ihm, dass das nicht stimmen würde,
woraufhin zwei, drei Beleidigungen von ihm kamen und danach sofort
der Satz „Jetzt kommen aber ein paar Tränchen.“, was wieder nicht
stimmte. Ich hatte den Eindruck, dass mein Gegenüber es sehr
schade fand, dass ich nicht weinen musste.
Leider war ich die ganze Zeit, in der meine
Mutter nicht anwesend war, so damit beschäftigt mich zu verteidigen,
das ich nicht daran dachte, meine Mutter wieder hereinzubitten und
somit einen Zeugen für diese ganze Unterhaltung zu haben. Dieser
Gutachtertermin war von einem unabhängigen Gutachten meilenweit
entfernt. Der Gutachter kam schon mit einer Diagnose zur Tür
herein, nach dem Motto „Ich bastele mir einen Patienten, passend zur
vorher feststehenden Diagnose.“ Darüber hinaus war ein Gespräch
nicht möglich, da mein Gegenüber nicht in der Lage war, mich
aussprechen zu lassen und mir nach drei, vier Sätzen immer wieder
ins Wort fiel. Außerdem hatte ich zeitweise den Eindruck, er
machte sich über mich lustig.
Als der Gutachter aus dem Haus ging, sagte er
mir zum Abschied, dass, wenn ich eine Psychotherapie machen würde,
ich diese unbedingt bei ihm machen sollte, da er der einzige
Therapeut wäre, der mir helfen könne.
Das Gutachten, welches er geschrieben hatte,
strotzte vor falschen Aussagen und es wurden Sätze angegeben, die
ich so nie gesagt habe. Meine Blutuntersuchungen beispielsweise,
die eine Virenbelastung nachweisen, wurden als „“homöopathische
Befunde“ tituliert. Das einzige „homöopathische“ daran war die
Empfängeradresse, da das Ergebnis aus dem Blutlabor an meinen
Heilpraktiker geschickt wurde.
Die Diagnose des Gutachters lautet „schwere
Konversionsneurose“.
(Der Name der Patientin - M. S. - ist mir
bekannt. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung. Hervorhebungen R.C.) |
Wie es nach
diesem Gutachtenstermin weiterging...
Die
Patientin hat sofort nach dem Besuch des Gutachters eine Beschwerde
bei der Rentenstelle eingereicht und wenig später auch noch bei der
Ärztekammer.
Sie musste
der Rentenstelle monatelang hinterherlaufen, um eine Kopie des
Gutachtens zu bekommen, das der Psychiater aufgrund der oben
dargestellten „Begutachtung“
erstellt hatte. Dieses kam dann schließlich, gleich zusammen mit
einem Antrag für eine Reha-Maßnahme in einer psychosomatischen
Klinik.
Kein
Wunder, denn der Gutachter war der Meinung, dass die Patientin nach
drei Monaten Reha wieder gesund sei und arbeiten gehen könne. Seine
Diagnose lautete ja „schwere
Konversionsneurose“,
und an dieser Konversionsneurose solle in der Reha gearbeitet
werden, und sie solle dort lernen, mit Menschen wieder
„real“
und nicht nur über das Internet zu kommunizieren. Er hatte sich in
dem Gutachten darüber mokiert, dass ihm die Patientin gesagt hatte,
er solle sich erst einmal über CFS informieren, bevor er darüber
spreche und über eine davon betroffene Patientin ein Gutachten
erstelle.
Die
Patientin hat einige Zeit nach der Begutachtung erneut einen
schweren Rückfall und wurde wieder bettlägerig - dessen ungeachtet
war sie laut Bescheid der Rentenstelle in der Lage, 3-6 Stunden
täglich arbeiten zu gehen. Selbstverständlich hat die Patientin
dagegen Widerspruch eingelegt, und zwar auch gegenüber dem
Präsidenten der Rentenstelle - mit dem Erfolg, dass die Reha
gestrichen und sie als komplett arbeitsunfähig anerkannt wurde.
Die
Ärztekammer, bei der sie Beschwerde gegen diesen Gutachter
eingereicht hatte, teilte ihr nach einer Weile mit, sie müsse
zunächst rechtlich gegen das Gutachten vorgehen und nachweisen, dass
der Gutachter ein Fehlverhalten an den Tag gelegt hätte
und dass die Ärztekammer nichts tun könne.
Ein halbes Jahr später - vorher hat sie es kräftemäßig nicht
geschafft - hat die Patientin an den Präsidenten der Landesärztekammer
geschrieben - mit gewissem Erfolg: Man teilte ihr mit, dass sich der Gutachter hinsichtlich
seines Verhaltens ihr gegenüber bei der Rechtsabteilung der
Landesärztekammer Stellung beziehen muss. Darüber berichtete die
Ärztekammer dann in einem weiteren Schreiben, der Gutachter hätte
ihren Vorwurf des ärztlichen und menschlichen Fehlverhaltens
zurückgewiesen. Die Ärztekammer könne kein Fehlverhalten erkennen,
und aus der Tatsache, dass beide unterschiedliche Aussagen gemacht
hätten, schließe man, dass es ein „Verständigungsproblem“ zwischen
Gutachter und Begutachteter gegeben hätte. Und dass die Ärztekammer
eine „diesbezügliche Bewertung“ nicht vornehmen könne, da sie ja bei
dem Gutachtenstermin nicht anwesend gewesen sei...
Kommentar
von Regina Clos
Diese „Begutachtung“
widerspricht in allen Aspekten auf so eklatante Weise
dem
hippokratischen Eid,
nach dem ein Arzt dem Patienten nicht schaden soll, dass sich ein Kommentar
eigentlich erübrigt. Aus meiner Sicht zeugt das
Verhalten dieses Gutachters von Menschenverachtung und
Sadismus und ist in keinster Weise geleitet von dem
Wunsch, einem kranken Menschen zu helfen.
Man könnte diese
Erfahrung als extremen Einzelfall abtun, aber das ist
sie leider nicht. Immer wieder erreichen mich Berichte
dieser Art, und die Betroffenen sind nach einer solchen
„Begutachtung“
zutiefst verletzt, verstört und verängstigt, sie sind
regelrecht traumatisiert.
Um zu erkennen, dass
es sich hier nicht um einen extremen Einzelfall, sondern
um ein grundsätzliches Problem handelt, ist es durchaus
sinnvoll, sich einmal in die Hintergründe der
Erststellung von Gutachten bei ME/CFS zu vertiefen.
Wieso ein Psychiater für eine
neuro-immunologische Erkrankung?
Da ist zunächst einmal
die Frage, wieso ME/CFS Patienten eigentlich von vorne
herein von Psychiatern begutachtet werden,
obwohl sie an doch an einer neuro-immunologischen
Multisystemerkrankung leiden? Diese Psychiater haben in
der Regel von Immunologie, von Infektologie und von
innerer Medizin wenig bis gar keine Ahnung und sind schon gar nicht auf
dem neuesten Stand der Wissenschaft im Hinblick auf die
Erforschung der biologischen Ursachen des ME/CFS.
