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    Artikel des Monats Februar 2012 Teil 1

     

    Die „neuen“ Leitlinien Müdigkeit über „CFS“ – ein Zerrbild medizinischer Wissenschaft und Verantwortung?

    Kommentare und Analysen von Regina Clos und anderen

    Artikel hier als pdf-Datei

    Bitte lesen Sie unbedingt den am 14. Februar 2012 erschienenen Blog von Nina:

     Psychiatrische (Fehl-) Diagnosen: Eine Bestandsaufnahme

    1. Einführung - Leitlinie Müdigkeit der DEGAM behandelt ME/CFS auf der Basis des Wessely'schen "biopsychosozialen Modells"

    2. "Müde - müder - CFS"

    3. Sind die Autoren überhaupt für eine Beurteilung des ME/CFS qualifiziert?

    4. Wie spiegelt sich das „biopsychosoziale Modell“ in den Empfehlungen der Leitlinie zur Behandlung wider?

    5. Therapievorschläge - so absurd wie das "biopsychosoziale Modell"

    6. Warum ein so primitives Modell für eine so komplexe Krankheit?

    7. Wie sieht das biopsychosoziale Modell aus? Margaret Williams erklärt.

    8.  Ist die Vermischung verschiedener Erkrankungen ein Versehen oder Absicht?

    9. Was verbirgt sich hinter der Fassade des biopsychosozialen Modells?

    10. Kein Versehen, sondern Strategie: "ungeklärt" gleich somatoform

    11. Psychosomatik verkommt zur Herrschaftswissenschaft

    12. Weitere Textanalysen der Leitlinie

    13. Fazit: diese Leitlinie setzt das Elend der Patienten fort

    Lesen Sie auch nochmals die Distanzierung des Bündnis ME/CFS zu den Leitlinien sowie diverse Emails und Briefe, die im Rahmen der "Beteiligung" des Bündnis ME/CFS an dem Revisionsprozess der Leitlinien ausgetauscht wurden: September-11-3

    Und lesen Sie Hannas Kritik an der Leitlinie - kurz und knackig.

    Wenn Sie zu den in dieser Leitlinie aufgeführten "Behandlungs"-Maßnahmen aufgefordert oder gar gezwungen werden - lesen Sie hier, wie Sie sich wehren können!

     

    Zusammenfassung:

    Im Januar 2012 ist eine überarbeitete Fassung der "Leitlinien Müdigkeit“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) erschienen. Jedoch wurden darin weder der aktuelle Stand der Wissenschaft noch die umfangreiche Studienlage zu den biomedizinischen Anomalien des Krankheitsbildes ME/CFS (ICD-10 G93. 3) berücksichtigt.

    Man hat erneut unterschiedliche Krankheitsbilder durcheinander geworfen und in einen undifferenzierten Begriff von "CFS" gepackt. Nach dieser „Umdefinition“ stellt man dann das Krankheitsbild in einseitig verzerrter Weise als psychogen und allein durch falsches Verhalten und Denken der Betroffenen verursacht dar. Statt über die dramatischen Folgen dieser schweren Krankheit aufzuklären, wird verharmlost. Statt für eine angemessene Betreuung der an ME/CFS erkrankten Menschen zu sorgen, wird in der Leitlinie behauptet, dass jede weitergehende Diagnose sie nur in ihren falschen Krankheitsüberzeugungen bestärken würde und zu unterlassen sei. Die Folge:

    • Die Patienten werden weiterhin keine angemessene Diagnose oder gar eine hilfreiche Behandlung bekommen.

    • Patienten wird weiterhin eine wirkungslose und in der Mehrzahl der Fälle schädliche Behandlung empfohlen (Verhaltenstherapie + ansteigendes körperliches Training).

    • Die Patienten werden weiterhin fälschlich als Neurastheniker, Hypochonder, Neurotiker, Somatisierer oder gar Simulanten behandelt, zu Psychiatern geschickt und in psychosomatische Kliniken gezwungen, wo sie in der Regel noch kränker wieder herauskommen.

    • Den Patienten werden infolge dieser Leitlinie weiterhin Rentenzahlungen und sonstige Leistungen verweigert werden mit der Begründung, sie seien an ihrer Erkrankung selbst schuld bzw. es läge allein in ihrer Macht, wieder gesund zu werden.

    So wird diese Leitlinie erheblich dazu beitragen, dass sich das Elend der Menschen mit ME/CFS in Deutschland fortsetzt.

    Dieser Aufsatz diskutiert, wie es zu dieser Falschdarstellung des ME/CFS kommt, welche möglichen ökonomischen und politischen Hintergründe dafür verantwortlich sind und welche dramatischen Folgen das für die Betroffenen hat.

     

     

    Einführung

    Im Januar 2012 sind die Leitlinien Müdigkeit der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin erschienen. Im Klappentext der Leitlinien ist zu lesen:

    „Leitlinien sind systematisch entwickelte Empfehlungen, die Grundlagen für die gemeinsame Entscheidung von Ärzten und deren Patienten zu einer im Einzelfall sinnvollen gesundheitlichen Versorgung darstellen. Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), der wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Allgemeinmedizin, zielen auf die Beschreibung angemessenen, aufgabengerechten Handelns im Rahmen hausärztlicher bzw. allgemeinmedizinischer Grundversorgung.“

    In diesen Leitlinien wird auch ME/CFS behandelt, und sogar relativ ausführlich. Bei genauerer Lektüre muss man sich allerdings fragen, ob hier tatsächlich von ME/CFS (nach ICD-10 G 93.3) oder nicht vielmehr von einem diffusen Begriff Chronischer Erschöpfung, Chronischem Müdigkeitssyndrom oder was auch immer die Rede ist.

    Was die Darstellung des ME/CFS betrifft, so greifen die überarbeiteten Leitlinien Müdigkeit durchgängig auf ein völlig verzerrtes und grob vereinfachend bis verfälschendes Verständnis von „CFS“ zurück, nämlich auf das der „biopsychosozialen Schule“ – sprich der Wessely-School, die „CFS“ eindeutig als psychische Störung begreift. Auf diese biopsychosoziale Schule beziehen sich die Autoren implizit und explizit immer wieder (z.B. auf S. 24 a.a.O.).

    Das gesamte Dokument ist in seinen Aussagen über Diagnose und Therapie des „CFS“ durchzogen von den ideologischen Vorstellungen dieser „biopsychosozialen“ Schule. Deren Krankheitsverständnis blendet gezielt alle nachgewiesenen biomedizinischen Anomalien aus und bietet stattdessen pseudo-psychologische, primitive Vorstellungen von der Entstehung und Aufrechterhaltung des Krankheitsbildes an. Dieses "Modell" hat eher den Charakter eines in sich geschlossenen Glaubenssystems, bei dem jeglicher Zweifel daran mit Einwänden begegnet wird, die wieder in jenes Glaubenssystem zurückführen und innerhalb dessen „logisch“ erscheinen.

    Sie finden in den Februar-Artikeln 2, 3, 4, 5 und 6 ausführliche Erläuterungen und kritische Analysen zu diesem "biopsychosozialen Modell" des "CFS", das die Grundlage der Empfehlungen der Leitlinien Müdigkeit zu "CFS" bildet.

     

    "Müde - müder - CFS" 

    Aus der gesamten Leitlinie geht hervor, dass die Autoren ME/CFS bzw. ihr „CFS“ nur als eine extreme Steigerungsform von Müdigkeit begreifen – nach dem Motto: müde, müder, CFS. ("(Extremfall:Kriterien für Chronisches Müdigkeitssyndrom erfüllt)" S. 17 a.a.O.)

    Warum nicht auch "Müde - müder - Krebs" oder "müde - müder - Parkinson"? Würde jemand eine solche Steigerungsreihe erfinden, fiele der qualitative Bruch zwischen der zweiten und dritten Steigerungsform sofort auf und jeder würde sagen, Krebs ist doch etwas anderes als extreme Müdigkeit, Parkinson ist doch etwas anderes als extreme Müdigkeit.

    Aber bei "CFS" kann man das ja wegen der wunderbaren Namensgebung durch die US-amerikanischen Gesundheitsbehörden (CDC) im Jahr 1988 so leicht tun, die die damals bereits bestehende Krankheitsdefinition der Myalgischen Enzephalomyelitis gezielt ignorierten, um dem Krankheitsbild einen so verharmlosenden, lächerlichen Namen zu geben. Chronic Fatigue Syndrome - fälschlicherweise auch noch als Chronisches Müdigkeitssyndrom übersetzt, lässt jeden erst einmal an ein harmloses, wenn auch lästiges Alltagsempfinden denken und sagen: "Ich bin auch immer müde! Vor allem Freitags abends nach einer anstrengenden Arbeitswoche, HAHA!" Und auch die Leitlinienautoren folgen dieser Verharmlosungsstrategie:

    „Epidemiologische Untersuchungen demonstrieren eine große Spannbreite von Ausprägungen; diese reichen von leichten Müdigkeitsbeschwerden bis hin zum Chronischen Müdigkeitssyndrom (siehe 3.7) mit schweren Behinderungen (3).“

    Und:

    „Im ICD 10 wird das Symptom am besten mit R 53 kodiert. Neurasthenie/Ermüdungssyndrom haben den Code F 48.0, postvirales Ermüdungssyndrom G 93.3, Senilität (incl. Altersschwäche) R 54.“ (S. 3, a.a.O.)

    Das ist m.E. der entscheidende Satz, denn sie beschreiben in der gesamten Leitlinie das ME/CFS wie Neurasthenie/Ermüdungssyndrom – und eben nicht als postvirales Ermüdungssyndrom. Das Postvirale Syndrom wird auf S. 43 (a.a.O.) lediglich als "(Pseudo-)Diagnose" bzw. als "Hypothese" bezeichnet.

    So ist es nicht verwunderlich, dass sie auch nicht weiter auf die pathologischen Prozesse beim Postviralen Erschöpfungssyndrom eingehen. Würden sie das tun, so müsste irgendwo einmal auf die vorangegangenen Virusinfektionen Bezug genommen werden, aber das ist nicht der Fall. Demnach ist das, was sie als "CFS" bezeichnen, in keinem Fall als Postvirales Erschöpfungssyndrom zu verstehen, d.h., sie sprechen ganz klar nicht von G 93.3, sondern von F 48.0 "Neurasthenie/Ermüdungssyndrom" wenn sie von "CFS" reden. Folgerichtig behaupten sie dann auch:

    „Das CFS ist nicht durch einen definierten pathologischen Prozess von anderen Erkrankungen bzw. von einem gesunden "Normalzustand" abzugrenzen; (…)Vielmehr handelt es sich beim CFS um ein Konzept bzw. eine Vereinbarung, um die Kommunikation mit dem Patienten, prognostische Einschätzung und Behandlung zu strukturieren. (…)“ (S. 32f,  a.a.O.)

    In der Abhandlung über die Epidemiologie (S. 32) sprechen sie zwar unter anderem einerseits eindeutig vom CFS nach Fukuda, denn sie beziehen sich auf die Prävalenzstudie von Jason (der nach Fukuda diagnostiziert hat - 233. Jason LA, Richman JA, Rademaker AW, Jordan KM, Plioplys AV, Taylor RR, et al. A community-based study of chronic fatigue syndrome. Arch Intern Med. 1999 Oct 11;159(18):2129-37.) Die Empfehlungen im Patientenbrief und in den Informationen zur Patientenberatung beziehen sich aber andererseits eindeutig auf das Verständnis des CFS als Neurasthenie (F48.0), also das Verständnis der biopsychosozialen Schule, genauso wie das alle Beschreibungen in der Langfassung der Leitlinien Müdigkeit ab S. 32 tun. Das hier ist eine Kurzfassung des biopsychosozialen Modells dieser sogenannten Wessely-School, auf dem auch alle deutschen Gutachter, Mediziner, Psychiater, Krankenkassen etc. aufbauen, die allesamt ME/CFS eben als Neurasthenie, somatoforme Störung oder eine andere F-Diagnose begreifen.

    „So führt die Auffassung, eine körperliche Erkrankung zu haben, die sich durch Bewegung und Belastung nur verschlimmere, zu verlängerter Bettruhe und  Aktivitätsvermeidung. Die sich bald einstellenden physiologischen Sekundärveränderungen durch fehlende Aktivität (Dekonditionierung) bestätigen diese eigentlich ja nicht begründeten Auffassungen: Bewegung führt jetzt definitiv zu Beschwerden, die sich durch Ruhe kurzfristig bessern! Damit ist ein  Teufelskreis in Gang gekommen, der wiederum zu Ausweichen, Vermeidung, Hilflosigkeit und depressiver Stimmung führt.“ (S. 38 a.a.O.)

    Was sie unter Müdigkeit verstehen, geht auch aus dem Patientenbrief „Müdigkeit im Teufelskreis der Unterforderung“ deutlich hervor:

    "Müdigkeit ist ein Gefühl der Unlust, aber auch das Gefühl, die körperliche Leistungsfähigkeit zu verlieren.“

    Die Autoren der Leitlinien scheinen nicht zu verstehen oder verstehen zu wollen, geschweige denn anzuerkennen, dass es sich bei ME/CFS nicht um eine extreme Form von Müdigkeit, sondern 1.) um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, dessen Hauptsymptom zwar eine extreme Erschöpfbarkeit ist, die jedoch mit Müdigkeit nichts zu tun hat, 2.) um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, dass die WHO in ihrer ICD-10 Klassifikation der Krankheiten als organisch-neurologische Krankheit mit dem Code G93.3 einordnet, also zusammen mit anderen neurologischen Krankheiten wie MS. Die biopsychosoziale Schule hingegen betrachtet "CFS“ als psychogene Erkrankung, die allein aus einem „dysfunktionalen Krankheitsverhalten“ erwächst.

    Sind die Autoren überhaupt für eine Beurteilung des ME/CFS qualifiziert?

    Das ist eine Frage, die man sich mit Blick auf die medizinische Fachrichtung der Leitlinien-Autoren stellen muss. Sie sind alle vier Fachärzte für Allgemeinmedizin (s. S. 57 a.a.O.):

    ·        Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff (MHSc): Facharzt für Allgemeinmedizin. Stellvertr. Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin der Universität Marburg und Hausarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Marburg.

    ·        Dr. med. Peter Maisel: Facharzt für Allgemeinmedizin, Leiter des Arbeitsbereiches Allgemeinmedizin der Universität Münster und Hausarzt in 48488 Emsbüren.

    ·        Dr. med. Christa Dörr: Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapeutische Medizin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover. Bis 2010 tätig in eigener hausärztlicher Praxis und als Psychotherapeutin.

    ·        Prof. Dr. med. Erika Baum: Fachärztin für Allgemeinmedizin, Sportmedizin. Leiterin der Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin der Universität Marburg und Hausärztin in einer Gemeinschaftspraxis in Biebertal.