Der im Artikel August 2 erwähnte Brief des
Bundesversicherungsamtes bringt uns hier auf die
richtige Spur. Dort werden die
Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung von
Menschen mit psychischen Störungen,
Dezember 2006 erwähnt, auf die man sich bei der
Begutachtung von ME/CFS-Patienten in Rentenverfahren
stützt.
Aus diesen Leitlinien
ergibt sich ganz klar eine Einordnung des „CFS“ unter
psychiatrischen Erkrankungen, und zwar aufgrund der
angeblichen Ähnlichkeit der Symptomatik. Von daher ist
es logisch, dass als Gutachter Psychiater benannt werden
und nicht etwa Internisten, Immunologen,
Infektionsspezialisten oder andere für uns eigentlich
zuständige Fachärzte. Dort liest man auf S. 48:
„Auch
beim
„Chronic
Fatigue-Syndrom“, dessen klinisches Bild sich in vielen
Bereichen mit dem der ”Multiple Chemical Sensitivity”
überschneidet, wird in der Fachliteratur auf die
Ähnlichkeit mit dem unter ”Neurasthenie”
operationalisierten Krankheitsbild (ICD-10: F48.0)
verwiesen.“
„Insgesamt
betrachtet erscheint eine psychische Ätiologie sowohl
bei CFS als auch bei MCS/IEI in vielen Fällen
wahrscheinlich. Die bisherigen klinischen Erfahrungen in
universitären Fachambulanzen und stationären
Fachabteilungen lassen zumindest eine hohe psychische
Komorbidität bei dieser Störungsgruppe als gesichert
erscheinen.“
„Die unter den
Begriffen „Chronic Fatigue-Syndrom“ (CFS) bzw. ”Multiple
Chemical Sensitivity” (MCS) zusammengefassten
Beschwerdebilder haben wegen der problematischen
Vermengung von symptomatischer Ebene, Syndrom-Ebene und
nosologischer Zuordnung bislang keinen Eingang in die
international gängigen Diagnoseklassifikationssysteme
gefunden.“
Diese Aussage ist
schlicht falsch. Die WHO haben ME/CFS bereits seit 1969
als neurologische Erkrankung klassifiziert, und
in den ICD-10 ist das Krankheitsbild ebenfalls unter
neurologischen Erkrankungen unter der Kategorie G93.3
eingeordnet.
(Weitere Auszüge aus den Leitlinien finden Sie
unten. Wenn Sie heute einen schlechten Tag haben, lesen
Sie die besser nicht. Die Autorin dieser Website
übernimmt keine Haftung dafür, wenn Sie von der Lektüre
gesundheitlichen oder seelischen Schaden davontragen!)
Ebenso katastrophal und vom
Tenor her identisch sind die Leitlinien der
Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich-medizinischer
Fachgesellschaften, der AWMF-Leitlinien, bei denen
ME/CFS in der
Leitlinie Somatoforme Störung als Neurasthenie
(F48.0) beschrieben wird bzw. in der
Leitlinie Müdigkeit in gleicher Weise als psychogene
Störung abgehandelt wird.
Dabei werden CFS, MCS und
Fibromyalgie laut einer Änderung der
Versorgungsmedizin-Verordnung nicht mehr als
Somatisierungssyndrome bezeichnet. Näheres dazu finden
Sie
hier.
Artikel
1
Änderung
der
Versorgungsmedizin-Verordnung
Die
Anlage
zu § 2
der
Versorgungsmedizin-Verordnung
vom 10.
Dezember
2008
(BGBl. I
S. 2412)
wird wie
folgt
geändert:
2.
Teil B
wird wie
folgt
geändert:…
d) In
Nummer
18.4
werden
die
Wörter
„Die
Fibromyalgie
und
ähnliche
Somatisierungs-Syndrome
(zum
Beispiel
CFS/MCS)“
durch
die
Wörter
„Die
Fibromyalgie,
das
Chronische
Fatigue
Syndrom
(CFS),
die
Multiple
Chemical
Sensitivity
(MCS)
und
ähnliche
Syndrome“
ersetzt.
Artikel
2
Inkrafttreten
Diese
Verordnung
tritt am
Tag nach
der
Verkündung
in
Kraft.
Der
Bundesrat
hat
zugestimmt.
Berlin,
den 1.
März
2010
Die
Bundesministerin
für
Arbeit
und
Soziales
U r s
u l a v
o n d e
r L e y
e n
|
Damit ist das Dilemma
schon da, denn natürlich gehen die Psychiater bei einer
Beauftragung durch die Rentenkasse oder andere Stellen
davon aus, dass sie ein psychiatrisches Krankheitsbild
zu begutachten haben. Deswegen hatte die
ME/CFS-Patientin im obigen Fall auch einen Fragebogen
zugeschickt bekommen, einem
Test zur Erfassung der Schwere einer Depression
geschaffen wurde, dem sogenannten TSD.
Er hat ihr also nicht
einen Fragebogen geschickt, mit dem zu erfassen wäre, ob
überhaupt eine Depression oder ein anderes
Krankheitsbild vorliegt, sondern er ging von vorneherein
davon aus, dass eine Depression da ist und nur noch die
Schwere derselben abgefragt werden müsse.
Hier können Sie sich den Fragebogen ansehen - dass
er die für ME/CFS charakteristische Symptomatik in
keiner Weise erfasst, ist offensichtlich. Aber im Falle
der jungen Patientin hat der Psychiater das nicht einmal
gemerkt, als er die ehrliche Beantwortung durch sie sah
- und statt zu realisieren, dass er auf dem Holzweg ist
mit seinem Test, hat er ihre Antworten einfach als Lüge
qualifiziert.
Falsche Einordnung => falscher Gutachter
=> falsches Gutachten
Die Tatsache, dass die
Deutsche Rentenversicherung und andere
Versicherungsträger aufgrund dieser falschen Einordnung
des ME/CFS als psychiatrischer anstatt als
neurologischer Erkrankung sofort einen Psychiater
als Gutachter beauftragen, hat zur Folge, dass ein solcher
Gutachtenstermin eigentlich nur schief gehen kann.
Denn
es würde die Rolle des Gutachters von vorneherein außer
Kraft setzen, wenn er gesagt bekommt, Sie gehen hier von
falschen Voraussetzungen aus und das, was Sie für eine
Depression halten, ist in Wahrheit eine
neuro-immunologische Erkrankung, die möglicherweise
durch ein Retrovirus ausgelöst wird.
Und wenn eine
solche Information auch noch von dem Patienten kommt,
der ja eigentlich das Objekt in dieser Situation ist,
also der/die Abhängige, widerspricht der Gutachtenssituation
diametral, denn sie definiert sich ja durch eine
Machtgefälle, das in dem Moment herumgedreht würde.
Immer wieder kommt es vor, dass die - richtige -
Information der Patienten über ihr Krankheitsbild nicht
nur nicht aufgenommen wird, sondern noch als Beweis für
irgendeine Form der
„somatoformen
Störung“ gewertet wird - so wie es der Teilnehmer eines
Internetforums ausdrückt:
„...even insisting we are
sane can be used as evidence of personality disorders.“
(„Sogar
das Bestehen darauf, dass man nicht psychisch
gestört ist, kann als Beweis für eine
Persönlichkeitsstörung benutzt werden.“)
So ist auch der
Patient von vorneherein in einer schizophrenen
Situation: egal, wie er sich verhält, es führt immer zu
einer falschen Begutachtung. Er/sie hat eigentlich keine
Chance. Und wenn er/sie psychologisch völlig angemessen
auf diese völlig verrückte Situation reagiert, indem
er/sie wütend wird, weint oder einfach nur sachliche
Informationen gibt, wird dies als Beweis für die
psychogene Ursache seiner/ihrer Erkrankung angesehen
(Zitat:
„Internetkrankheit“,
„angelesen“,
„dysfunktionale
Kognition“). Das ist in der Tat verrückt. Nicht
der Patient ist
„verrückt“,
sondern die Lage, in die man ihn bringt.
Einmal vorausgesetzt,
ein Gutachter hätte die Größe, zuzugeben, dass er sich
irrt oder die ihn beauftragende Stelle sich irrt – er
müsste die Durchführung des Gutachtens ja ablehnen und
sich dadurch nicht nur Ärger mit dem Auftraggeber
einhandeln, sondern auch noch auf das Geld verzichten,
das er mit seinem Gutachten verdient (und das ist eine
nicht zu verachtende Summe). Möglicherweise würde er
keine Aufträge mehr bekommen, wenn er das drei, vier mal
gemacht hat.
Er könnte natürlich
auch ein Gutachten schreiben, in dem drinsteht, die
Patientin erfüllt die Kriterien für eine Depression oder
andere psychische Erkrankung nicht, wahrscheinlich
leidet sie an einer Krankheit, die in das Fachgebiet der
inneren Medizin, der Immunologie oder der Infektologie
gehört, eine Einschätzung ihres Zustandes kann deshalb
von mir nicht vorgenommen werden.
Das würde erstens
voraussetzen, dass er Ahnung hat, zweitens, dass er
seine Grenzen anerkennen kann und drittens, dass er auf
sein Geld verzichtet (oder zumindest auf einen Teil),
und dass er viertens den Ärger seines Auftraggebers auf
sich zieht, der die Sache ja dann nicht vom Tisch hat,
sondern einen neuen, anderen, passenden Gutachter suchen
muss.
Was die Konsequenz aus
all dieser Unbill ist, erleben viele Patienten
mit ME/CFS zur Genüge. Natürlich gibt es auch Ausnahmen
– ich kenne unter all den vielen Horrorberichten auch
zwei oder drei, in denen die Gutachter sehr wachsam, sehr genau in
ihrer Erhebung waren und die Patientinnen auch
unterstützt haben.
Immanente Widersprüche oder: legal,
illegal, sch... egal.
Der Gutachter dieser
Patientin und viele andere Gutachter, die
ME/CFS-Patienten eine „Depression“ und/oder eine „somatoforme
Störung“ bescheinigen und sie in eine psychosomatische
Reha schicken, haben eindeutig gegen die folgenden
Forderungen aus den
Leitlinien verstoßen, die da lauten:
„Für
die Durchführung einer Rehabilitation durch die
gesetzlichen Rentenversicherung müssen folgende
Grundvoraussetzungen erfüllt sein:
Selbstverständlich hat
bei der Patientin akuter Behandlungsbedarf bestanden.
Aus der Tatsache, dass viele ME/CFS-Patienten überhaupt
nicht behandelt werden, weil sich kaum ein Arzt damit
auskennt und die wenigen, die es tun, meist
privatärztlich abrechnen und völlig überlaufen sind,
kann man nicht ableiten, dass die Krankheit nicht akut
behandlungsbedürftig sei. Und erst dann, wenn sie das
nicht mehr ist, ist die erste Grundvoraussetzung für die
Durchführung einer Rehabilitation erfüllt – vorher
nicht. Weisen Sie einen Gutachter also genau auf diesen
Widerspruch hin!
Die meisten ME/CFS-Patienten, „verstehen den Sinn der
Maßnahme“ nicht, denn sie sind in der Regel viel zu
krank, um an dem strammen Therapie- und Sportprogramm in
einer solchen psychosomatischen Klinik teilzunehmen.
Viele von ihnen bejahen die Maßnahme deshalb nicht,
sondern sie beugen sich unter dem Druck der Drohung des
Entzugs von Sozialleistungen und weil ihnen ansonsten
bescheinigt wird, dass sie ihre Mitwirkungspflicht nicht
erfüllen. Gehen Sie offensiv und sofort die Frage Ihrer
nicht vorhandenen Rehafähigkeit an!
Eine „ausreichende Belastbarkeit zur
Durchführung der Rehaleistung“ liegt bei ME/CFS in der
Regel nicht vor. Das ergibt sich allein schon aus dem
zentralen Charakteristikum der Erkrankung, der
Zustandsverschlechterung nach Belastung. Alle
ME/CFS-Patienten, von denen ich bislang über den
„Erfolg“ solcher Rehaleistungen berichtet bekommen habe,
gaben an, dass es ihnen danach sehr viel schlechter
ging, obwohl sie sich während des Aufenthalts bereits
geweigert hatten, an allen Sportveranstaltungen etc.
teilzunehmen – notgedrungen geweigert, weil sie es vor
Schwäche einfach nicht konnten. Häufig sind sie für ihre
Unfähigkeit, an den sportlichen und sonstigen
Aktivitäten teilzunehmen, auch noch abgestraft worden
–
durch den Vorwurf mangelnder Kooperationsbereitschaft,
durch Schuldvorwürfe und durch weitere psychiatrisierende
„Diagnosen“,
die sich dann in den Abschlussberichten wiederfinden.
-
„es muss eine hinreichende Erfolgsaussicht im Sinne
der Rentenversicherung bestehen. Dies bedeutet, dass
durch die Rehabilitation entweder eine auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt verwertbare Leistungsfähigkeit
erreicht werden kann und/oder die Gefahr einer Minderung
der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in zeitlicher und
qualitativer Hinsicht abgewendet werden kann.“
Dito. Aus den Erfahrungen der ME/CFS-Patienten ergibt
sich ganz klar, dass es eben keinen Erfolg hatte, an den
Reha-Maßnahmen teilzunehmen, d.h. Erfolg im Sinne der
Rentenversicherung, also der Wiedereingliederung in den
Arbeitsmarkt.