    Die Autoren haben die Überarbeitung der Leitlinien Müdigkeit in ihrer Freizeit erstellt. Das geht sowohl aus einer Email von Frau Prof. Baum an das Bündnis ME/CFS hervor, als auch aus der auf S. 58 der Leitlinien abgedruckten Angabe: „die beauftragten Autoren erhielten für ihre Arbeit keine Vergütung oder sonstigen Zuwendungen“.

    Darf man die Frage stellen, ob Allgemeinärzte qualifiziert genug sind, ein so komplexes Krankheitsbild wie ME/CFS überhaupt zu beurteilen und darüber hinaus auch noch Leitlinien für die deutsche Ärzteschaft zu erstellen? Denn dies würde eigentlich tiefgreifende Kenntnisse in Molekularbiologie, Immunologie, Genetik, Virologie und Retrovirologie, Neurologie und Endokrinologie erfordern, wenn man sich die von den Autoren selbst zitierte Kanadische Falldefinition des ME/CFS einmal ansieht. Haben die Autoren Donner-Banzhoff, Baum, Dörr und Maisel überhaupt die Fähigkeit, die Kapazität und die Zeit, die entsprechenden vielen tausend Veröffentlichungen auf diesem Gebiet zu beurteilen und in eine Leitlinie zu verarbeiten?

    Schauen wir uns das Ergebnis ihrer Arbeit einmal genauer an:

     

    Wie spiegelt sich das „biopsychosoziale Modell“ in den Empfehlungen der Leitlinie zur Behandlung wider?

    Die den Aussagen der Leitlinie über „CFS“ zugrunde liegende „Krankheitstheorie“ fassen die Autoren in ihrem Patientenbrief kurz und "verständlich" zusammen:

    „Oft ist es ein äußerer Anlass, der zur Einschränkung der körperlichen Aktivität und zur Unterschätzung des eigenen Leistungsvermögens führt. Dies kann eine Infektion oder eine andere Erkrankung sein, es kann mit einer persönlichen Krise oder Belastung beginnen oder mit dem Gefühl des Unbehagens.

    Gefährlich ist, was danach folgt: Man zieht sich aus Aktivitäten zurück, traut sich manches gar nicht mehr zu, und verliert auch den Spaß an bisher üblichen Dingen des Lebens. Damit kann jedoch ein Teufelskreis beginnen:

    • Aktivität (vor allem auch körperliche!) wird gemieden,

    • die Belastbarkeit ('negativer Trainingseffekt') sinkt,

    • Tätigkeiten werden beschwerlich, deswegen verliert man auch den Spaß daran,

    • schließlich möchte man noch weniger unternehmen.“

    Ein großartiges Schaubild im Patientenbrief macht dieses Verständnis von der Entstehung von „Müdigkeit“ und „CFS“ als einfach nur extremer Form von Müdigkeit nochmals deutlicher:

    Dieses primitive Modell ist sogar für einen Laien „nachvollziehbar“. Da braucht man sich nicht mit den komplexen biologischen Anomalien des ME/CFS beschäftigen, für die man Kenntnisse in Molekularbiologie, Immunologie, Endokrinologie, Virologie und Neurologie braucht. So ein schlichtes Modell ist mit Sicherheit ein bequemer Ausweg für den überforderten Arzt, wenn dieser mit einem so komplexen, schwer zu verstehenden und schwer zu behandelnden Krankheitsbild wie ME/CFS konfrontiert wird.

    Nicht nur die Autoren der Leitlinie könnten also überfordert gewesen sein und diesen Ausweg in die biopsychosoziale Schule gesucht haben, sondern auch der Arzt in der Praxis, für den diese Leitlinie ja gedacht ist. Dieser hat mit einer 8-Minuten-Medizin und einem äußerst restriktiven Krankenkassenbudget weder Zeit noch Geld, eine diesem komplexen Krankheitsbild entsprechende Diagnose und Behandlung durchzuführen, steht aber unter dem Zwang, irgendetwas zu diagnostizieren und den Patienten abzufertigen. Der Arzt und das Gesundheitssystem als Ganzes können wohl schwer zugeben, dass sie dem ME/CFS-Patienten nichts anzubieten haben und dass sie auch nichts über diese Krankheit wissen (wollen).

    Was Margaret Williams über die in den deutschen Leitlinien zu "CFS" vielfach zitierten und inhaltlich reproduzierten NICE Guidelines über "CFS/ME" schreibt, gilt offenbar gleichermaßen für die deutschen Verhältnisse (siehe: Margaret Williams, deutsche Fassung von Comments on the NICE Guideline)

    „Da sie den Auftrag vom [britischen] Gesundheitsministerium erhalten hatten, konnte NICE wohl kaum eine Richtlinie produzieren, in der steht, dass die Realität die ist, dass es keine Behandlung außer einer symptomatischen gibt (also z.B. mit Schmerzmitteln und Mitteln gegen Übelkeit), insbesondere für eine Erkrankung, die eindeutig ein gewaltiges und wachsendes Problem ist. Die Richtlinie ist eine Widerspiegelung der bestehenden Politik, dass so wenige Möglichkeiten der Behandlung für diejenigen mit ME/CFS zur Verfügung stehen.“

    Dieser Satz trifft exakt auch auf die deutsche Richtlinie zu. Mit dem Unterschied, dass man hierzulande noch leugnet, dass die Menschen mit ME/CFS „ein gewaltiges und wachsendes Problem“ darstellen. Hier wird noch behauptet, „CFS“ sei ein „seltenes Beratungsergebnis“ (S. 32 a.a.O) – eine angesichts der evidenzbasiert ermittelten Prävalenzzahlen von 0,2% bis 0,4% der Bevölkerung eine beinahe perfide Verleugnungsstrategie.

    Die Leitlinien sind, was die Darstellung des „CFS“ betrifft, ein Dokument der Misere, in der sich Ärzte und Patienten gleichermaßen wiederfinden, wenn es um "CFS" geht. Sie sind eine Mischung aus Vorurteilen, Stigmatisierungen und faulen Ausreden und dem Versuch, zu verschleiern, worum es wirklich geht. Doch nicht etwa um Einsparmaßnahmen?

    Insofern ist diese Leitlinie absolut geeignet für das gegenwärtige Medizinsystem, das dem Arzt in der Praxis kaum Zeit und finanzielle Mittel für eine angemessene Behandlung von ME/CFS-Patienten (und auch vielen anderen Patienten!), aber absolut ungeeignet für den unglückseligen Menschen, der mit dieser Krankheit geschlagen ist und im Medizinsystem verzweifelt nach Hilfe sucht.

     

    Therapievorschläge - so absurd wie das "biopsychosoziale Modell"

    Und dann folgt auch gleich der diesem simplen Krankheitsmodell entsprechende Therapievorschlag:

    „Tips zur Steigerung der körperlicher Aktivität:

    Wählen Sie aus, was Ihnen Spaß macht, was Sie von früher kennen oder was sich gut in Ihren Tagesablauf integrieren lässt. Besonders geeignet sind: schnelles Spazierengehen, Radfahren, Schwimmen, Gymnastik, Nordic Walking, einfache Ballspiele, Tanzen. Auch die Krankenkassen können CDs, Videos oder Kurse vermitteln. Sie sollten verbindliche Zeiten vorsehen, sonst werden Sie die geplante Aktivität auslassen.“

    Jeder bettlägerige oder ans Haus gefesselte ME/CFS-Patient kann einen solchen „Tip“ nur als höhnische Missachtung seiner schweren Symptomatik betrachten. Alltagsverrichtungen wie persönliche Hygiene und einfache Hausarbeiten sind für schwer Erkrankte in der Regel schon kaum möglich, und auch moderat Erkrankte können von „schnellem Spazierengehen, Radfahren, Schwimmen, Gymnastik, Nordic Walking, einfachen Ballspielen, Tanzen“ nur träumen. Wenn auch nur einer dieser wunderbaren Ratschläge das Geringste helfen würde, dann wären diese Menschen nicht an ME/CFS erkrankt. Alle ME/CFS-Patienten beschreiben, wie sie insbesondere zu Beginn ihrer Erkrankung immer wieder versuchen, die engen Grenzen ihrer körperlichen (und geistigen) Belastbarkeit zu überwinden und unter Qualen versuchen, ihr früheres Leben fortzusetzen. Alle machen die leidvolle Erfahrung, dass genau dieser Versuch sie immer weiter in die Krankheit hineintreibt statt, wie die Autoren der Leitlinien behaupten, ein Heilmittel zu sein.

    Hier werden subtil Ursache und Wirkung verdreht: viele Menschen mit ME/CFS waren vor dem meist plötzlichen Beginn ihrer Erkrankung vollkommen normal leistungsfähig oder sogar sportlich aktiv. Ihr Drama besteht ja gerade darin, dass sie all das mehr oder weniger von heute auf morgen nicht mehr konnten, weil sie krank geworden sind und dass sie natürlich ausgerechnet das, was ihnen da als Heilmittel empfohlen wird, gar nicht können. Und zwar nicht, weil sie von heute auf morgen dekonditioniert wurden, sondern weil sie ein spezifischer Krankheitsprozess besonders an körperlicher Betätigung hindert (auch an geistiger, aber das haben die Leitlinienautoren und viele andere noch gar nicht begriffen). Könnten sie all das, wären sie nur ansatzweise in der Lage, ihren unsäglichen Leidenszustand durch körperliche Bewegung lindern, dann gäbe es keine ME/CFS-Kranken. Allein eine solche Empfehlung belegt, dass die Autoren nicht die geringste Vorstellung davon zu haben (wollen) scheinen, was die zentralen Krankheitsmechanismen und das Leitsymptom bei ME/CFS ist: die sogenannte post-exertional malaise, die Zustandsverschlechterung oder neuro-immunologische Entkräftung nach Belastung.

    Und dass sie nicht die geringste Vorstellung davon haben, wie schwer erkrankt manche Menschen mit ME/CFS sind, obwohl wir ihnen z.B. auch das erschütternde Buch Lost Voices haben zukommen lassen.

    Man könnte zu recht die Frage stellen, warum uns die Anhänger des "biopsychosozialen Modells" eigentlich immer genau das als Heilmittel empfehlen, was wir gerade NICHT können, nämlich uns zu BEWEGEN? Würde man einem Beinamputierten als Heilmittel empfehlen, an einem Marathonlauf teilzunehmen, mit dem Versprechen, dass seine Stümpfe durch die Belastung wieder nachwachsen? Würde man einem Menschen mit einem Blinddarmdurchbruch gegen seine Bauchschmerzen ein paar kräftige Purzelbäume an der Reckstange empfehlen, statt ihn zu operieren? Würde man einem Menschen mit Leberzirrhose als Heilmittel ansteigenden Alkoholkonsum verordnen, damit sich seine dekonditionierte Leber wieder ans Entgiften gewöhnt? Und ihm in der zugehörigen kognitiven Verhaltenstherapie eintrichtern, wenn es ihm davon noch schlechter geht, solle er gar nicht darauf achten, denn diese Empfindung sei nur die Folge seiner dysfunktionalen Krankheitsvorstellungen? Er solle einfach solange weiter saufen, bis er wieder arbeitsfähig ist? Oder würde man einem AIDS-Kranken statt antiretroviralen Medikamenten den Beischlaf mit einer Jungfrau verordnen?

    Die Absurdität solcher "Therapie"-Vorschläge ist selbstredend, aber warum fällt die gleiche Absurdität der entsprechenden "Therapie"-Vorschläge bei ME/CFS niemandem auf? Warum wird immer wieder, von "Fach"-Leuten wie Medien, das Märchen verbreitet, dass Sport gegen "CFS" helfe? Was steckt dahinter, dass man die Absurdität hier nicht erkennt? Warum wird die Schädlichkeit trotz tausendfacher Belege (siehe z.B. hier und hier und Studien in dieser Liste) einfach geleugnet oder als "dysfunktionale Krankheitsüberzeugung" der ME/CFS-Patienten verunglimpft?

    Natürlich geht es letztlich um die implizite Schuldzuweisung an den Patienten, dass er an der Fortsetzung seiner Krankheit eben selbst schuld sei, wenn er diesem großartigen "Therapie"-Vorschlag nicht nachkommt (weil er nicht KANN und weil es ihm dadurch noch schlechter geht). Und es steckt natürlich hauptsächlich der Versuch dahinter zu verschleiern, dass man 1. das neben den Schmerzen quälendste Symptom der ME/CFS-Patienten ignoriert, 2. absolut nichts weiß, um es zu diagnostizieren (bzw. das, was es gibt, nämlich den zweiphasigen Belastungstest, nicht kennt oder ignoriert), und 3. nicht im mindesten bereit ist, seine eigene Hilflosigkeit und Unkenntnis zuzugeben und etwas dagegen zu tun und sich 4. um eine Therapie zu bemühen, die an den Ursachen der Zustandsverschlechterung nach Belastung (d.h. der Unfähigkeit, sich zu bewegen) ansetzt, statt die darin zum Ausdruck kommenden Krankheitsprozesse noch weiter anzuheizen. 

    Allein dieser Patientenbrief ist ein solches Dokument der Ignoranz, dass man es kaum glauben kann, dass er von Ärzten geschrieben wurde, die einmal geschworen haben, dem Patienten keinen Schaden zuzufügen - d.h., die den Hippokratischen Eid geleistet haben. Und von denen man annehmen sollte, dass sie gelernt haben, logische Schlussfolgerungen zu ziehen, Dinge zu hinterfragen, absurde Annahmen zu erkennen, die eigenen Grenzen zu kennen und zu respektieren und vor allem Patienten als Menschen zu respektieren und ihnen zuzuhören.

    Der Zynismus wird noch gesteigert mit der folgenden Bemerkung:

    „Gestehen Sie sich auch die Angst ein, die Sie möglicherweise vor einer Besserung der Beschwerden haben. Möglicherweise ist damit ja auch die Wiederübernahme von Aufgaben und Verantwortungen verbunden, die von Ihnen als belastend empfunden werden. Bedenken Sie aber, dass Sie die Chance bekommen, Ihr Leben selbst zu bestimmen und wieder in die Hand zu nehmen.“

    Demnach ist die Zustandsverschlechterung nach Belastung, die das Kern- und Leitsymptom des ME/CFS ist, offenbar nur ein Ausdruck der „Angst … vor einer Besserung der Beschwerden“ und damit vor einer „Wiederübernahme von Aufgaben und Verantwortungen“. Und der Patient muss sich lediglich diese Angst eingestehen und sich vor Augen führen, dass er damit „die Chance bekommt“, sein „Leben selbst zu bestimmen und wieder in die Hand zu nehmen“ und schon wird er wieder gesund! Arbeit macht frei!