Das, was jeder
einzelne ME/CFS-Patient am eigenen Leibe erfährt,
nämlich, dass ein Überschreiten der teils äußerst eng
gesetzten Grenzen der Belastbarkeit eine massive
Verstärkung der Symptomatik hervorruft (das ist ja das
zentrale Symptom der Erkrankung, die post-exertional
malaise), ergibt sich allein schon aus den
Ergebnissen des entsprechenden
belgischen Großexperiments:
Das belgische
Großexperiment mit kognitiver
Verhaltenstherapie und körperlichem
Aufbautraining
– ein amtlich bestätigter
Fehlschlag
ein Leserbrief von Kathy Hugaerts
an das British Medical Journal
In Belgien hat die
Regierung in den letzten fünf Jahren fünf
CFS-Referenz-Zentren finanziert, in denen
Patienten mit ME/CFS ausschließlich mit CBT/GET
behandelt wurden. Dort wurden die
Fukuda-Kriterien zur Auswahl der Patienten
verwendet. Jedes Jahr wurden 1,5 Millionen
Euro an die Zentren verteilt. Das ergibt in
fünf Jahren eine Gesamtsumme von 7,5
Millionen Euro. In diesem Zeitraum wurden
dort 800 Patienten behandelt.
Das Belgian Health Care
Knowledge Centre (KCE) hat 2009 nach fünf
Jahren Laufzeit die Ergebnisse untersucht.
Das KCE ist eine halbstaatliche Institution,
die Analysen und Studien im
Gesundheitsbereich durchführt. Ergebnis:
-
Patienten, die sich
besser fühlen: 6 %
-
Patienten, die sich
schlechter fühlen: 38 %
-
Patienten, die sich
weder besser noch schlechter fühlen: die
restlichen 56%
Das Endziel der
Referenz-Zentren und ihrer CBT/GET-Therapie
wurde nicht erreicht: Nicht einer der
Patienten ist ins Arbeitsleben
zurückgekehrt.
Dies bestätigt, dass CBT/GET wirkungslos und
vielleicht sogar schädlich ist. Ein Artikel
von Bagnall et al. (2007) zeigte, dass es
keine Follow-up-Studie gibt, die die
positiven Wirkungen von CBT/GET bestätigen
würde. Trotz der überwältigenden Beweise
biomedizinischer Studien, dass körperliche
Belastung für ME-Patienten schädlich ist und
trotz der verheerenden, negativen Ergebnisse
des belgischen „Experiments“ wird die
belgische Regierung im Jahr 2010 weiterhin
1,2 Millionen Euro in Form von Gutscheinen
für Therapie mit körperlicher Aktivierung
ausgeben. Die Gutscheine werden von
Hausärzten ausgestellt.
Dem zugrunde liegt
natürlich die Idee, dass die Patienten eine
Bewegungsphobie hätten und man sie für
„selbst schuld“ erklärt. Ich kenne
Patienten, die Selbstmord begangen haben,
weil ihre Familien und Freunde diesen
Theorien Glauben schenkten und den
ME-Patienten ständig vorwarfen, sie seien
„faule Säcke“.
Die biopsychologische
Schule trägt hier eine schwere
Verantwortung. Mit ihren Theorien haben sie
zu unnützem Leid beigetragen. Und statt den
Patienten beizubringen, wie man mit Stress
besser umgeht, haben sie noch tonnenweise
Stress auf ihnen abgeladen. Der Fall von
Lynn Gilderdale* ist ein trauriges Beispiel
dafür, was passiert, wenn keine wirksame
biomedizinische Behandlung zur Verfügung
gestellt wird.
Aus:
www.bmj.com/cgi/eletters/340/feb11_1/c738#231460
* Lynne Gilderdale, eine junge Britin,
hatte sich im Dezember 2009 im Alter von 31
Jahren nach 17 Jahren schwerem CFS mit einer
Überdosis Morphium das Leben genommen. Ihre
Mutter Kay Gilderdale wurde zunächst
verhaftet und wegen Beihilfe zur
Selbsttötung angeklagt, das Verfahren wurde
jedoch im Februar 2010 eingestellt. Der Fall
wurde in den britischen Medien ausführlich
diskutiert. Auch im British Medical Journal
erschien ein Leitartikel der Psychiater
Santhaus/Hotopf zur Problematik aktiver
Sterbehilfe. Auf diesen bezieht sich der
oben abgedruckte Leserbrief von Kathy
Hugaerts. |
Die „Gefahr einer
Minderung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben in
zeitlicher und qualitativer Hinsicht“ wird bei
ME/CFS-Patienten in aller Regel durch die empfohlene
psychosomatische Reha mit Aktivierung und
Verhaltenstherapie (GET/CBT) also nicht
„abgewendet“, sondern sogar noch erhöht, da durch eine
solche Überlastung der ME/CFS-Patienten sich die
langfristige Prognose der Erkrankung erheblich
verschlechtert.
Das ergibt sich nicht
nur aus dem belgischen Großexperiment, sondern auch aus
den zahlreichen Studien und Artikeln von Michael Maes,
Frank Twisk und VanNess und Kollegen:
„In
Fallberichten haben wir aufgezeigt, dass
Patienten, die an diesen CFS-Zentren mit CBT/GET
“behandelt” wurden, in der Tat an Störungen
der IO&NS-Pfade litten, einschließlich
intrazellulärer Inflammation, einer erhöhten
Translokation gram-negativer Enterobakterien
(Leaky-Gut-Syndrom), autoimmunen Reaktionen
und Schädigungen durch IO&NS. Angesichts der
Tatsache, dass diese Befunde für
ME/CFS-Patienten exemplarisch sind und dass
Graded-Exercise-Therapie sogar schädlich
sein kann, bedeutet dies, dass viele
Patienten von den belgischen CFS-Zentren
misshandelt werden. Ungeachtet dessen fahren
die Regierung und die CFS-Zentren nicht nur
fort mit dieser unethischen und
unmoralischen Politik, sondern sie
verstärken auch noch den Einsatz von CBT/GET
bei ME/CFS-Patienten, die in diesen Zentren
behandelt werden.“
Aus: Maes M, Twisk FNM.
Chronic fatigue syndrome: la bête noire of
the Belgian health care system. Neuro
Endocrinol Lett. 2009 Aug 26;30(3):300-311.
*************
Weitere Artikel zur
Schädlichkeit von zuviel körperlicher
Belastung und den zugrundeliegenden
pathologischen Mechanismen finden Sie auf
dieser Website, z.B.
hier, hier,
hier,
hier,
hier,
hier,
hier,
hier,
hier,
hier,
hier,
hier und
hier. Ein gerade
erschienener Überblicksartikel zur
sogenannten post-exertional malaise, der
Zustandsverschlechterung nach Belastung, findet sich
hier, ein früherer dazu
hier.
Und lesen Sie auch die
Kommentare des Monats, insbesondere die
von Juli 2007 und Januar 2008. Sie sind -
leider - nach wie vor topaktuell! |
Soweit zum sachlichen
Versagen der Leitlinien bzw. der Gutachter, die sich
nach ihnen richten, wenn es um die Begutachtung von
Patienten mit ME/CFS geht.
Aus der
Literaturliste der Leitlinien geht hervor, dass nicht
einer der 5000 medizinischen Fachartikel berücksichtigt
wurde, in denen die für ME/CFS charakteristischen
biologischen Anomalien beschrieben werden. Wie ist das
vereinbar mit dem Anspruch, dass die Leitlinien sich
immer am Stand der Wissenschaft orientieren sollen?
„Die
Leitlinien können einen Beitrag zur Sicherung der
Qualität der sozialmedizinischen Beurteilung von
psychischen Störungen nach einheitlichen Kriterien
leisten. Sie müssen regelmäßig dem jeweils aktuellen
Erkenntnisstand angepasst werden.“ (Leitlinien S. 7)
Das geschieht ganz
offensichtlich nicht. Sonst wäre ME/CFS längst aus den
Leitlinien für die Beurteilung psychischer
Störungen herausgenommen worden.
Medizinethik - im Falle von ME/CFS ein
Fremdwort?
Schaut man sich das
Versagen von Leitlinien und Gutachtern von der menschlichen Seite an, so ist
der Schaden ihres Vorgehens kaum zu ermessen. Häufig verursachen sie erst eine psychische Störung, denn viele
ME/CFS-Patienten sind durch Begegnungen wie die oben
geschilderte regelrecht traumatisiert. Sie werden in
einer Lage extremer Hilflosigkeit, Abhängigkeit und
Ohnmacht von
den Menschen und Institutionen, von denen sie Hilfe
erwarten, in einer Weise missachtet und misshandelt,
dass sich sowohl ihre gesundheitliche wie ihre
finanzielle und soziale Lage erheblich verschlechtert.
Es wird also gerade nicht
beachtet, was in den Leitlinien angemahnt wird:
"Für den Probanden
stellt die Begutachtung mit der Notwendigkeit, sich
einem fremden Menschen erneut zu öffnen, eine große
Hürde dar. In der Begutachtungssituation muss jede
zusätzliche Schädigung z. B. in Form einer
Traumatisierung vermieden werden. Daher sind Wünsche,
Ziele und Lebenspläne des Probanden zu respektieren und
keinesfalls wertend zu kommentieren. Eine
unterschiedliche Auffassung zwischen Gutachter und
Probanden in diesen Feldern darf sich nicht im Ergebnis
der sozialmedizinischen Begutachtung niederschlagen."
(S.17 ebda.)
Wer profitiert von der falschen
Einordnung von ME/CFS-Patienten?
Man könnte natürlich annehmen, dass
die Autoren der Leitlinien und alle daran beteiligten
Ärzte und Fachleute sich einfach nur mal geirrt haben.
Irren ist menschlich. Aber da sie mit ihrer
Unbelehrbarkeit auch im internationalen Vergleich nicht
alleine sind, kann man sich durchaus die Frage stellen,
ob mehr als fehlende Information oder einfach ein Irrtum
zugrunde liegt.
Deshalb ist die Frage erlaubt, wer
von einer solchen schädlichen Begutachtung einen Nutzen
hat? Führt sie
– abgesehen von der Verstärkung des
individuellen Leids
– nicht auch zu noch größeren
ökonomischen Schäden, als sie durch die Krankheit als
solche bereits verursacht werden? Wenn man die Menschen
noch kränker macht und ihre Prognose noch schlechter
wird durch diese falsche Begutachtung und Behandlung
–
warum wendet man sich davon nicht ab und
erfolgversprechenderen Behandlungsansätzen zu, die es ja
durchaus gibt?
Vielleicht ist das hier einer der
Gründe:
Für „die Versorgung
von somato-psychischen, wie auch psycho-somatischen
Störungsbildern“ gibt es eine „kontinuierliche(n)
Zunahme psychosomatischer Behandlungsplätze [derzeit
nahezu 14.000 in Deutschland]“. (Leitlinien
für die sozialmedizinische Beurteilung von Menschen mit
psychischen Störungen S. 6), und wie viele Plätze gibt
es für die Behandlung von ME/CFS, Multipler
Chemikaliensensitivität, Fibromyalgie und anderen
Multisystemerkrankungen? Die Antwort dürfte sich
irgendwo im Bereich zwischen Null und hochgeschätzt 20
bewegen.
D.h., es ist auch
eine ökonomische Frage – mit der „Versorgung somato-psychischer wie auch psycho-somatischer
Störungsbilder“ lässt sich jetzt schon gut Geld
verdienen, während der Aufbau entsprechender
Behandlungsplätze für Multisystemerkrankungen bzw.
neuro-immunologische Erkrankungen zunächst einmal Geld
kosten würde.
Hinzu kommt, dass
viele Versicherungsverträge Klauseln enthalten, die eine
Leistung im Falle von Berufsunfähigkeit aufgrund
psychischer Erkrankungen ausschließen
– diese
Versicherungen haben also ein direktes ökonomisches
Interesse daran, ME/CFS-Patienten als psychisch krank zu
deklarieren. Dann müssen sie nicht zahlen.
Und auch die
Rentenversicherungen und Arbeitsämter sind fein raus,
wenn sie ME/CFS-Patienten als Simulanten behandeln,
denen man im Falle der „Verweigerung“ aufgezwungener
Reha-Maßnahmen oder 1-€-Jobs mal eben ganz locker den
Lebensunterhalt entziehen kann. Die psychiatrische
„Diagnose“ spart also Geld, wenn sie gleichgesetzt wird
mit Simulantentum. Der Patient ist mit seiner
Behinderung - dem ME/CFS - „schuldig“ im Sinne des
Simulantentums, solange bis er das Gegenteil beweisen
kann. Und dazu bräuchte er eben informierte Gutachter.
Solche wie der hier geschilderte haben aus Sicht der
schwerkranken Patienten eher die Rolle eines Richters
Gnadenlos in einem Gerichtsverfahren, in dem es keine
Beweisführung, keine Logik, keine Gesetze und kein Recht
zur Verteidigung gibt.
Ärzte aus dem Bereich
der sogenannten
Umweltmedizin, die seit Jahrzehnten für ein Umdenken
in der Medizin kämpfen, das sich an der Behebung der
Ursachen von Multisystemerkrankungen orientiert,
können hier noch viele weitere Gründe hinzufügen. So
bitter es ist: oft geht es hier nicht um Logik oder
Wissenschaft oder gar das Wohl der Patienten
– es geht
um Geld und Macht, um die Verteidigung eingefahrener
Vorgehensweisen, um die Verteidigung von Positionen.
Fazit: Wehren Sie sich!
Weisen Sie die
Rentenversicherung und den Gutachter bereits vor der
Begutachtung darauf hin, dass ein Psychiater der falsche
Fachmann zur Begutachtung Ihrer Erkrankung ist! Wenn Sie
erst mal ein fehlerhaftes Gutachten "an der Backe"
haben, hat das jede Menge negative Auswirkungen auf
Rentenanträge etc.
Machen Sie sich einen
Ausdruck dieser Ärztebroschüre
mit einem Überblick zum Krankheitsbild ME/CFS und
geben Sie sie allen Beteiligten.
Weisen Sie bereits in
der Gutachtenssituation auf die oben dargelegten
Widersprüche hin und gehen Sie nie allein zu einem
Gutachter!!! Nehmen Sie immer eine Begleitperson mit
–
das ist Ihr gutes Recht. (Zu dieser Frage siehe auch
Artikel des Monats 10 Teil 5)
Wenn ein Gutachten
erstellt wurde, machen Sie von Ihrem Recht Gebrauch,
eine Kopie davon zu erhalten. Es kann sein, dass man
Ihnen das verweigert, weil das im Falle psychiatrischer
Gutachten erlaubt ist, die Akteneinsicht zu verwehren.