    Spätestens dann, wenn einem ME/CFS-Patienten vom Arzt ein solcher Patientenbrief bekommt, wird ihm schlagartig klar werden, dass er von diesem Arzt keine Hilfe zu erwarten hat, dass dieser Arzt nichts von dem verstanden hat oder verstehen will, was ihm fehlt, dass dieser Arzt nicht bereit ist, sich in die komplexe Symptomatik einzudenken und entsprechende diagnostische Maßnahmen zu ergreifen, ja, dass dieser Arzt statt Hilfe nur eine wenig verklausulierte Schuldzuschreibung an den Patienten bietet nach dem Motto: „Krieg mal Deinen Hintern hoch und bewege Dich ein bisschen, dann geht’s Dir wieder gut!“

    Wenn man sich ansieht, was Ärzten in den Informationen zur Patientenberatung für den Umgang mit „Müden“ geraten wird, kann es einem als ME/CFS-Patient nur übel werden:

    Betreuungsziele

    · Aufklärung über den Zusammenhang von Müdigkeit, Unterforderung und Dekonditionierung

    („Teufelskreis“ in der Entstehung von Müdigkeit).

    · Ermunterung, den eigenen Tagesablauf und das eigene Leistungsvermögen zu überdenken, Motivierung zu vermehrter körperlicher Aktivität als schrittweisem Prozess der Verhaltensänderung.

    · Anleitung zu konkreten Schritten der Veränderung des Anforderungsniveaus und der Rückgewinnung von Aktivitäten im eigenen Leben. Hilfe bei der Umsetzung (örtliche Angebote und Möglichkeiten, individuelle Neigungen und Handicaps).

    · Positive Verstärkung bei ersten Versuchen und Erfolgen, Beratung und neue Motivierung bei Misserfolgen.

    · Ausrichtung der Aktivierung auf die Stärkung positiver (körperlicher wie seelischer) Wahrnehmungen, und Erleben der Bewegung als lustbetont. Kontrollierte Untersuchungen zeigten die Wirksamkeit von körperlichen Trainingsprogrammen bei Patienten mit vermehrter Müdigkeit.“

    Aus dieser Anweisung an die Ärzte geht ein weiteres Mal ganz klar hervor, dass sich die Autoren der Leitlinien ausschließlich auf das Wessely’sche biopsychosoziale Modell berufen, nach dem die Müdigkeit allein durch das falsche Verhalten des Patienten hervorgerufen wird und demnach durch eine Korrektur des Verhaltens (Hintern hochkriegen) bekämpft werden kann. Wie sehnlich würden sich ME/CFS-Patienten wünschen, dass dies der Realität entspräche!

     

    Warum ein so primitives Modell für eine so komplexe Krankheit?

    Dass es außer der Wessely’schen Ideologie über diesen „Teufelskreis“ gar keine Belege, schon gar nicht die sonst so vehement eingeforderten evidenzbasierten Belege gibt, wissen die Autoren ganz genau. Das geht aus einem internen Dialog zwischen Martin Beyer (Soziologe) und Erika Baum hervor, der in Form von Kommentaren an einen Entwurf der Leitlinien angeheftet war. Martin Beyer schreibt:

    Ist der ‘Teufelskreis’, den ich früher so überzeugend fand, dass ich ihn von unserer Dokumentarin in die Graphik – eigentlich des Qualitätskreislaufs! – einfügen und nur depressiv färben ließ, eigentlich noch das Argument von Wessely oder muß und kann man das noch dichter belegen?“

    Und Frau Dr. Baum antwortet:

    „Direkte Belege haber wir nicht aber indirekt, dass nämlich körperliche Aktivierung die Müdikgeit bessert und zwar bei sehr unterschiedlichen Ätiologieen von Herzinsuffizienz über Krebs bis CFS.“ (Tippfehler durch die Verfasser, zum Zwecke des Belegs ihrer Originalität so belassen)

    Aber es scheint sie nicht weiter zu stören, ist doch der Teufelskreis so „überzeugend“ und bequem! Wie einfach ist es, damit dem Patienten selbst die Schuld an seinem kläglichen Zustand in die Schuhe zu schieben und damit auch die Verantwortung für ein Gesundwerden! Wie einfach ist es, damit, die umfangreiche medizinische Literatur zum Krankheitsbild ME/CFS (schätzungsweise 4000 bis 5000 in Fachzeitschriften veröffentlichte Artikel) zu ignorieren!

    All diese Literatur wurde von den Autoren ebenso wenig berücksichtigt wie die zahlreiche Literatur, die ihnen im Rahmen des Revisionsprozesses von Patientenvertretern (Fatigatio und Bündnis ME/CFS) zur Verfügung gestellt wurde. Letztere wurden zurückgewiesen mit dem Argument, sie seien nicht „evidenzbasiert“.

    (Zur Kritik an dem Konzept der evidenzbasierten Medizin siehe auch den Artikel von Margaret Williams – Defending the Indefensible – im Februar-Artikel 4)

    Ob die  primitive Logik des Modells der „biopsychosozialen“ Schule jedoch irgendeinen Zusammenhang mit dem Krankheitsbild ME/CFS hat, ist, wie sie selbst zugeben, in keiner Weise „evidenzbasiert“ oder durch Studien belegt.  Die Vorstellungen der biopsychosozialen Schule triefen vor ideologischen Vorstellungen und falschen Annahmen. Und dass die Sichtweise der Leitlinienautoren über „CFS“ genau der von Simon Wessely entspricht, ergibt sich auch aus einer Anmerkung von Martin Beyer zu S. 37 des Entwurfs:

    Wobei Simon Wessely eine seltsame Figur macht, wenn er bezüglich des CFS genau unsere Argumentation unterstützt, während er als Wehrmachtspsychiater in Englang offenbar maßgeblich dazu beigetragen hat, das ‘Gulf War Syndrom’ als mutmaßlich somatisches Krankheitsbild zur Anspruchsgrundlage für eine Veteranenpension zu machen (lt. Wikipedia)“

    Also, hier steht es explizit: Wessely unterstützt bezüglich des CFS genau die Argumentation der Leitlinienautoren bzw. die Leitlinienautoren gehen von der Richtigkeit der Wessely'schen Ideologien aus.

    Im Widerspruch dazu scheint es laut dieser Argumentation zu stehen, dass Wessely angeblich (was nicht stimmt - das Gegenteil ist der Fall) dazu beigetragen hat, dass das Golfkriegssyndrom nicht mehr als psychiatrisches Krankheitsbild betrachtet und den Kriegsveteranen genau wegen dieser Einordnung die ihnen zustehende Versorgung verweigert. Die Logik dieses Satzes spiegelt die bittere Realität wider, die auch für ME/CFS gilt: eine Einordnung als "psychische" oder "somatoforme" Störung führt dazu, dass es keine "Anspruchsgrundlage für eine Veteranenpension" gibt, während ein "somatisches", also organisches Krankheitsbild eine solche Anspruchsgrundlage begründet. Vereinfacht ausgedrückt: für psychische Störungen wie das Golfkriegssyndrom und CFS gibt es kein Geld. Deshalb muss man alles bekämpfen, was irgendwie nachweisen würde, dass die die Zuordnung als psychische/somatoforme Störung ein Irrtum ist und dass beide Krankheitsbilder sehr wohl eine primär oder ausschließlich organisch-somatische Ursache haben. Sprich: es geht ums Geld bzw. ums Einsparen von Geld.

    So lesen wir dann im Abschnitt "Betreuung/Therapie" der Leitlinie dann folgerichtig nach einer Darstellung der Verhaltenstherapie entsprechend dem "biopsychosozialen Modell" den folgenden Satz:

    "Die Berücksichtigung der Besonderheiten im Interaktionsverhalten von Patienten mit somatoformen Störungen führt zu therapeutischen Vorteilen und Kostenvorteilen". (S. 48, a.a.O.)

     

    Wie sieht das „biopsychosoziale Modell“ der Wessely-School aus?

    Margaret Williams erläutert das biopsychosoziale Modell in

     "More concerns about the current UK Welfare Reform"

     vom 22. Januar 2012

    “Der Begriff ,biopsychosoziales Modell’ wird beinahe ausschließlich von den Psychiatern der Wessely-School verwendet, um sich auf Erkrankungen zu beziehen, die sie weiterhin als psychosomatisch betrachten (insbesondere ME/CFS), und dieser Begriff wird von anderen Fachrichtungen nicht verwendet. So sprechen Kardiologen beispielsweise nicht davon, dass ihre Patienten eine “biopsychosoziale” Erkrankung hätten, und Onkologen beschreiben Krebs nicht als “biopsychosoziale” Erkrankung, und sie behaupten auch nicht, dass ihre Patienten in die Erwerbstätigkeit zurückgezwungen werden müssten, indem man ihnen die staatlichen Leistungen entzieht, weil es doch die anormale Überzeugung der Patienten sei, körperlich krank zu sein, was ihre Krankheit aufrecht erhält.

    Der Gebrauch eines solchen Begriffes kann als eine sprachliche Irreleitung durch diese Psychiater angesehen werden, der es ihnen erlaubt, ihre Überzeugung zu verbergen, dass ME/CFS keine körperliche Krankheit, sondern ein anormaler Geisteszustand sei, der durch psychologische Faktoren und Verhalten aufrechterhalten wird (also die psychosozialen Komponenten von "biopsychosozial"). Das einzige "bio" in ihrem "biopsychosozialen Modell" ist ihr zögerliches Zugeständnis, dass ME/CFS manchmal eine sich selbst limitierende virale Infektion vorausgeht (und, trotz der überwältigenden internationalen Beweise des Gegenteils, bestehen sie darauf, dass ME/CFS durch psychosoziale Elemente aufrechterhalten würde, die nicht aus irgendeinem organischen Krankheitsprozess erwachsen.)"
    In einem Kommentar auf eine Antwort auf seinen Artikel “Illness as Deviance, Work as Glittering Salvation and the ‘Psyching-up’ of the Medical Model: Strategies for Getting the Sick ‘Back to Work’ ” (www.democraticgreensocialist.org/wordpress/?page_id=1716), schreibt Gill Thorburn: "
    Ich war erschüttert, als ich entdeckte, was man der Gemeinde der ME-Kranken über so viele Jahre angetan hat. Das ist nichts Geringeres als legitimierte Misshandlung. Das Entmutigendste, was ich bei all meinen Recherchen bis jetzt entdeckt habe ist, dass über so viele Jahre hinweg so viele authentische Belege von den Mächtigen einfach missachtet wurden, und zwar zugunsten dieses fadenscheinigen psychologischen Ansatzes. Manche der Berichte, die man im Internet findet, sind einfach herzzerreißend, und es ist unfassbar, dass diesen Leuten weiterhin gestattet wird, mit ihren ‚Methoden’ und ‚Theorien’ weiterzumachen.“

    Eine Regierung Großbritanniens ist demokratisch gewählt, um die besten Interessen der Nation und ihrer Bürger zu verfolgen und nicht, um Kranke zu misshandeln und zu verfolgen zugunsten von ausländischen Unternehmensprofiten, indem sie zwangsweise das ‚biopsychosoziale Modell’ einführen, das von britischen Psychiatern vorangetrieben wird, die einschlägige finanzielle Interessen an einem solchen 'Modell' haben, weil sie für die Versicherungsindustrie im Gesundheitsbereich arbeiten, für deren Profite die Anwendung dieses Modells nützlich ist.

    Außerdem haben zahlreiche Studien gezeigt, dass das ‚biopsychosoziale Modell’ in der Behandlung des ME/CFS nicht nur erfolglos ist, sondern dass das Modell als solches nicht evidenzbasiert ist und sogar aktiv Schaden anrichten kann:

    (i) Die Belege, dass Techniken zur Verhaltensmodifikation in der Behandlung des ME/CFS keine Funktion haben, sind bereits beträchtlich und wurden jetzt von einer Studie aus Spanien bestätigt, die herausgefunden hat, dass die zwei Interventionen, die eingesetzt werden, um das biopsychosoziale Modell zur rechtfertigen (kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training – CBT und GET) bei ME/CFS-Patienten die Werte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (health-related quality of life – HRQL)  12 Monate nach der Intervention nicht verbessert hat und tatsächlich zu einer schlechteren körperlichen Funktionsfähigkeit und schlechteren Werten für Schmerzen bei der behandelten Patientengruppe geführt hat. (Nunez M et al; Health-related quality of life in patients with chronic fatigue syndrome: group cognitive behavioural therapy and graded exercise versus usual treatment. A randomised controlled trial with 1 year follow-up. Clin Rheumatol 2011, Jan 15: Epub ahead of print)

    (ii) Ungeachtet der organischen Pathogenese des ME/CFS wird von vielen Regierungsorganisationen und Ärzten das (bio)psychosoziale Modell übernommen, um die Kombination von kognitiver Verhaltenstherapie (CBT) und ansteigendem körperlichen Training (GET) bei ME/CFS zu legitimieren. Durch dieses Modell gerechtfertigt zielen CBT und GET darauf ab, angenommene psychogene und sozial induzierte, das Krankheitsgeschehen angeblich aufrechterhaltende Faktoren zu beseitigen und die Dekonditionierung aufzuheben.In diesem Überblicksartikel entkräften wir das (bio)-psychosoziale Modell des ME/CFS und zeigen, dass die Behauptungen, CBT/GET seien erfolgreiche Behandlungsformen für ME/CFS, unberechtigt sind. CBT/GET ist nicht nur kaum wirksamer als gar keine Behandlung oder eine medizinische Standardversorgung, sondern viele Patienten berichten, dass die Therapie sich bei ihnen schädlich ausgewirkt hat, wobei die Mehrheit sogar über beträchtliche Zustandsverschlechterungen berichtet. …Wir kommen zu dem Schluss, dass es unethisch ist, ME/CFS-Patienten mit unwirksamen, nicht evidenz-basierten und potentiell schädlichen ‚Rehabilitationstherapien’ wie CBT/GET zu behandeln. (A Review on Cognitive Behavioural Therapy (CBT) and Graded Exercise Therapy (GET) in Myalgic Encephalomyelitis (ME) / Chronic Fatigue Syndrome (CFS). Neuroendocrinol Lett 2009:30(3):284-299)

    (iii) Die von der Wessely-School vielgepriesene FINE Trial (Fatigue Intervention by Nurses Evaluation) konnte an keinem Standard gemessen als erfolgreich beurteilt werden: die Ergebnisse zeigten, dass die ‘pragmatische Rehabilitation' (PR, auf CBT/GET beruhend) nur solange minimal wirksam war bei der Verminderung der Erschöpfung und der Verbesserung des Schlafes, wie die Teilnehmer in dem Programm eingebunden waren, und dass es keinen statistisch signifikanten Effekt zum Zeitpunkt der Folgeuntersuchung gab. Außerdem hatte die pragmatische Rehabilitation keinen statistisch signifikanten Effekt auf die körperliche Funktionsfähigkeit; ebenso hatte sich die Auswirkung auf Depressionen bei der Folgeuntersuchung abgeschwächt. Darüber hinaus hatte die andere getestete Intervention ('unterstützendes Zuhören' - 'supportive listening' - SL) keine Auswirkung auf die Verminderung der Erschöpfung, die Verbesserung der körperlichen Funktionsfähigkeit, Schlaf oder Depression. (AJ Wearden et al; BMC Medicine 2006, 4:9 doi:10.1186/1741-7015-4-9)
    (iv) Ebenso konnte man von der weithin gefeierten PACE Trial nicht behaupten, dass sie erfolgreich gewesen sei, da – in einzigartiger Weise – Bemessungsgrößen, die einen potentiellen Teilnehmer als ausreichend eingeschränkt für die Teilnahme an der Studie berechtigen würde, als 'innerhalb der normalen Bandbreite’ betrachtet wurden, als sie beim Abschluss der Studie aufgezeichnet wurden, und es wurden vom Leiter der Studie, Peter White, keine Statistiken zur Erholung veröffentlicht.
    (Comparison of adaptive pacing therapy, cognitive behaviour therapy, graded exercise therapy, and specialist medical care for chronic fatigue syndrome (PACE): a randomised trial. PD White et al. Lancet 2011 Mar 5;377(9768):823-36)."

     Ist die Vermischung verschiedener Erkrankungen ein Versehen oder Absicht?

    Ist das Vorgehen der DEGAM in der neuen (und alten) „Leitlinie Müdigkeit“ ein Versehen? Hat man vielleicht mangels genauer Kenntnisse das Chronic Fatigue Syndrome (G93.3) als psychische Störung beschrieben, also als eine Erkrankung, die in den ICD-10-GM unter „F48.- Andere neurotische Störungen“ aufgeführt ist?

    Wäre es ein Versehen, so würde dies eine schwere berufliche Verfehlung der Leitlinienautoren darstellen, denn sie würden schwer kranken Menschen mit „Benigner myalgischer Enzephalomyelitis, Chronischem Müdigkeitssyndrom bei Immundysfunktion oder Postviralem Müdigkeitssyndrom“ (also den unter G93.3 aufgeführten Krankheiten des Gehirns) letztlich die angemessene Diagnose und Behandlung verweigern bzw. dazu beitragen, dass sie einer falschen Therapie zugeführt werden und dadurch Schaden nehmen.

    Oder haben sie vielleicht geglaubt, man könne ein und dieselbe Krankheit zwei verschiedenen Klassifizierungsschlüsseln zuordnen? Das würde der Klarstellung von André lHours von der WHO widersprechen, die besagt, dass „es nicht gestattet ist, ein und dieselbe Krankheit unter mehr als einer Rubrik einzuordnen, da dies bedeuten würde, dass die einzelnen Kategorien und Unterkategorien sich nicht mehr gegenseitig ausschließen.“ (siehe auch http://www.cfs-aktuell.de/august10_2.htm - hier finden Sie die vollständigen Zitate der WHO zur Vermischung von ME/CFS und psychischen Erkrankungen).

    Eine solche Zuordnung ein und desselben Krankheitsbildes unter zwei verschiedene Diagnoseschlüssel wäre darüber hinaus aus fachlich-medizinischer Sicht äußerst merkwürdig. Käme man auf die Idee, Krebs, Multiple Sklerose, HIV/AIDS, Nierenversagen im Endstadium oder einen Herzinfarkt gleichzeitig unter dem jeweiligen Diagnoseschlüssel und einer psychiatrischen Erkrankung klassifizieren? Nein, es geht hier nicht um Co-Morbidität, also den Fall, dass ein Mensch mit Krebs infolge seiner schweren Erkrankung z.B. auch noch eine depressive Störung entwickelt oder ein HIV/AIDS-Patient eine Lungenentzündung oder ein Kaposi-Sarkom. Sondern es geht um die Zuordnung ein und derselben Krankheit unter zwei verschiedene Schlüssel, also um eine Gleichsetzung, etwa: HIV = Lungenentzündung oder Krebs = Depression. Also, auch diese Möglichkeit eines „Irrtums“ der Leitlinienautoren wäre äußerst merkwürdig und auf jeden Fall korrekturbedürftig.

    Aber diese falsche, dem Sozialgesetzbuch V (hier § 295 S.227, und § 301 S.233) und der WHO-Klassifikation ICD-10 (die ICD-10-GM Version 2012 ist hier zu finden) eindeutig widersprechende Zuordnung des ME/CFS als psychische Störung ist kein Versehen, sondern eine systematische, die gesamte Leitlinie durchziehende Strategie. Eine Strategie, die der des medizinisch/psychiatrischen Mainstreams in Deutschland folgt, denn ME/CFS wird in nahezu allen Lehrwerken, Fortbildungsdokumenten für Ärzte, Anweisungen und Büchern zur Begutachtung im Rahmen von Rentenansprüchen und anderen Sozialleistungen als psychische Störung mit einer „F48.-“-Nummer versehen.

    (Siehe ICD-10-GM Version 2012 F48.- Andere neurotische Störungen und Kapitel VI
    Krankheiten des Nervensystems [G00-G99] - ME/CFS ist klassifiziert als G93.3 und Brief von DIMDI über ICD-Einordnung von ME/CFS - siehe auch diesen Beitrag über die Klassifikation des ME/CFS durch die WHO und die Versuche der Wessely-School, diese Klassifikation umzudeuten.)

    Kein Versehen, sondern Strategie: "ungeklärt" gleich somatoform

    Das ist eine Strategie, bei der "ungeklärte" Erkrankungen gezielt in die Nähe psychischer Erkrankungen geschoben oder sogar gleichgesetzt werden mit somatoformen bzw. psychosomatischen Krankheit, bei denen die Betroffenen organisch gesund seien (die absolut logische Begründung: der Arzt „findet nichts“) und sie lediglich eine übermäßige Aufmerksamkeit gegenüber Symptomen wie etwa „Müdigkeit“ entwickeln, Symptomen, die eigentlich vollkommen normal und kein Anzeichen von Krankheit sind. Mit dieser Strategie werden die Patienten zudem in die Nähe von Hypochondern und Simulanten gebracht, zumindest aber in eine Rechtfertigungs- und Verteidigungsposition, in der sie nachweisen müssen, dass sie an einer (organischen) Erkrankung leiden – meist ein von vorneherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.

    “Die Phantasie, dass ein glücklicher Gemütszustand Krankheiten abwehren könne, blühte und gedieh bei allen Infektionskrankheiten, bevor man das Wesen der Infektion verstanden hatte. Theorien, nach denen Krankheiten durch psychische Zustände verursacht würden und durch Willenskraft geheilt werden könnten, sind immer ein Indiz dafür, wie viel man von der körperlichen Grundlage der Krankheit noch nicht verstanden hat. Die Vorstellung, dass eine Krankheit nur durch eine Reihe von Ursachen erklärt werden könnte, ist genau das Charakteristikum eines Denkens über Krankheiten, bei dem die Verursachung nicht bekannt ist.“

    "Krankheiten, von denen man annimmt, dass sie durch viele Faktoren verursacht seien, haben die breiteste Anwendungsmöglichkeit, um Metaphern für das zu werden, was als sozial oder moralisch falsch angesehen wird."

    Aus: Susan Sontag, Illness as Metaphor

    Im übrigen, welche Erkrankung ist eigentlich letztlich „geklärt“? Ist Krebs „geklärt“? Ist Rheuma „geklärt“? Ist Multiple Sklerose „geklärt“? Käme man auf die Idee, Menschen mit Krebs, Rheuma oder MS als Simulanten, Hypochonder oder psychisch krank zu bezeichnen? Weil ihre Krankheit „ungeklärt“ ist? Wohl kaum. Die Zeiten, in denen man MS als hysterische Lähmung bezeichnete, sind vorbei – offenbar aber nicht die Zeiten, in denen man schwer kranken Menschen unterstellte, dass ein „Fehler“ in ihrer „Psyche“ für ihre Krankheit verantwortlich sei.

    Eine großartige Analyse, wie die entsprechenden Ideologien und Strategien in Großbritannien durchgesetzt werden, um Menschen mit Behinderungen und/oder Krankheiten letztlich nur die Sozialleistungen zu entziehen, finden Sie in einem Aufsatz von Gill Thorburn „Illness as ‘Deviance’, Work as Glittering Salvation and the ‘Psyching-up’ of the Medical Model: Strategies for Getting The Sick ‘Back To Work’.“

     Der Autor weist hier mit zahlreichen Literaturverweisen nach, wie die entsprechenden Ideologien Krankheit als abweichendes Verhalten und Arbeit als großartige Lösung gegen solch abweichendes Verhalten darstellen, wie die Medizin als helfende Wissenschaft durch das „biopsychosoziale Modell“ korrumpiert und der Kranke damit für seine Krankheit selbst verantwortlich erklärt wird.  Das biopsychosoziale Modell, vordergründig eine scheinbar fortschrittliche Erweiterung des Verständnisses von Krankheit, d.h. der biologischen Aspekte, um soziale und psychische Faktoren, wird zur passenden und wohlfeilen Ideologie, Mitleid und Fürsorge für Kranke und Behinderte abzuschaffen, sie aufzuteilen in die "verdienten" und "unverdienten" Kranken und den massenhaft als "unverdient" definierten Kranken den Lebensunterhalt zu entziehen oder entsprechende soziale Leistungen erst gar nicht zu gewähren.

    Aus Gill Thorburns Artikel:

    „Illness as ‘Deviance’, Work as Glittering Salvation and the ‘Psyching-up’ of the Medical Model: Strategies for Getting The Sick ‘Back To Work’.“

    ("Krankheit als abweichendes Verhalten, Arbeit als glanzvolle Rettung und das 'Psychologisieren' des medizinischen Modells: Strategien, um die Kranken 'zurück in die Arbeit' zu kriegen.")

    „Es ist das Argument dieses Artikels [von Harvey and Reed (1996)] dass der Hauptzweck hinter dem neuerlichen Gebrauch des biopsychosozialen Modells ist, eine künstliche Unterscheidung zwischen den verdienten und den unverdienten Kranken zu schaffen, und zwar über die soziale Konstruktion einer neuen Kategorie von Patient/Anspruchsteller - dem Kranken als Menschen mit abweichendem Verhalten – um es zu erleichtern, einen hohen Prozentsatz derer, die aus Krankheitsgründen Sozialleistungen beanspruchen, von diesen Sozialleistungen über die zuvor erwähnte Work Capability Assessment  auszuschließen.“

    „Man ist sich zweifelsohne bewusst, dass die Andeutung, dass alle kranken und behinderten Menschen Simulanten seien, sozial nicht akzeptabel ist, und deshalb versucht man, mit Hilfe der Psychologie eine ‚sanftere’ Variante des Kranken als Menschen mit abweichendem Verhalten zu konstruieren. Ein solcher Kranker ist eher ein 'unabsichtlicher' Simulant, einer Form der Selbsttäuschung unterlegen, bei der er ‚irrationale’ Überzeugungen über seine Krankheit hegt und wie sie seine ‚Funktionsfähigkeit’ oder 'Möglichkeiten' beeinträchtigt. Dieser Kranke als Mensch mit abweichendem Verhalten hegt eine vergleichbar falsche Einstellung gegenüber der Arbeit insofern, als er ‚falsche Zuordnungen' macht, nämlich die, dass sie die Quelle seiner Krankheit oder eine potentielle Ursache für weiteres Leid sei und dabei nicht realisiert, dass Arbeit das einzige Mittel ist, das ihn wieder gesund machen könnte. Wenn das einmal als 'Problem’ nebst seiner ‘Lösung’ ausgegeben wurde, kann ein Prozess, in dem die Kranken ohne Ausnahme als ‚arbeitsfähig’ bezeichnet werden, als Rechtfertigung dafür dienen, ihnen die Krücken der Unterstützung durch Sozialleistungen wegzuschlagen, mit einem doppelzüngigen Diskurs, der diese Unterstützung als 'jemandem im Stich lassen' umdefiniert und das tatsächliche Im-Stich-Lassen als 'Rettung'.“
     

    In der Diskussion schrieb Gill Thorburn:

    Ich war erschüttert, als ich entdeckte, was man der Gemeinde der ME-Kranken über so viele Jahre angetan hat. Das ist nichts Geringeres als legitimierte Misshandlung. Das Entmutigendste, was ich bei all meinen Recherchen bis jetzt entdeckt habe ist, dass über so viele Jahre hinweg so viele authentische Belege von den Mächtigen einfach missachtet wurden, und zwar zugunsten dieses fadenscheinigen psychologischen Ansatzes. Manche der Berichte, die man im Internet findet, sind einfach herzzerreißend, und es ist unfassbar, dass diesen Leuten weiterhin gestattet wird, mit ihren ;Methoden’ und ;Theorien’ weiterzumachen.

    „Wie jemand kürzlich klar gemacht hat – sie ‚greifen ein’ in das Leben der Leute, und zwar straflos, klammern die negativen Auswirkungen dieses Eingriffs aus, für die sie niemals zur Verantwortung gezogen werden, und machen sich dann schnell an etwas anderes heran (so wie Wessely es gemacht hat, indem er sich an das Golfkriegssyndrom herangemacht hat, ein weiteres Thema, das offensichtlich das Potential bereithält für seinen psychologischen „Quackbuster“-Ansatz).“

    „Nicht umsonst haben Behinderte die Redewendungen aus dem Dritten Reich übernommen, um auf ihre Misere hinzuweisen. Es ist einfach die angemessenste Parallele, die man ziehen kann.“ [Das bezieht sich auf den Vergleich des Leitspruches der Gesetzesreformen der britischen Regierung „Work is good for you“ mit dem Spruch, der über dem Tor von Auschwitz zu lesen ist: „Arbeit macht frei“, d.Ü.]

    Soviel ich weiß, stammt die Versicherung „Work is good for you“ (Arbeit ist gut für Sie) (die seitdem in der Regierungspolitik fest verankert ist) ursprünglich aus einer einzigen Literaturschau, die von Waddle und Burton im Jahr 2006 innerhalb des von UNUM finanzierten Zentrums in Cardiff durchgeführt wurde. Sie bildet die einzige Rechtfertigung für diese ‚Arbeit als Fürsorge’ (work as welfare)-Politik, und sie entbehrt jeglicher Grundlage, da sie versucht, eine nicht definierte, undifferenzierte und abstrakte Vorstellung von Arbeit zu verallgemeinern. Das heißt, sie unterscheidet nicht zwischen der Erfahrung von Arbeit (und dem Nutzen, der daraus erwächst) eines ‚geschätzten’ Universitätsprofessors (oder eines Chief Medical Officers von dieser oder jener Institution) und der Erfahrung von Arbeit von jemanden, der für ihn putzt oder sein Essen vorbereitet oder für seinen alten Angehörigen sorgt. Jeder, der für einen Abschluss in Sozialwissenschaften studiert hat, weiß, wie leicht es ist, eine Literaturschau so aussehen zu lassen, als sei sie maßgeblich, während jegliches Material ausgelassen wird, das den eigenen Argumenten widerspricht. (Ich bin darüber so traurig, weil ich diese Wissenschaft so liebe …, und ich hasse es, mit ansehen zu müssen, wie sie in dieser Weise missbraucht wird.)