Lassen Sie sich das nicht gefallen
– mit o.g.
Begründungen der Falscheinordnung des ME/CFS als
psychiatrischer Erkrankung!
Nehmen Sie sich einen
Rechtsanwalt. Lassen Sie sich helfen, und wenn Sie kein
Geld für einen Anwalt haben, dann schreiben Sie mit
Hilfe von Freunden und Verwandten, die Sie unterstützen,
Beschwerdebriefe! Auch die Patienten, die obigen Bericht
geschrieben hat, hat mit Beschwerdeschreiben an die
Leiter der jeweiligen Institutionen letztlich
erreicht, dass die Reha vom Tisch war und die Rente
genehmigt wurde! Lassen Sie sich auch durch Briefe von
"einfachen Angestellten" der Behörden/Versicherungen
nicht abwimmeln! Richten Sie Ihre begründeten
Beschwerden an die Vorgesetzten!
Beschweren Sie sich
bei der
Bundesärztekammer, bei der
Bundespsychotherapeutenkammer, wenden Sie sich an
diverse
Menschenrechtsbeauftragte. Es gibt auch
Menschenrechtsbeauftragte bei den Landesärztekammern
oder Ihrer jeweiligen Landesregierung. Geben Sie bei
einer Suchmaschine das Stichwort
"Menschenrechtsbeauftragter der Landesärztekammer" ein,
und schon bekommen Sie zahlreiche Links mit den
entsprechenden Adressen.
Bringen Sie sich
irgendwie, durch irgendwelche Aktionen aus der Lage der
Ohnmacht heraus, in die man sie drängt! Der schlimmste
Stress, den ein Mensch haben kann, ist das Gefühl von
Ohnmacht. Deshalb, tun Sie etwas, und wenn Sie, wie die
oben zitierte Patientin, ein halbes Jahr brauchen, bis
Sie die Kraft haben, einen Brief zu schreiben!
Sich zu wehren kann
besser als jede Psychotherapie sein! Und schreiben Sie
Ihre Geschichte auf. Schicken Sie sie an
info(at)cfs-aktuell.de oder an den
www.fatigatio.de!
Nur gemeinsam sind wir stark.
Literatur:
|
Aus:
Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung von
Menschen mit psychischen Störungen,
Dezember
2006
Diese Aussagen enthalten
zahlreiche eklatante Fehler - sind also äußerst
kritisch zu beurteilen und nicht als Empfehlung
anzusehen!!!! R.C.
3.6.7 Spezielle Syndrome: "Chronic Fatigue-Syndrom"
(CFS) bzw.
"Multiple Chemical Sensitivity-Syndrom" (MCS)/ "Idiopathic
Environmental Intolerances" (IEI)
Die
unter den Begriffen „Chronic Fatigue-Syndrom“ (CFS)
bzw. ”Multiple Chemical Sensitivity” (MCS)
zusammengefassten Beschwerdebilder haben wegen der
problematischen Vermengung von symptomatischer
Ebene, Syndrom-Ebene und nosologischer Zuordnung
bislang keinen Eingang in die international
gängigen Diagnoseklassifikationssysteme gefunden. Der Begriff
“Multiple Chemical Sensitivity” ist mittlerweile
durch den Begriff der “Idiopathic Environmental
Intolerances” (IEI) ersetzt worden. Bei Betroffenen
mit einem unspezifischenumweltbezogenen
Überempfindlichkeitssyndrom (= IEI) kommt es häufig
zur Chronifizierung, die sich nicht mit einem
ausschließlich toxikologisch-allergologischen Ansatz
erklären lässt.
Auch die 10. Revision der von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen
”Internationalen statistischen Klassifikation der
Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme”
(ICD-10) geht bei CFS bzw. MCS/IEI wegen der
fehlenden wissenschaftlichen Evidenz nicht von
eigenständigen Krankheitsentitäten aus,
zumal toxikologisch und immunologisch keine die
Symptomatik erklärenden Befunde ermittelt werden
können.
In der
anerkannten Fachliteratur herrscht hingegen
Einigkeit darüber, dass MCS-/IEI-Betroffene
gleichzeitig über deutlich erhöhte psychische
Beeinträchtigungen wie Ängstlichkeit, Depressivität
oder diffuse, unterschiedlich ausgeprägte
Körpersensationen berichten. Die Frage, ob die Häufung
aktueller psychischer Störungen für eine ”biogene”
oder ”psychogene” Ätiologie der MCS/IEI spricht,
ist aus wissenschaftlicher Sicht noch nicht geklärt.
Von einer neuronalen Chemie-Hypothese ausgehend
werden u. a. eine biologische Konditionierung bei
der Exposition gegenüber Gerüchen und
Atemwegsirritantien sowie immunologisch-allergische
Mechanismen diskutiert. Die zugrunde liegende
Überempfindlichkeit könnte durch verschiedene
Ursachen wie psychosozialen Stress hervorgerufen
werden.
Psychogene Erklärungsansätze rücken die manifeste
psychische Störung der Betroffenen als
Angsterkrankung, klinisch relevante Depression oder
als somatoforme Störung in den Vordergrund.
Verschiedene Autoren beobachten auch, dass unter MCS/IEI
klinische Fehldiagnosen subsumiert werden, das
heißt, dass es sich zum Teil um Frühformen
psychischer Erkrankungen handelt. Weiterhin wird ein
”belief system” als kulturgebundenes
Erklärungsmodell diskutiert, mit dessen Hilfe
unspezifische Körperbeschwerden interpretiert werden
und das von Medien, Heilpraktikern, Ärzten und
verschiedenen Institutionen etabliert und
unterstützt wird.
Auch beim ”Chronic Fatigue-Syndrom”, dessen
klinisches Bild sich in vielen Bereichen mit dem der
”Multiple Chemical Sensitivity” überschneidet, wird
in der Fachliteratur auf die Ähnlichkeit mit dem
unter ”Neurasthenie” operationalisierten
Krankheitsbild (ICD-10: F48.0) verwiesen.
Insgesamt betrachtet erscheint eine psychische
Ätiologie sowohl bei CFS als auch bei MCS/IEI in
vielen Fällen wahrscheinlich. Die bisherigen
klinischen Erfahrungen in universitären
Fachambulanzen und stationären Fachabteilungen
lassen zumindest eine hohe psychische Komorbidität
bei dieser Störungsgruppe als gesichert erscheinen.
Im
Rahmen der Sachaufklärung ist die komplexe
Problematik der Betroffenen auf unterschiedlichen
Ebenen zu berücksichtigen. Dies gilt - in Anlehnung
an die von der WHO herausgegebene ICF - sowohl für
den somatischen Bereich als auch für die psychischen
und sozialen Beeinträchtigungen.