    „Ich glaube nicht, dass ich je einen so himmelschreienden Missbrauch der Sozialwissenschaften gesehen habe, die von Natur aus anfällig sind für einen Gebrauch im Guten oder Bösen.“

    Gill Thorburns Analyse ist keine Polemik, sondern eine gut recherchierte, erschreckende Analyse, führt sie uns doch vor, was auch bei uns in Deutschland den Umgang mit „ungeklärten“ Erkrankungen wie ME/CFS bestimmt: das biopsychosoziale Modell der Wessely-School mit all seinen zerstörerischen Konsequenzen für die Betroffenen und ihre Familien. Die Leitlinien Müdigkeit verfolgen genau die von Gill Thorburn analysierte Strategie und den "doppelzüngigen Diskurs, der diese Unterstützung als 'jemandem im Stich lassen' umdefiniert und das tatsächliche Im-Stich-Lassen als 'Rettung'.“ Weitergehende Diagnose wird als 'jemanden im Stich lassen' umdefiniert ("iatrogenes Pathogenisierungspotential") und das tatsächliche Im-Stich-Lassen als Rettung: Arzt und Patient sollen "eine biopsychosoziale Sicht erarbeiten"  und: "In Zusammenarbeit mit dem Patienten sollten im Sinne verhaltenstherapeutischer Überlegungen realistische Aktivitäts-Ziele gesetzt und die Lebensweise entsprechend darauf eingerichtet werden "  und: "Vorstellungen, die einer Aktivierung entgegenstehen, sind zu bearbeiten" (S. 24 f a.a.O.)

     

    Was verbirgt sich hinter der Fassade des biopsychosozialen Modells?

    Es geht in Wirklichkeit gar nicht um das, was man hinter dem hochtrabenden Namen biopsychosoziales Modell vermutet, nämlich, dass die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren verstanden und berücksichtigt werden. Wer, so denkt man auf den ersten Blick, könnte denn gegen eine solche sinnvolle Betrachtungsweise des Menschen, d.h. auch des kranken Menschen etwas haben? Niemand. Alles gut und schön und fortschrittlich.

    Wirklich? Sehen wir uns an, was sich hinter dieser Fassade des biopsychosozialen Modells verbirgt und was vor allem damit gemacht wird, was mit einem zunächst sinnvoll und human erscheinenden Ansatz für ein menschenverachtender Schindluder getrieben wird, um letztlich als Rechtfertigungsideologie dafür zu dienen,  schwerkranken Menschen die medizinische Versorgung zu verweigern und den Lebensunterhalt zu entziehen bzw. Versicherungsleistungen abzuschmettern, auf die sie einen Anspruch haben.

    Würde man, wie das impliziert wird, wirklich einem bio-psycho-sozialen Modell folgen, dann müsste man zuallererst einmal jeweils die biologischen Faktoren, die psychologischen und die sozialen Faktoren verstanden haben. Zumindest müsste man berücksichtigen, was davon bekannt ist. Aber nicht einmal das tun die angeblichen Anhänger des biopsychosozialen Modells. Was ME/CFS betrifft, so verleugnen sie ja konstant alle biomedizinischen Belege der Anomalien bei ME/CFS. Bevor man aber etwas verstehen kann, muss man es erst einmal zur Kenntnis nehmen. Tut man das nicht, verleugnet man deren Existenz (die vielfach belegten, charakteristischen biologischen Anomalien bei ME/CFS), kann man auch den entscheidenden Faktor dieses so wunderbar klingenden Modells nicht nutzen.

    Selbst wenn man alle drei Faktoren verstanden hätte und auch noch wahrnehmen würde, müsste man in einem nächsten Schritt die komplexen Wechselwirkungen zu verstehen versuchen. Und als allererstes müsste man den entscheidenden Unterschied zwischen einem reinen Zusammenhang und einer Verursachung verstehen und anwenden. (Zum Unterschied zwischen einem Zusammenhang und der Verursachung: in den 50er/60er Jahren nahm gleichzeitig die Anzahl der Störche und der Geburten ab - ein Beweis dafür, dass der Klapperstorch die Kinder bringt?)  Man müsste z.B. klären, wie die Zusammenhänge und die verursachenden Faktoren bei einer organischen Krankheit, die auch das Gehirn beeinträchtigt, sind. Man müsste bei ME/CFS z.B. klären, wie sich die nachgewiesene cerebrale Minderdurchblutung, die nachgewiesene Abnahme der grauen und weißen Gehirnsubstanz, die im MRT sichtbaren signalintensiven Veränderungen, die Aktivierung der Gliazellen, eine durchlässige Blut-Hirn-Schranke, der vermehrte Einfluss von Zytokinen und Chemokinen auf die Gehirnchemie, charakteristisch veränderte Proteine in der Gehirn-Rückenmarksflüssigkeit etc. auf sogenannte „psychische“ Faktoren auswirken, also auf die Fähigkeit zu denken, zu fühlen, Wahrnehmungen und Informationen zu verarbeiten, sich Dinge zu merken, aktiv am Leben teilzuhaben etc. etc. etc. Dann müsste man klären, was hier was verursacht.

    Was die Anhänger des biopsychosozialen Modells tatsächlich aber machen, ist aus reinen Zusammenhängen eine einseitige Verursachung abzuleiten – ein vollkommen unwissenschaftliches Vorgehen. Sie behaupten (es ist nicht mehr als eine unbewiesene Behauptung), dass die zu beobachtenden Einschränkungen körperlicher und mentaler Art von falschem Denken und Verhalten kämen, also der übermäßigen Konzentration auf angeblich harmlose Körpersensationen, der falschen Überzeugung, eine organische Krankheit zu haben, übermäßiger Schonung, sekundärem Krankheitsgewinn durch verstärkte Aufmerksamkeit von Angehörigen, Krankengeldzahlungen etc.

    Sie negieren also in Wahrheit die biologischen Faktoren und postulieren die unbewiesene Behauptung, dass psychologische und soziale Faktoren (sekundärer Krankheitsgewinn) die biologisch vielleicht vorhandenen Anomalien fortsetzen, verstärken oder gar verursachen würde.

    Psychosomatik verkommt zur Herrschaftswissenschaft

    So verkommt ein scheinbar humaner und sinnvoller Ansatz der Psychosomatik, nämlich alle Faktoren zu berücksichtigen, die bei Gesundheit und Krankheit eine Rolle spielen, zu einem Instrument der Ausgrenzung, der Stigmatisierung, der Schuldzuschreibung und der Rechtfertigung, kranken Menschen den ohnehin äußerst bescheidenen Lebensunterhalt weiter zu kürzen oder gar ganz zu streichen und eine medizinische Versorgung, gar die Erforschung unbekannter biologischer Faktoren zu verweigern.

    In Großbritannien, wo diese biopsychosoziale Schule, sprich die Wessely-School, ihren Ursprung und Hauptstützpunkt hat, kann man derzeit beobachten, wie eine Gesetzesreform im Bereich der Krankengeldzahlungen (von der Disability Allowance hin zu Personal Independence Payment) in Kombination mit dem Einsatz einer privaten französischen Firma (ATOS) zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von kranken Menschen dazu führt, diesen den mageren Lebensunterhalt noch weiter zusammenzustreichen und eine medizinische Versorgung komplett zu verweigern. Geschildert wird dies z.B. hier von Margaret Williams oder hier von Douglas Fraser. Und hier finden Sie einen Artikel über einen Mann, der einen Bauchschuss, zwei Herzattacken, einen Schlaganfall und etliche Komplikationen erlitten hatte und dennoch als "fit for work" erklärt wurde.

    Aus einem Brief von Douglas Fraser an zwei Mitglieder des britischen Parlaments

    Wie McLaren hervorgehoben hat: „… Man könnte argumentieren, dass ein Ansatz, der biologische, psychologische und soziale Faktoren berücksichtigt, notwendigerweise auf ein biopsychosoziales Modell hinausläuft, aber das ist aus mehreren Gründen nicht der Fall. Zuerst müssen wir deutlich unterscheiden zwischen Theorien mit wirklichem Vorhersagewert (d.h. sie können etwas vorhersagen, was wir nicht wussten oder was der Intuition widerspricht) und Theorien, die nur ‚erklären’ oder rationalisieren können, was wir bereits wissen. Erstere Theorie ist Wissenschaft, letztere ist lediglich ein sich selbst bestärkendes Vorurteil.

    Nur hochgradig unwahrscheinliche Voraussagen können die grundlegenden Annahmen einer Theorie überprüfen. Weiterhin werden Forscher, die Daten aus einer Vielzahl von theoretisch nicht miteinander im Zusammenhang stehenden Bereichen sammeln, nicht in der Lage sein, die grundlegenden Annahmen zu überprüfen, die sie dazu gebracht haben, genau diese Daten und keine anderen zu sammeln. Sie mögen in der Lage sein, Zusammenhänge zu entdecken, aber, und das ist entscheidend, nicht die Irrtümer in ihren eigenen grundlegenden Annahmen. Nur ein Modell mit wirklichem Vorhersagewert kann das, und das dann auch nicht immer.

    Außer wenn bereits eine integrierte Theorie vorhanden ist, wird die Sammlung biologischer, psychologischer und soziologischer Daten über Menschen nur verstreute Brocken an Information ergeben, die untereinander keinerlei sinnvollen Zusammenhang ergeben. Ohne eine übergreifende Theorie, die die Bereiche integriert, aus denen die Daten abgeleitet wurden, sind Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Informationsklassen bedeutungslos.“ [90]

    Einige Leser der Schrift ‚Models of Sickness and Disability’ mögen sich fragen, warum etwas, das ‚kaum eine Theorie’ und ;mit Sicherheit kein Modell’ ist und das ‚sich selbst verstärkende Vorurteile’ produziert, das ‚zu verinnerlichter Schuldzuweisung und Schuld führen kann’ und ‚als Möglichkeit [benutzt werden kann], die Schuld für die Krankheit denjenigen zuzuschieben, die die Krankheit haben’, (jeweils nach McLaren, Davey-Smith und Sontag) von einer britischen Regierung gefördert werden.

     

    Angesichts der zahlreichen Berichte von Menschen mit ME/CFS in Deutschland, die genau mit dem Argument, ihre Behinderung/Einschränkung sei durch „psychische Faktoren“ bedingt und "mit zumutbarer Willensanstrengung zu überwinden“, Versicherungsleistungen von privaten Berufsunfähigkeitsversicherern, von Rentenversicherungen, von Krankenkassen, Arbeits- und Sozialämtern etc. verweigert bekommen, kann man nur sagen, dass diese Ideologie des biopsychosozialen Modells auch hierzulande zu einem Instrument sozialer Grausamkeiten gegenüber oft schwer erkrankten Menschen geworden ist, zu einem Instrument, Streichungen ideologisch zu rechtfertigen und die Inhumanität dessen, was hier wirklich passiert, zu verschleiern. Es ist einmal wieder "der Verlust der humanen Orientierung“ (Ralph Giordano), der sich hier als scheinbar humane Ideologie einschleicht – das Suchen nach Sündenböcken, nach wohlfeilen, weil wehrlosen Opfern.

    (Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum zu rechtfertigen, dass es sicher Menschen gibt, die unser Sozial- und Gesundheitswesen ausnutzen. Aber ich bezweifle, ob man mit diesen Instrumentarien tatsächlich jene „Betrüger“ oder „Simulanten“ herausfischen kann. Die sind nämlich gesund und sehr wohl in der Lage sich zu wehren, während das die meisten schwer kranken ME/CFS-Patienten nicht können, weder kräftemäßig noch finanziell.)

    Der gute alte Sigmund Freud würde sich im Grabe herumdrehen, wüsste er, dass sein Urenkel Lord Freud jetzt als Berater der britischen Regierung und jetzt Minister für die Welfare Reform dazu beiträgt, dass diese neue, einige an Nazi-Ideologien erinnernde Maximen (Arbeit macht frei – work is good for you) die Sparmaßnahmen im britischen Gesundheits- und Sozialsektor tragen, untermauern, rechtfertigen soll.

    Ausgerechnet der Urenkel von demjenigen, der die Macht des Unbewussten entdeckt hat, der Wiederholungszwänge als den Menschen im Unglück knebelnde unbewusste Mechanismen beschrieben und therapeutische Ansätze zu ihrer Auflösung entwickelt hat, ausgerechnet der Urenkel dessen, der vor der Judenverfolgung der Nazis nach London flüchten musste und dort starb, ausgerechnet der wird jetzt zum Apologeten einer menschenverachtenden Ideologie, der „biopsychosozialen Schule“. Und sorgt an entscheidender Stelle dafür, dass das „biopsychosoziale Modell“ angewandt wird, um Sparmaßnahmen durchzusetzen, im Klartext: um kranke Menschen als arbeitsfähig zu erklären und ihnen damit den Lebensunterhalt zu entziehen.

    Es wurde bereits dokumentiert, dass 34 Menschen, die so als "fit for work" erklärt wurden und dagegen Widerspruch eingelegt hatten, im Verlauf des Widerspruchsverfahrens an ihrer Krankheit gestorben sind.

    Hat da jemand was von Wiederholungszwang gesagt??

    (Mehr Informationen zur Rolle von Lord David Freud finden Sie hier.)

     

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    Textanalyse:

    Abschnitt „Epidemiologie“

    Schon der erste Satz des Abschnitts „Chronisches Müdigkeitssyndrom“ weist auf grundlegende Probleme dieser Leitlinie hin. Er lautet:

    „Das streng definierte Chronische Müdigkeitssyndrom (CFS), das teilweise auch als chronisches Erschöpfungssyndrom bezeichnet wird, ist ein seltenes Beratungsergebnis.“ (S. 32, Müdigkeit, DEGAM-Leitlinie Nr. 2)

    Dieser Satz vermittelt auf den ersten Blick den Eindruck, die Autoren wüssten erstens, wovon sie reden („CFS streng definiert“) und zweitens spiele die Erkrankung in der normalen Arztpraxis kaum eine Rolle („seltenes Beratungsergebnis“). Schaut man jedoch genauer hin, so erkennt man, dass beide Aussagen unrichtig sind. Weder ist „CFS streng definiert“ (zumindest nicht in dieser Leitlinie), noch ist es eine seltene Erkrankung. Dass es  zum „seltenen Beratungsergebnis“ werden kann, weil immer noch die große Mehrheit der Ärzte nichts über ME/CFS weiß und den Betroffenen keine oder eine falsche Diagnose verpasst, ist eine andere Sache, aber die Autoren der Leitlinie haben sicher nicht diese beklagenswerte Tatsache gemeint.

    Dann widmen sich die Leitlinienautoren der Frage der Häufigkeit des „CFS“. Hier gibt es ein wildes Durcheinander von Daten aus epidemiologischen Erhebungen in der Bevölkerung und Erhebungen in Praxen und Spezialambulanzen. Die Frage, welcher der vielen in der zitierten Literatur zu findenden Zahlen jedoch irgendeine Bedeutung beizumessen wäre, um die Prävalenz in der deutschen Bevölkerung abzuschätzen, hätte vorausgesetzt, dass man untersucht, welche Krankheitsdefinitionen den jeweiligen Angaben zugrunde liegen. Das ist nicht geschehen.

    Statt mit dem Hinweis zu beginnen, dass es mehrere Definitionen für „CFS“ gibt, die ganz unterschiedliche Patientenpopulationen beschreiben (Holmes-Kriterien, Fukuda-Kriterien, Oxford-Kriterien, „Empirische“ Definition nach Reeves/CDC, Kanadische Falldefinition, Internationale Falldefinition und die ursprüngliche von Melvin Ramsay etc.) und damit wahrscheinlich ganz unterschiedliche Krankheitsprozesse, aus denen sich selbstverständlich auch ganz unterschiedliche Prävalenzzahlen und Therapieansätze ergeben, wird im ersten Satz (siehe oben) einfach fälschlicherweise behauptet, „CFS“ sei „streng definiert“. Dieser erste Satz suggeriert eine Sicherheit der Definition, die es zumindest in dieser Leitlinie gar nicht gibt und versucht (gezielt oder unbeabsichtigt) die Verwirrung darüber, von welchen Patienten diese Leitlinien überhaupt reden, zu verdecken. Das „CFS“, von dem in der Leitlinie die Rede ist, ist eben nicht streng definiert, allenfalls ME/CFS (durch das Kanadische Konsensdokument oder die Internationalen Konsenskriterien).

    Es ist schön, dass die Leitlinienautoren wenigstens die zwei großen maßgeblichen epidemiologischen Studien in USA und Großbritannien erwähnen, die sich an den Fukuda-Kriterien orientiert haben. Sie ergaben eine Prävalenz von 0,24% bis 0,42% der US- bzw. der britischen Bevölkerung.

    Was bedeutet das hochgerechnet für Deutschland? Wenn ein niedergelassener Arzt 2000 Patienten betreut, dann hat der demnach zwischen vier und acht Patienten mit Fukuda-CFS in seiner Praxis. In Deutschland muss man nach diesen Zahlen mit etwa 300.000 Betroffenen rechnen. An Multipler Sklerose sind in Deutschland etwa 120.000 Menschen erkrankt. Wird man MS deshalb als „seltenes Beratungsergebnis“ bezeichnen? Oder will man damit gleich im ersten Satz des Abschnittes über „CFS“ suggerieren, dass „CFS“ eigentlich etwas ganz Unwichtiges ist? Auf S. 37 des Dokuments steht dann folgerichtig auch die Behauptung „dass die Erkrankung in Deutschland kaum eine Rolle spielt“. Wunschvorstellung oder Realität? Angesichts der weiteren Ausführungen in der Leitlinie kann man annehmen, dass dies die Autoren gerne hätten.

    Abschnitt „Definition und Diagnose“

    Auch dieser Abschnitt wird von einem Satz eingeleitet, der in vielfacher Weise unrichtig ist:

    „Das CFS ist nicht durch einen definierten pathologischen Prozess von anderen Erkrankungen bzw. von einem gesunden 'Normalzustand' abzugrenzen;“ (S. 32, a.a.O.)

    Statt auf den Skandal hinzuweisen, dass Ärzte in Deutschland noch immer nicht zwischen einem "gesunden Normalzustand" und ME/CFS unterscheiden können, weil sie die vorhandenen Testmöglichkeiten einfach nicht wahrnehmen, nicht kennen und natürlich von Stellen, die für ihre Weiterbildung und Information zuständig sind, auch nicht darüber informiert werden, wird hier ein Imperativ gesetzt: "CFS ist nicht... von einem gesunden 'Normalzustand' abzugrenzen", so als ob das eine unumstößliche Wahrheit wäre, die bitteschön jeder als solche zu akzeptieren und nicht zu hinterfragen hat.

    Abgesehen von der im o.g. Absatz geschilderten Problematik, dass man gar nicht weiß, von welchem „CFS“ in dieser Leitlinie überhaupt die Rede ist, wäre dieser Satz nur dann richtig, wenn die Betonung auf „einem pathologischen Prozess läge. Es sind nämlich in der Tat viele pathologische Prozesse, durch die ME/CFS „von einem gesunden 'Normalzustand' abzugrenzen“ ist. Und zwar relativ einfach, wenn man die entsprechenden Untersuchungen macht, die vielfach in der biomedizinischen Literatur zu ME/CFS beschrieben sind. Diese pathologischen Prozesse sind für das Krankheitsbild charakteristisch und weisen es als eigenständige Krankheitsentität aus, so wie sie von der WHO in den ICD-10 auch als G 93.3 klassifiziert ist.

    Es gibt, um hier nur einige zu nennen, bestimmte pathologische Prozesse im Immunsystem, im zentralen Nervensystem, im endokrinen System, im Herz-Kreislauf-System, es gibt muskuläre Störungen, gastrointestinale Störungen, eine Dysfunktion der Mitochondrien, Anomalien der Genexpression u.v.a.m. (siehe z.B. Kurzbeschreibung von Hooper und Kanadische Konsenskriterien oder die Komaroff-Broschüre und viele andere Forschungsergebnisse, die allein schon auf dieser Website zu finden sind). Es gibt also jede Menge pathologischer Prozesse, die ME/CFS von anderen Erkrankungen unterscheiden. Was aber durch diese Aussage gleich von Anfang an suggeriert werden soll ist: „CFS“ ist „nicht... von einem gesunden 'Normalzustand' abzugrenzen“, sprich, den Patienten fehlt überhaupt nichts.

    Diese implizite Aussage – den Patienten fehle überhaupt nichts, sie seien in einem gesunden Normalzustand – soll offenbar die weiteren Anweisungen zur Untersuchung und zur Therapie von vorneherein rechtfertigen. Man setzt nicht nur an dieser Textstelle alles daran, ME/CFS bzw. „CFS“ als Nicht-Krankheit zu definieren, statt sich mit dem Nachweis der für das Krankheitsbild typischen pathologischen Prozesse zu beschäftigen. Schlussfolgerung der Leitlinienautoren: Man braucht bis auf eine ausschließende Diagnose anderer Erkrankungen nichts zu untersuchen, zumal, wie sie ausnahmsweise einmal richtig sagen, ein „definitiver diagnostischer Test nicht existiert“.

    In der Tat gibt es nicht einen Test für alle „CFS“-Patienten, was bei einem so komplexen Krankheitsbild, dessen Ursachen noch nicht geklärt sind, wenig verwunderlich ist. Aber es gibt eine Reihe von Tests, mit denen sich die oben erwähnten Anomalien objektiv feststellen lassen. Diese ergeben sich z.B. auch aus den Kanadischen Kriterien, die in den Leitlinien zwar in gekürzter Fassung aufgenommen wurden, die aber entweder nicht verstanden oder deren diagnostische und therapeutische Konsequenzen gezielt ausgeblendet wurden. So finden wir folgerichtig auch diesen Satz, der aufgrund des Vorschlags eines Nicht-Mediziners, nämlich des Soziologen Martin Beyer, in die Leitlinien eingefügt wurde:

    „Die insbesondere nach dem kanadischen Dokument – ohne sinnvolle Konsequenz – vorgeschlagenen Zusatzuntersuchungen haben zusammengenommen ein an Körperverletzung grenzendes iatrogenes Pathogenisierungspotential.“ (S. 32 f, a.a.O..)

    Demnach ist es Unsinn, krankheits- und symptomspezifische Untersuchungen durchzuführen, ja, dies würde sogar an Körperverletzung durch den Arzt grenzen. Aus den weiteren Ausführungen der Leitlinie ergibt sich, dass die Leitlinienautoren ganz im Sinne des „biopsychosozialen Modells“ des Herrn Simon Wessely und anderer Psychiater der Meinung sind, dass jede körperliche Untersuchung den Patienten nur in seinen „falschen Krankheitsüberzeugungen“ (an einer körperlichen Erkrankung zu leiden) bestärken und ihn von der „richtigen“ Therapie (kognitiver Verhaltenstherapie und ansteigendem körperlichen Training) abbringen würde. Folgerichtig lesen wir dann auch:

    „Insgesamt tragen Laboruntersuchungen nur wenig zur Diagnosefindung bei Müdigkeit bei (214).“ (S. 23 a.a.O.)

    Ganz im Gegenteil, sie können zu einer „somatischen Fixierung“ führen:

    „Bei übertriebener somatischer Diagnostik besteht immer die Gefahr gemeinsamer Somatisierung von Arzt und Patient.“ (S. 27 a.a.O.)

    Der obige Satz des Soziologen Martin Beyer ist eine unfassbare Verdrehung der Realität und gleichzeitig eine nahezu geniale Verschleierung dieser Verdrehung. Ist es nicht vielmehr eine Körperverletzung durch unterlassene Hilfeleistung, wenn ein Arzt diagnostische Maßnahmen verweigert, die sich sinnvoll aus der Symptomatik ergeben und diese abklären könnten?

    Wäre es nicht auch Aufgabe solcher Leitlinien, zumindest auf den Skandal hinzuweisen, dass alle die o.g. feststellbaren Anomalien meist noch „ohne sinnvolle Konsequenz“ bleiben, weil z.B. in Deutschland kein Cent in die biomedizinische Erforschung des ME/CFS gesteckt wird? Weil die Krankenkassen die notwendigen Untersuchungen nicht bezahlen und ein Arzt Regressforderungen riskiert, wenn er sie trotzdem durchführen lässt? Und es mangels Forschung und Finanzierung auch keine Behandlungsstudien gibt und keine Behandlungsansätze, die von den Krankenkassen generell übernommen werden? Dass bereits vorhandene Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten, die sich auf die Symptome ausrichten, von den meisten Krankenkassen nicht bezahlt werden?

    Eben weil durch den massiven Einfluss der Wessely-School und ihrer deutschen Vertreter wie Peter Henningsen, Winfried Rief, Martin Sack, Wolfgang Hausotter und viele andere mehr eine schwere organische Erkrankung wie ME/CFS noch immer als harmlose Befindlichkeitsstörung, als Verhaltensstörung, als "Neurasthenie", als somatoforme (also nur so aussehend, als ob sie somatisch sei) Störung wahrgenommen wird? Und dass ME/CFS-Patienten gerade aufgrund dieser falschen Zuordnung ihrer Krankheit zum psychiatrisch-psychogenen Bereich oft die sozialen und medizinischen Leistungen verweigert werden, dass sie für voll arbeitsfähig erklärt werden, selbst wenn sie extreme gesundheitliche Einschränkungen und massive Symptome haben?

    Nein, die Leitlinien sind weit davon entfernt, diesen Skandal zu problematisieren. Vielmehr tragen sie durch solche Aussagen dazu bei, dass er sich fortsetzt und verhärtet. Ein Problematisieren dieses Skandals würde die Leitlinienautoren ja in Widerspruch zum medizinischen Mainstream und zu privaten wie staatlichen Kostenträgern bringen. Da ist es doch viel einfacher und konfliktloser zu behaupten, „CFS“ sei gar keine Krankheit und jegliche Diagnose sei überflüssig, weil man eine Nicht-Krankheit natürlich auch nicht behandeln kann. Das ergibt sich auch aus einer Aussage auf S. 37 der Leitlinien: „dass die kaum belegten ätiopathologischen Hypothesen vor dem Hintergrund des in dieser Leitlinie beschriebenen diagnostischen Vorgehens keine therapeutischen Konsequenzen haben.“

    Schon im nächsten Satz offenbart die Leitlinie, für was sie „CFS“ hält: für nichts weiter als ein „Konzept“, eine „Vereinbarung“, aber nicht für eine Krankheit:

    „Vielmehr handelt es sich beim CFS um ein Konzept bzw. eine Vereinbarung, um die Kommunikation mit dem Patienten, prognostische Einschätzung und Behandlung zu strukturieren.“ (S. 33 a.a.O.)

    Ein „Konzept“ ist per se nicht die Realität, sondern nur eine Idee, ein Vorhaben, ein Plan oder „eine Vereinbarung“ nach dem Motto: „Was Sie da haben bzw. nicht haben, nennen wir jetzt mal „CFS“, damit wir dem Kind einen Namen gegeben haben und ich Sie den richtigen therapeutischen Verfahren - sprich: Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training - zuführen kann.“

    Ausgehend vom Grundverständnis des „CFS“ im Rahmen des „biopsychosozialen Modells“ der Wessely-School bedeutet dieser Satz also im Klartext: der Arzt in der Praxis soll auf die „falschen Krankheitsüberzeugungen“ des Patienten (zum Schein) eingehen, damit er nicht gleich merkt, dass man ihm nicht glaubt und dass man ein ganz anderes „Konzept“ von seiner Erkrankung hat und dass man auch nicht bereit ist, ihn weiter zu untersuchen. Die „Kommunikation“ soll ja nicht gleich am Anfang abbrechen, nur weil der Patient merkt, dass man ihn nicht ernst nimmt und dass man eigentlich gar nicht mit ihm kommuniziert, sondern ihm etwas aufstülpt, was der Realität seiner Krankheit gar nicht entspricht. Wenn dann auf diese Weise die „Kommunikation“ mit dem Patienten gestaltet ist, kann man ihm auch vermitteln, dass seine Prognose nur dann schlecht ist, wenn er weiterhin an seinen falschen Krankheitsüberzeugungen festhält. Und dann „strukturieren“ wir die „Behandlung“, sprich, verordnen ihm ganz im Sinne des „biopsychosozialen Modells“ Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training.

    Man fragt sich, wieso bei einer Einschätzung, wie sie im oben zitierten Satz zum Ausdruck kommt („CFS“ ist ein „Konzept“, eine „Vereinbarung“) überhaupt noch eine Krankheitsdefinition nötig ist. Aber die Leitlinienautoren gehen dennoch auf die Frage der Krankheitsdefinition ein – wenn auch auf methodisch fragwürdige Weise:

    Der Vergleich NICE Guideline und Kanadische Definition

    Neben dem Bezug auf das „biopsychosoziale Modell“ der Wessely-School ist ein weiteres zentrales Element der Leitlinien der unauflösbare Widerspruch zwischen den NICE-Guidelines einerseits und den Kanadischen Kriterien andererseits, die aufgrund der jeweils zugrundeliegenden Krankheitsdefinition einfach nicht miteinander vereinbar sind.