In
der qualifizierten fachärztlichen Begutachtung sind
die körperlichen Befunde und die
technisch-apparativen Zusatzbefunde in sorgfältiger
Form zu erheben und zu bewerten. Darüber hinaus ist
auch die psychische und soziale Situation in die
Gesamtbeurteilung des einzelnen Versicherten
einzubeziehen.
Für
die Beurteilung des qualitativen und quantitativen
Leistungsvermögens spielt dabei weniger die
unmittelbare diagnostische oder ätiologische
Zuordnung der Symptomatik eine Rolle, als vielmehr
das Ausmaß der individuellen Fähigkeits- und
Funktionsstörungen in Hinblick auf das Leistungsbild
im Erwerbsleben.
Die
Prognoseabschätzung darüber, ob eventuell bestehende
Leistungseinbußen der Versicherten als irreversibel
bzw. chronisch anzusehen sind, kann daher nur im
Einzelfall und nicht allein auf der Grundlage einer
umstrittenen diagnostischen Kategorie vorgenommen
werden.
Die
Forderung nach einer Vermeidung von (hypothetischen)
Trigger-Substanzen im Berufsleben (Nocebo) als
mögliche neurotoxische Einwirkung und eine daraus
abgeleitete Frühberentung ist wissenschaftlich -
wie oben ausgeführt - nicht begründbar.
Hinsichtlich der medizinischen Rehabilitation in
psychosomatisch - psychotherapeutischen
Facheinrichtungen ist anzumerken, dass die
differenzielle Zuweisung von Versicherten zu diesen
Maßnahmen auf der Grundlage eines ganzheitlichen
Krankheitsverständnisses erfolgt und
die hier angebotene
Behandlung der Symptomatik dem gegenwärtig
anerkannten Wissensstand entspricht. Unter
verhaltensanalytischen Aspekten kommt insbesondere
der Überwindung von Verstärkungs- und
Vermeidungsreaktionen eine Bedeutung zu, wenn die
Betroffenen lernen sollen, soziale Fertigkeiten zu
trainieren und die Änderung dysfunktionaler
Kognitionen und ”belief systems” einzuüben.
Nach Ausschöpfung aller rehabilitativen Optionen
wird sich bei CFS- bzw. MCS- / IEI-Betroffenen eine
Frühberentung im Einzelfall möglicherweise nicht
vermeiden lassen. Dies kann aus sozialmedizinischer
Sicht allerdings nur auf der Grundlage einer
umfassenden Gesamtbeurteilung der qualitativen und
quantitativen Leistungsfähigkeit erfolgen, in die
die verschiedenen Gesichtspunkte einschließlich der
tatsächlich ermittelbaren Fähigkeitsstörungen
Eingang finden müssen.
Somatoforme Störungen F45 nach ICD-10
Die Krankheitsbilder
können in Störungen, die durch multiple körperliche
Symptome gekennzeichnet sind, Störungen, bei denen
eine eng umschriebene körperliche Symptomatik im
Vordergrund steht sowie Störungen mit primär
dominierenden psychischen Merkmalen unterteilt
werden.
Zu den erstgenannten
Krankheitsbildern zählen die Somatisierungsstörung
(ICD-10: F45.0) sowie die undifferenzierte
somatoforme Störung (ICD-10: F45.1). Letztere stellt
definitionsgemäß eine milder ausgeprägte Form der
Somatisierungsstörung dar.
Davon sind Störungen
zu unterscheiden, bei denen eine eng umschriebene
Symptomatik im Vordergrund steht, hier spielt die
anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10:
F45.4) die wichtigste Rolle bei der Begutachtung.
Diese Störung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich
die vorherrschende Beschwerde als andauernder,
schwerer und quälender Schmerz darstellt, der durch
einen pathophysiologischen Prozess oder eine
körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden
kann. Dieser Schmerz tritt in Verbindung mit
emotionalen Konflikten oder psychosozialen
Problemen auf.
Darüber hinaus werden
zu den somatoformen Störungen Krankheitsbilder
gerechnet, bei denen primär psychische Merkmale
dominieren. Hierzu gehört die hypochondrische
Störung, ICD-10: F45.2. Charakterisiert ist sie
durch eine ausgeprägte lang dauernde und nur schwer
korrigierbare Krankheitsbefürchtung.
Die somatoformen
Störungen sind mit einer erheblichen psychischen
Komorbidität verbunden: Beschrieben wurden in 60
bis 70% aller Fälle auch depressive Störungen, in 20
bis 40% der Fälle Angststörungen, in 15 bis 20% der
Fälle Störungen mit Substanzmissbrauch oder
-abhängigkeit sowie Persönlichkeitsstörungen in 30
bis 60% der Fälle. Diese Störungen treten allerdings
meist nicht gleichzeitig mit der somatoformen
Störung auf, es können Monate bis Jahre zwischen
dem jeweiligen Erstauftreten des einen oder anderen
Störungsbildes vergehen.
Bei Patienten mit
somatoformen Störungsbildern besteht eine ebenso
große Wahrscheinlichkeit, eine (zusätzliche)
körperliche Erkrankung zu entwickeln, wie bei jeder
anderen Person der entsprechenden Altersgruppe.
Weitere körperliche Untersuchungen sind
insbesondere zu erwägen, wenn sich die Klagen über
somatische Beschwerden verändern oder neue
körperliche Beschwerden geschildert werden.
Die Diagnose der
somatoformen Störung wird zunehmend häufiger
gestellt, nicht selten leider auch im Sinne der
Ausschlussdiagnostik. Dagegen sind in der ICD-10 die
Merkmale der Störung eindeutig durch positive
Kriterien festgelegt. So muss die Störung hier u. a.
mehr als zwei Jahre mit mindestens sechs
Krankheitssymptomen bestehen; das Beschwerdebild
darf nicht nur während einer psychotischen,
affektiven oder Panikstörung auftreten.
Die ICD-10-Kriterien
der somatoformen Störungen weisen keine depressiven
Symptome oder Angstsymptome auf, insofern ist
differenzialdiagnostisch meist kein erhebliches
Problem gegeben. Depressive Störungen sind durch
charakteristische Symptome gekennzeichnet. Falls
diese Symptome bei einer somatoformen Störung
ebenfalls vorliegen, muss die zusätzliche Diagnose
einer depressiven Störung in Betracht gezogen
werden.
Psychopathologie
Somatoforme Störungen sind durch vielfältige
psychopathologische Symptome charakterisiert.
Während Bewusstsein und Orientierung erhalten sind,
findet sich vor allem im inhaltlichen Denken häufig
eine pathologische Einengung auf unterschiedlichste
körperliche Beschwerden. Das Denken ist von
erheblicher Besorgtheit geprägt. Durch den hohen
subjektiven Leidensdruck und die negative
Selbstbewertung kann auch die affektive
Schwingungsfähigkeit beeinträchtigt sein. Von
diagnostischem Wert ist neben der Klagsamkeit
insbesondere auch eine gehemmte Expressivität. Es
besteht ein erhebliches Misstrauen gegenüber
ärztlichen Versicherungen hinsichtlich der
Beschwerden. Die kognitive und intellektuelle
Leistungsfähigkeit ist in aller Regel nicht
beeinträchtigt. Besteht neben der somatoformen
Störung eine depressive Störung, finden sich
entsprechende psychopathologische Befunde; gleiches
gilt für eine zusätzlich bestehende
Angstsymptomatik. Wenn Störungen mit
Substanzmissbrauch oder –abhängigkeit zusätzlich
vorliegen, finden sich die durch diese Störung
verursachten psychopathologischen Veränderungen.
Gesundheitliche Integrität
Aufgrund des häufig ausgeprägten Schonverhaltens
sind insbesondere Beeinträchtigungen in der
Teilnahme an den Aktivitäten des täglichen Lebens
anzutreffen. Es kann zu einem zunehmenden sozialen
Rückzug mit Isolation kommen, vor allem wenn dieser
durch ein entsprechendes Umfeld begünstigt wird.
Die Partizipation am beruflichen Alltag, aber auch
im familiären Bereich und an Freizeitaktivitäten ist
eingeschränkt.
Verlauf und Prognose
Somatisierungsstörungen werden häufig lange Zeit
rein organmedizinisch-symptomatisch behandelt, es
kommt nicht selten zur Chronifizierung der
Symptomatik, insbesondere wenn vielfältige
diagnostische Maßnahmen durchgeführt werden. Die
Diagnose einer somatoformen Störung wird häufig
erst dann gestellt, wenn bereits mehrere Jahre
entsprechende Symptome bestehen.
Die
Prognose muss – insbesondere für die somatoforme
Schmerzstörung – generell als um so ungünstiger
beurteilt werden, je stärker chronifiziert sich das
Krankheitsverhalten darstellt. Wenn auch die
Wirksamkeitsbelege der verschiedenen Formen der
Psychotherapie (isoliert und kombiniert eingesetzt)
noch lückenhaft sind, sind die therapeutischen
Möglichkeiten erst dann als ausgeschöpft anzusehen,
wenn ambulante oder stationäre psychotherapeutische
Behandlungsversuche durchgeführt wurden. Nach
jahrelanger Fixierung auf eine somatische
Erkrankung, medizinisch nicht indizierter Diagnostik
zur Rückversicherung des Patienten mit daraus
möglicherweise resultierender iatrogener Schädigung
sowie in Folge krankheitsbedingter Faktoren ist im
Einzelfall zu prüfen, ob bei den Patienten die
Aufnahme einer Psychotherapie noch Erfolg
versprechend sein kann.
Bei
eingeschränktem Psychogeneseverständnis besteht
häufig keine Motivation für die notwendigen
psychotherapeutischen Interventionen; die
Betroffenen sind in aller Regel davon überzeugt,
organisch krank zu sein. Günstig ist es - falls eine
medizinische Rehabilitation überhaupt akzeptiert
wird - eine Maßnahme zu wählen, in der sowohl
körperliche als auch psychosomatische Aspekte
gleichberechtigt berücksichtigt werden können.
Sozialmedizinische Beurteilung
Die
sozialmedizinische Beurteilung der somatoformen
Störungen, insbesondere der somatoformen
Schmerzstörung stellt angesichts der Komplexität der
Problematik hohe Anforderungen an den Gutachter.
Da
körperliche Störungen, die eine Leistungsminderung
rechtfertigen, häufig nicht bestehen, muss sich der
Gutachter an den vorhandenen psychopathologischen
Auffälligkeiten bei dem Probanden orientieren.
Wichtig ist eine ausführliche Befragung des
Probanden zu den Tagesaktivitäten. Erfragt werden
müssen auch Symptome des sozialen Rückzugs.
Bei
weitgehender Einschränkung der Fähigkeit zur
Teilnahme an den Aktivitäten des täglichen Lebens
(im Sinne einer "vita minima") beispielsweise in den
Bereichen Mobilität, Selbstversorgung,
Kommunikation, Antrieb, Konzentrationsfähigkeit,
Interesse oder Aufmerksamkeit ist von einer
Minderung des qualitativen und quantitativen
Leistungsvermögens auszugehen.
Es
lässt sich nicht vorhersehen, wie eine Berentung die
vorhandene Symptomatik beeinflusst. Grundsätzlich
ist nicht zu erwarten, dass die Berentung die
vorhandene Symptomatik mindert oder zum Verschwinden
bringt; es ist aber auch - empirischen
Untersuchungen zufolge - nicht zu befürchten, dass
die Berentung die Symptomatik weiter chronifiziert
und fixiert.
3.6.6 Neurasthenie (ICD-10: F48.0)
Die
Symptomatik der Neurasthenie ist durch Klagen über
vermehrte Müdigkeit nach geistigen Anstrengungen
charakterisiert. Geklagt wird auch über das Gefühl
körperlicher Schwäche und Erschöpfung nach nur
geringen Anstrengungen, begleitet von muskulären
oder anderen Schmerzen und der Unfähigkeit, zu
entspannen.
Das
Erscheinungsbild dieser Störung zeigt beträchtliche
kulturelle Unterschiede.
In
vielen Ländern wird die Neurasthenie nicht mehr
allgemein als diagnostische Kategorie neurotischer
Erkrankungen akzeptiert. Sie sollte nur
diagnostiziert werden, wenn die Beschreibung der
Symptomatik der Neurasthenie mehr entspricht als
jedem anderen neurotischen Syndrom.
Für
eine eindeutige Diagnose nach ICD-10 wird
gefordert:
1
entweder anhaltende oder quälende Klagen über gesteigerte
Ermüdbarkeit nach geistiger Anstrengung oder über
körperliche Schwäche und Erschöpfung nach
geringsten Anstrengungen
2
mindestens zwei der folgenden Empfindungen: Muskelschmerzen
und -beschwerden; Schwindelgefühle,
Spannungskopfschmerzen; Schlafstörungen,
Unfähigkeit zu entspannen; Reizbarkeit und
Dyspepsie.
3
beim Vorhandensein von Angst- oder Depressionssymptomen sind
diese nicht anhaltend und schwer genug, um die
Kriterien für eine der spezifischeren Störungen
dieser Klassifikation zu erfüllen.
Wichtig ist es, die Symptomatik gegenüber einer
beginnenden organischen psychischen Störung (demenzielles
Syndrom) abzugrenzen. Hier können sowohl
entsprechende testpsychologische als auch
technisch-apparative Untersuchungsmethoden hilfreich
sein.
Der
Begriff der Neurasthenie, der laut
ICD-10-Terminologie mit dem "Erschöpfungssyndrom"
gleichzusetzen ist, wird nach wie vor häufig
benutzt, um funktionelle Beschwerdebilder zu
beschreiben. Dies ist nicht sinnvoll. Der Begriff
der Neurasthenie sollte nur verwendet werden, wenn
das Störungsbild eindeutig die Kriterien für diese
Diagnose erfüllt.
Eine Minderung der Leistungsfähigkeit in zeitlicher
Hinsicht wird in aller Regel nicht bestehen.
Qualitative Leistungseinschränkungen können durch
bestehende Konzentrationsstörungen verursacht sein.
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