    Die NICE-Guidelines haben die sogenannten Oxford-Kriterien zur Grundlage, die 1991 von britischen Psychiatern (Peter White et al.) erfunden wurden und außer in Studien der Anhänger dieser Psychiaterschule aufgrund ihrer Inkonsistenz in keiner anderen Forschung über ME/CFS Anwendung fanden. In diesen Oxford-Kriterien ist das zentrale Merkmal des ME/CFS, nämlich die Zustandsverschlechterung nach Belastung, nicht zwingend, und die Definition ist absichtlich so weit gefasst sind, dass sie Erschöpfungszustände aller Art und damit auch eine Menge psychiatrischer Krankheitsbilder und unspezifisch „Müde“ umfasst. Die Oxford-Kriterien schließen Menschen mit psychiatrischen Störungen ausdrücklich ein und Menschen mit neurologischen Störungen ausdrücklich aus – neurologische Störungen sind aber ein zentrales Element der Kanadischen Kriterien. So liest man in den Oxford-Kriterien z.B. folgendes:

    „Man einigte sich auf die folgenden Richtlinien. Es gibt keine klinischen Zeichen, die für die Erkrankung charakteristisch sind. Psychiatrische Erkrankungen (einschließlich depressiver Erkrankungen, Angsterkrankungen und Hyperventilationssyndrom) sind nicht notwendigerweise Grund für einen Ausschluss.”

    („The following guidelines were agreed.  There are no clinical signs characteristic of the condition.  Psychiatric disorders (including depressive illness, anxiety disorders and hyperventilation syndrome) are not necessarily reasons for exclusion“.)

    Von daher müssten die Leitlinien diese Widersprüche und Unvereinbarkeiten der beiden Definitionen thematisieren. Was aber nicht geschieht.

    Methodisch ist der Vergleich einer Richtlinie (NICE) mit einer Krankheitsdefinition (Kanadische) an sich schon extrem unsauber, erst recht, wenn hinzukommt, dass eben nicht herausgearbeitet wird, dass es sich um ganz unterschiedliche Patientenkollektive handelt, die logischerweise anderen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zugeführt werden müssen. Wenn man das nicht tut und dann die „therapeutischen“ Maßnahmen der biopsychosozialen (Oxford-) Schule dem Patientenkollektiv der Kanadischen Konsenskriterien überstülpt – so wie es die deutschen Leitlinien tun –, dann entspricht das genau jener „iatrogenen Pathogenisierung“ der Patienten, die der Soziologe Martin Beyer in seinem oben zitierten Satz dem Kanadischen Konsensdokument unterstellt. Eine weitere geniale Verdrehung der Realität.

    Auch wenn, was der Fatigatio laut seiner Stellungnahme für einen Fortschritt hält, in den Leitlinien die Kriterien der Kanadischen Konsensdefinition aufgenommen wurden, bleibt dies vollkommen ohne diagnostische oder therapeutische Konsequenzen. Dass dies auch niemals die Absicht der Leitlinienautoren war, ergibt sich schon daraus, dass sie den Begriff „fatigue“ mit „Müdigkeit“ übersetzen (S.33 a.a.O.“Ein Patient mit ME/CFS erfüllt die Kriterien für Müdigkeit“). Das gesamte Kanadische Konsensdokument spricht niemals von „Müdigkeit“, einem verharmlosenden Begriff angesichts der Schwere der Erkrankung, der zudem suggeriert, das Symptom der schweren Erschöpfung, des schweren Krankheitsgefühls, das für diese Krankheit so charakteristisch ist, hätte irgendetwas mit der Alltagserfahrung von „Müdigkeit“ zu tun.

    Wie fragwürdig die NICE Guideline ist, analysiert z.B. Margaret Williams in ihren Comment on the NICE Guideline, die sie hier auf Deutsch finden. Malcom Hooper hat eine 442 Seiten lange Kritik an den PACE Trials geschrieben, die in gewisser Weise die Fortsetzung der NICE Guideline sind, da sie auf ihr beruhen. “Zaubermedizin – wie man eine Krankheit zum Verschwinden bringt“, so der Titel dieser großartigen Analyse, die Sie hier finden: http://www.meactionuk.org.uk/magical-medicine.htm 

    Übrigens, ein Vergleich der NICE Guideline mit dieser deutschen Leitlinie Müdigkeit lässt die viel kritisierte NICE Guideline geradezu fortschrittlich erscheinen.

    Ideologie statt Krankheitstheorie

    Statt herauszuarbeiten, welche Implikationen solch unterschiedliche Krankheitsdefinitionen haben und auf welche sich denn die deutschen Leitlinien beziehen, wird vernebelt, dass man durchgängig dem biospychosozialen Modell eben jener Psychiater folgt, die diese Oxford-Kriterien erstellt haben. Das ergibt sich auch aus dem denkwürdigen Satz, den man gleich unter der „Synopse“ von NICE und Kanadischen Kriterien findet:

     „Die internationale Diskrepanz der diagnostischen Gewohnheiten stützt auch die Annahme eines komplexen Ineinanderwirkens somatischer und psychosozialer Faktoren in der Entstehung des CFS.“ (S. 37, a.a.O.)

    Soll die immanente „Logik“ dieses Satzes etwa ein Beispiel für das Verständnis von evidenzbasierter Medizin sein? Der evidenzbasierten Medizin, die ansonsten von den Leitlinienautoren so hochgehalten wird, dass sie alle von uns vorgelegten Artikel und Studien als „nicht evidenzbasiert“ vom Tisch gewischt haben?

    Also, aus dieser „Diskrepanz der diagnostischen Gewohnheiten“ leiten die Autoren offenbar ab, dass bei der „Entstehung des CFS“ ein „komplexes Ineinanderwirken somatischer und psychosozialer Faktoren“ am Werk gewesen sein muss. Seit wann aber stützen „Gewohnheiten“ die Annahmen über die Entstehung von Krankheiten? Sie meinen doch nicht etwa die „Gewohnheiten“ der Vorurteile gegenüber dieser Krankheit und die Ignoranz gegenüber allen wissenschaftlichen Belegen und vor allem dem unsäglichen Leid der Betroffenen? Eine solche Ehrlichkeit könnte allenfalls eine Freud’sche Fehlleistung sein.

    War es bislang in der Medizin, deren „Wissenschaftlichkeit“ die Autoren als Anhänger der „evidenzbasierten Medizin“ ansonsten so zu fördern versuchen, nicht üblich, dass randomisierte Doppelblindstudien und solide wissenschaftliche Forschung im Labor die Grundlage für Annahmen über die Entstehung einer Krankheit bilden? Nun sollen es also plötzlich nur „diagnostische Gewohnheiten“ der Ärzte in der Praxis sein? Dieser eklatante logische Bruch – man könnte es auch Unsinn nennen – scheint den Autoren nicht aufzufallen, dient er doch bequem zur Einleitung und scheinbaren Untermauerung der dann folgenden „Krankheitstheorie“ der biopsychosozialen Schule, sprich der Wessely-School zum „CFS“, die nicht minder primitiv und absurd ist:

    „So ist postuliert worden (240-241), dass bei manchen Menschen z.B. eine virale Infektion und die damit verbundenen Symptome (mangelnde Leistungsfähigkeit, Muskelschmerzen usw.) bestimmte kognitive und Verhaltensänderungen aktivieren. So führt die Auffassung, eine körperliche Erkrankung zu haben, die sich durch Bewegung und Belastung nur verschlimmere, zu verlängerter Bettruhe und Aktivitätsvermeidung. Die sich bald einstellenden physiologischen Sekundärveränderungen durch fehlende Aktivität (Dekonditionierung) bestätigen diese eigentlich ja nicht begründeten Auffassungen: Bewegung führt jetzt definitiv zu Beschwerden, die sich durch Ruhe kurzfristig bessern! Damit ist ein Teufelskreis in Gang gekommen, der wiederum zu Ausweichen, Vermeidung, Hilflosigkeit und depressiver Stimmung führt.“ (S. 37 f a.a.O.)

    Vereinfacht ausgedrückt: Manche Leute interpretieren die Symptome z.B. einer harmlosen Virusinfektion wie einer Grippe falsch, sprich, sie glauben, „eine körperliche Erkrankung zu haben, die sich durch Bewegung und Belastung nur verschlimmere“

    Übrigens – ist es nicht mehr allgemein übliche ärztliche Praxis, dass man Menschen mit einer Virusgrippe für eine Weile Bettruhe verordnet und sie krank schreibt, damit sie Ruhe haben und ihr Körper sich auf die Bekämpfung der Viren und Bakterien konzentrieren kann? Ist es nicht mehr allgemeiner Konsens unter Ärzten, dass das sogenannte „Sickness Behaviour“, das man bei kranken Menschen und Tieren gleichermaßen findet, eine Schutzreaktion des Körpers ist, um dem erkrankten Menschen oder Tier eine Erholung zu ermöglichen?

    Nein, das scheint bei den Autoren der Leitlinien bzw. der biopsychosozialen Schule nicht mehr allgemeiner Konsens zu sein. Wenn bei ihnen Menschen dieser über Jahrmillionen entwickelten Überlebensstrategie folgen, dann kann das nur eine „falsche Krankheitsüberzeugungen“ mit daraus folgendem „dysfunktionalen Krankheitsverhalten“ sein. Sprich: Statt ihren Hintern hochzukriegen, schonen sie sich viel zu viel, und davon werden sie dann schlapp und „dekonditioniert“. Nein, nicht die Krankheit („CFS“) führt zu Beschwerden, sondern das falsche Verhalten des Kranken! Er ist selbst dran schuld! Und noch viel schuldiger sind Forscher, Patientenorganisationen und Medien, die sich auf die ursprüngliche Krankheitsbezeichnung durch Melvin Ramsay beziehen, nämlich Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder auch verächtliche Begriffe wie Yuppie-Grippe in die Diskussion bringen.

    „Es kann vermutet werden, dass die Entwicklung dieser Abläufe durch die öffentliche Präsenz von Krankheitsbegriffen wie der myalgischen Enzephalomyelitis, der Yuppie Flu, Postviral Fatigue usw. gefördert wird (242-243).“ (S. 38 a.a.O.)

    Diese „Krankheitstheorie“ ist eine gigantische Verdrehung von Ursache und Wirkung, sie ist schlicht eine primitive Schuldzuschreibung an den Patienten. Es ist keine Krankheitstheorie, sondern eine Ideologie von der Krankheit, die da lautet: Der Patient führt den Teufelskreis aus natürlich vollkommen unangebrachter Aktivitätsvermeidung und Dekonditionierung selbst herbei. Sprich: „CFS“ ist eine Verhaltensstörung oder, wie Gill Thorburn es treffender analysiert hat: Krankheit wird hier zu abweichendem Verhalten.

    Dass es umgekehrt sein könnte, nämlich, dass der Patient z.B. eine chronische Virusinfektion hat oder unter anderen organischen Störungen leidet, die zu physiologischen Veränderungen und der entsprechenden Symptomatik führt, wurde ja bereits zuvor negiert - es ist eine Nicht-Krankheit, bei der man ja nichts findet und besser erst gar nicht groß herumdiagnostiziert.

    Dass es in der Tat zu einem Teufelskreis aus fehlender Diagnose, fehlender Behandlung(smöglichkeit) und sich im Laufe der Jahre verschlimmernden Krankheitsprozessen kommt, können weltweit Tausende, Hunderttausende leidgeprüfter Patienten belegen. Aber von diesem Teufelskreis reden sie nicht, denn der würde die Verantwortung der Ärzteschaft und des Gesundheitswesens und deren eklatante Versäumnisse deutlich machen. Aber das Wort der Patienten, die diese Misere immer wieder deutlich machen und öffentlich beklagen, gilt nichts, denn es sind ja aus Sicht der Krankheitsideologen sowieso alles nur dysfunktionale Krankheitsüberzeugungen. Und dann gibt es da diese widerspenstigen, uneinsichtigen Patienten und ihre Vertreter, die ohne jeden wissenschaftliche Begründung eine "biologische Definition der Erkrankung auf politischem Wege durchsetzen wollen":

    „Die ME-Initiativen in verschiedenen Ländern haben miteinander gemeinsam, dass sie eine biologische Definition der Erkrankung auf politischem Wege durchsetzen wollen. Trotz jahrzehntelanger Suche hat jedoch keine biologische Hypothese zur Ursache des Müdigkeitssydndroms einer wissenschaftlichen Überprüfung standgehalten.“ (Frau Baum in einem Schreiben vom 11. August 2011 an die Patienteninitiativen)

    Hat sich eigentlich schon einmal jemand gefragt, warum die Patienten einen solchen Widerstand gegen die Wessely-School und ihr "biopsychosoziales Modell" leisten? Warum um alles in der Welt sollten Patienten denn Widerstand gegen eine Behandlungsform leisten, wenn sie sie von ihrem entsetzlichen Leiden erlösen würde? Die Wahrheit ist, die wunderbaren "therapeutischen" Empfehlungen des "biopsychosozialen Modells" erlösen uns nicht von unserem Leiden, sondern sie treiben uns noch weiter hinein, sie machen uns kränker, sie sind ignorant gegenüber dem Stand der Wissenschaft und respektlos gegenüber schwer kranken Menschen, deren Krankheit ignoriert und deren Leiden nur als die Folge von abweichendem Verhalten erklärt wird. Aber statt ihre eigene vorurteilsbeladene Ideologogie infrage zu stellen, bekamen wir in o.g. Schreiben klar gesagt, dass wir es sind, die nicht wissenschaftlich diskutieren können. Es sind natürlich sie, die definieren, was Wissenschaft ist:

    „Wir würden uns freuen, wenn Sie zu einer offenen wissenschaftlichen Diskussion zurückfinden würden.“

    Schauen wir uns an, was die Leitlinienautoren für das Ergebnis einer "wissenschaftlichen Diskussion" halten:

    Entsprechend dieser Krankheitsideologie werden dann auch „therapeutische“ Empfehlungen gegeben, die die „falschen Krankheitsüberzeugungen“ mit Hilfe von kognitiver Verhaltenstherapie und die „Dekonditionierung“ mit ansteigendem körperlichen Training angehen sollen. Dies ergibt sich ganz klar aus dem oben bereits erwähnten Patientenbrief und in den Informationen zur Patientenberatung.

    Nein, das hat kein iatrogenes Pathogenisierungspotential, den Leuten qua „Verhaltenstherapie“ auszureden zu versuchen, dass sie eine tatsächliche, reale, organische Erkrankung haben, auch wenn sie schon seit Jahren bettlägerig sind und oft zu schwach zum Essen und zum Trinken und zu persönlicher Hygiene sind, nein, das hat kein iatrogenes Pathogenisierungspotential, wenn man die vielfach belegten Krankheitsmechanismen durch Bewegungstraining so anheizt, dass die Menschen über Wochen, Monate, manchmal Jahre noch viel kränker werden, als sie es vor dieser „Behandlung“ durch Graded Exercise schon waren. Nein, das ist keine Schädigung durch ärztliche Maßnahmen, das ist keine iatrogene Pathogenisierung!

    „Bei Patienten mit Oxford (NICE)-Kriterien des CFS ergaben sowohl kognitive Verhaltenstherapie als auch schrittweise körperliche Aktivierung zusätzlich zur spezialistischen Betreuung moderate Verbesserungen, nicht hingegen die von Selbsthilfegruppen favorisierte adaptive Anpassungstherapie. Letztere wurde subjektiv von den Studienteilnehmern/innen gleich gut wie die beiden anderen und objektiv wirksamen Therapieformen eingeschätzt (Pacing (250)).“ (S. 38 a.a.O.)

     

    Das wahre Gesicht eines Paten – auch das wahre Gesicht der anderen Leitlinienautoren?

    Beyer schreibt auf den Satz im Leitlinienentwurf „Mehrere Studien ergaben bei Patienten mit Fukuda-Kriterien Verbesserungen unter aerobem Training. Dabei ist eine Überlastung der Patienten zu vermeiden.“ die folgende Bemerkung über die Twisk-Studie, in der ganz klar die weitgehende Wirkungslosigkeit von kognitiver Verhaltenstherapie und die weitgehende Schädlichkeit von ansteigendem körperlichen Training in einem Literaturüberblick dargestellt wird. (Twisk FNM, Maes M: A review on CBT and GET in ME. Neuroendocrinol Lett 2009: 30: 284-299)

    „Twisk et al. ist ja offenbar die Kernmunition unserer Freunde – hier muß noch etwas sauberer argumentiert werden. Ich kenne die Arbeit nicht, aber angeblich wird im Kern ja nur gemault, daß irgendwelche belgischen Müden, die auf Gutschein zur Exercise geschickt worden waren, das gar nicht lustig fanden. Gibt es tatsächlich Belege dafür, daß eine Überlastung schon einmal jemandem ernsthaft geschadet hat, ihn in den Rollstuhl und sogar ins Grab gebracht hat?”

    Frau Baum antwortet Beyer wie folgt:

    „Haben wir nicht gefunden. Es ist aber gute ärztliche Praxis, dass man ein Konzept nicht mit Brachialgewalt durchdrückt sondern auf individuelle Gegebenheiten und negative Rückmeldungen von Patienten eingeht.“

    Eine solche Verachtung gegenüber soliden Wissenschaftlern und Praktikern (Maes/Twisk) und den Patienten wie sie Herr Beyer in diesem Satz zum Ausdruck bringt, spottet eigentlich jeder Beschreibung. Ein Skandal, dass Menschen mit einer so menschenverachtenden, ignoranten Haltung an Leitlinien für schwerkranke Menschen mitarbeiten dürfen. Aber wahrscheinlich fand er seine Anmerkung „lustig“.

    Unbeirrt von Tausenden Berichten von Patienten, die durch aufgezwungenes körperliches Training noch viel kränker wurden, als sie es ohnehin schon waren, unbeirrt von dem Bericht über das britische Parlamentsmitglied, das dem Ratschlag seiner Ärzte folgte, sein ME/CFS wegzutrainieren und tot umfiel, als er aus dem verordneten Sportstudio kam, unbeirrt von den zahlreichen Fachartikeln, die wir vorgelegt hatten und die auf der Ebene biochemischer Prozesse nachweisen, dass ME/CFS-Patienten signifikant anders auf körperliche Belastung reagieren und sich Tage und Wochen nicht davon erholen, sind die einzigen Empfehlungen zur Behandlung, die die Leitlinien für ME/CFS geben, Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training.

    "Behandlung" nach dem biopsychosozialen Modell

    "Neben der Behandlung definierter Ursachen bzw. Grunderkrankungen stehen folgende Betreuungsziele im Vordergrund:

    • Stärkung einer bio-psycho-sozial orientierten Arzt-Patient-Beziehung“ (S. 23 a.a.O.)

    Das ist eindeutig die Empfehlung, außer einer minimalen Ausschlussdiagnose keine weiteren diagnostischen Untersuchungen durchzuführen. Wenn keine Diagnostik gemacht wird außer einem „Basislabor“, dann ist doch ganz klar, dass man „nichts findet“.

    „Diagnosen wie CFS, Multiple Sensitivity-Syndrom, Amalgam-Belastung, Elektromagnetische Überempfindlichkeit usw. werden oft von Patienten selbst als Erklärung für ihre Beschwerden vorgebracht. Ärzte und Patienten müssen sich gemeinsam um Erklärungen für diesen schwierigen Bereich bemühen, gegensätzliche Auffassungen respektieren und eine biopsychosoziale Sicht erarbeiten (187). Von allgemeinärztlicher Seite muss ein Gegensteuern versucht werden, wenn bestimmte Auffassungen von Patienten zu schädlichen Verhaltensweisen führen (Inaktivität, soziale Isolation, Doctor-Shopping usw.).“ (S. 24 a.a.O.)

    „Aktivierende Maßnahmen haben vor allem das Ziel, einen Teufelskreis von Müdigkeit, Inaktivität, deren körperlichen Folgen (Dekonditionierung) und wiederum Müdigkeit zu verhindern und sind sowohl bei körperlichen wie auch psychischen Ursachen von Müdigkeit oft hilfreich (81, 153, 219- 220). In Zusammenarbeit mit dem Patienten sollten im Sinne verhaltenstherapeutischer Überlegungen realistische Aktivitäts-Ziele gesetzt und die Lebensweise entsprechend darauf eingerichtet werden (level of evidence T Ia für kognitiv-behaviorale Verfahren bei CFS (221-222), level of evidence T Ib für Bewegungstherapie bei CFS (223-224)). Indiziert sind individuell angepasste aktivierende Maßnahmen bei Vermeidung einer Überforderung des Patienten, die in einer Verschlechterung des Befindens und Enttäuschung resultieren könnte. Gleichzeitig müssen die Patienten über den Hintergrund ihrer Müdigkeit aufgeklärt werden; Vorstellungen, die einer Aktivierung entgegenstehen, sind zu bearbeiten; verstärkende Faktoren aus dem Umfeld des Patienten sind zu nutzen. Eine in diesem Sinne konzipierte Selbsthilfe-Broschüre wirkte sich bei Patienten (18-45 Jahre) mit chronischer Müdigkeit (> 6 Monate) positiv auf das Symptom und das seelische Befinden aus. (225) Verhaltenstherapie und körperliche Aktivierung verbesserten gleichermaßen die Beschwerden von hausärztlichen Patienten mit unerklärter Müdigkeit. Die Ansprechrate war allerdings bei CFS-Patienten mit 25% wesentlich schlechter als bei den übrigen Patienten, wo sie 60% erreichte (226).“ (S. 25 a.a.O. Hervorhebungen von mir)

    Hier wird also ohne Zögern Wesselys eigene Aussage zitiert, dass nur 25% der "CFS"-Patienten auf Verhaltenstherapie und körperliche Aktivierung ansprechen, und das auch noch bei Wesselys üblicher Patientenauswahl nach den Oxford-Kriterien, die vermuten lässt, dass nur wenige Menschen mit ME/CFS an dieser Studie teilnahmen. Das hindert die Leitlinienautoren jedoch nicht daran, kognitive Verhaltenstherapie und ansteigendes körperliches Training als einzige Behandlungsmaßnahme für "CFS" zu empfehlen. Ist das etwa evidenzbasiertes Vorgehen?

    Und gleichzeitig wurde außer der Maes/Twisk-Studie (s.o.) keine einzige der von uns vorgelegten Studien in die Leitlinienliteratur mit aufgenommen, und zwar mit der Begründung, sie sei nicht evidenzbasiert.

    „Die umfangreiche zur Verfügung gestellte Literatur von lost voices enthielt leider keine verwertbaren kontrollierten randomisierten Studien zu CFS/ME, so dass wir in Bezug auf Therapie nichts davon in der Leitlinie einbauen konnten.“ (Frau Baum in einem Schreiben vom 11. August 2011 an die Patienteninitiativen)

    Und noch eine interessante Aussage findet sich in diesem Schreiben:

    In unserer Leitlinie wird CFS/ME niemals als psychiatrische Erkrankung definiert oder charakterisiert sondern im Gegenteil gesagt: "Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Patienten, die die Kriterien des CFS erfüllen, in Bezug auf Ätiologie, Pathogenese und Prognose eine heterogene Gruppe darstellen.. Unabhängig von der Diskussion um Ätiologie und Nosologie ist bei diesem seltenen und umstrittenen Syndrom beim einzelnen Patienten mit schwerwiegender Müdigkeitssymptomatik ein positives Akzeptieren der Person und Verständnis für die Beeinträchtigung durch das Symptom von großer Bedeutung.. . Dabei ist eine Überlastung der Patienten zu vermeiden ". Im Übrigen haben wir dem Syndrom ja ausdrücklich ein eigenes Kapitel gewidmet und eben nicht mit klar abgrenzbaren Ätiologien vermengt.“ (Hervorhebung von mir, R.C.)

    Gleichzeitig schreibt Frau Baum in einer Email vom 24.8.11: Wir gehen immer vom bio-psycho-sozialen Modell aus.“  Wie aus den Texten von Margaret Williams und den zahlreichen Zitaten von Simon Wessely und Michael Sharpe aber klar hervorgeht, betrachtet die biopsychosoziale Schule des Herrn Wessely, auf denen die gesamte Leitlinie beruht, ME/CFS als psychiatrische/psychogene Erkrankung. Ob das den Leitlinienautoren entgangen ist? Einem der Paten, dem Soziologen Martin Beyer, ist es jedenfalls nicht entgangen. Er schreibt ganz deutlich, dass „..Simon Wessely … bezüglich des CFS genau unsere Argumentation unterstützt“. Und Frau Baum schreibt im gleichen Brief wie oben: „Die Paten unterstützen voll die Aussagen der Leitlinie…“, so dass allein schon von diesen Aussagen her davon ausgegangen werden kann, dass sie sehr wohl ME/CFS als psychiatrische Erkrankung definieren oder charakterisieren.

    Und, wie oben bereits dargestellt, entspricht ihr Verständnis von "CFS" eindeutig dem ICD-10-Code F 48.0 "Neurasthenie/Ermüdungssyndrom" im Abschnitt "Andere neurotische Störungen" des Kapitels V "Psychische und Verhaltensstörung" (F00-F99) (siehe hier).

    So ergibt sich aus der gesamten Darstellung des "CFS" in dieser Leitlinie für den Leser folgende Assoziation: CFS = neurotische Störung, psychische Störung, Verhaltensstörung, somatoforme Störung, MUS (medically unexplained syndrome), Somatisierungsstörung, Hypochondrie, Simulation oder, wie die für die Revision der ICD-10 und des DSM IV neu erfundene Kategorie so schön heißt: CSSD - Complex Somatic Syndrome Disorder, die natürlich ganz im Sinne einer psychischen Störung zu behandeln ist.

    Das also haben wir von Frau Baums Versicherung zu halten: „In unserer Leitlinie wird CFS/ME niemals als psychiatrische Erkrankung definiert oder charakterisiert..."

    Fazit:

    Diese Leitlinie wird erheblich dazu beitragen, dass sich das Elend der Menschen mit ME/CFS in Deutschland fortsetzt.

    • Die weitverbreiteten Vorurteile und Falschklassifizierungen in den Köpfen der Mediziner und der Öffentlichkeit werden verstärkt.

    • Der aktuelle Stand der Wissenschaft wird komplett außen vor gelassen, und auch die Aufnahme der Kanadischen Konsensdefinition - zudem mit falschen Übersetzungen - ist nichts weiter als ein Feigenblatt.

    • Nichts wird durch diese Leitlinie geklärt. Im Gegenteil, ein weiteres Mal werden die unterschiedlichsten Krankheitsbilder durcheinander geworfen und in einen undifferenzierten Begriff von "CFS" gepackt, der sich an den Oxford-Kriterien der Psychiater der Wessely-School orientiert.

    • Statt zu differenzieren, wird weiter entdifferenziert - es ist alles eins, Müdigkeit, CFS, Verhaltensstörungen, Hypochondrie....

    • Statt über die dramatischen Folgen dieser schweren Krankheit aufzuklären, wird verharmlost.

    • Statt die an ME/CFS erkrankten Menschen angemessen zu behandeln oder auch nur für eine angemessene Betreuung zu sorgen, wird behauptet, dass jede weitergehende Diagnose sie nur in ihren falschen Krankheitsüberzeugungen bestärken würde und zu unterlassen sei. Ansonsten drohe eine "iatrogene Pathogenisierung".

    • Patienten wird weiterhin eine wirkungslose und in der Mehrzahl der Fälle schädliche Behandlung empfohlen (Verhaltenstherapie + ansteigendes körperliches Training).

    • Sie werden weiterhin als Psychofälle behandelt, zu Psychiatern geschickt, in psychosomatische Kliniken gezwungen, wo sie in der Regel kränker wieder herauskommen, als sie hineingegangen sind.

    • Man wird ihnen weiterhin Rentenzahlungen und sonstige Leistungen verweigern mit der Begründung, sie seien an ihrer Erkrankung selbst schuld bzw. es läge allein in ihrer Macht, wieder gesund zu werden, weil es ja nur eine Verhaltensstörung sei.

    • Die Patienten werden weiterhin keine angemessene Diagnose oder gar eine hilfreiche Behandlung bekommen.

    Und das ist jetzt die Empfehlung an die Hausärzte in Deutschland - bis 2015.

    "Geplante Gültigkeitsdauer: 06/2015 (Verlängerung möglich)."

    Als ich Frau Baum (und anderen Autoren der Leitlinie) auf die Rituximab-Studie hinwies, die ja nun ein eindeutiger (evidenzbasierter) Beleg für immunologische Veränderungen bei ME/CFS ist, schrieb sie, sie hätten ihre Literatursicht schon im Sommer abgeschlossen und vertröstete mich auf dieses Datum. Da gäbe es ja dann wieder eine Revision.

    Sollen wir es wirklich hinnehmen, weiter in dieser Weise misshandelt und missachtet zu werden? Wann wird endlich jemand die Verursacher einer solchen eklatanten medizinischen Falschbehandlung auch juristisch zur Rechenschaft ziehen?